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# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie hat gelernt, Nein zu sagen
> Trude Simonsohn hat den Holocaust überlebt. In Frankfurt am Main ist sie
> stadtbekannt. Erst vor kurzem ist die 96-Jährige ins Altersheim gezogen.
Bild: Trude Simonsohn in ihren Räumlichkeiten im Altenheim
Das Seniorenheim der jüdisch-christlichen Henry und Emma Budge-Stiftung
befindet sich im Frankfurter Stadtteil Seckbach. Massive Basaltpfosten
erinnern vor dem Eingang an Bewohner, die von den Nationalsozialisten
ermordet wurden.
Draußen: Das Gebäude liegt an einem Hang, darunter reihen sich Kleingärten.
Etwas verschlafen ist es hier, aber die Innenstadt nicht weit. Von dort
kommt viel Besuch.
Drinnen: Ein Rollator. Neben dem Bett: ein Spiegel. Von den Wänden ihres
Apartments schauen Trude Simonsohn viele Gesichter an: Fotos von „Bertl“
(ihrem Mann), „Micha“ (ihrem Sohn), den Heydorns und anderen Freunden
hängen dort. Durch das Fenster sieht sie Geranienranken. Auf einem Tisch
liegt buntes Geschenkpapier.
Zu Hause: Die meisten Sachen aus ihrer alten Wohnung habe sie weggegeben,
vieles davon an das Jüdische Museum Frankfurt. Etwas wehmütig spricht sie
von ihrem alten Zuhause am Frankfurter Grüneburgpark. Letztes Jahr ging sie
dort noch eine Stunde am Tag spazieren. „Ich war dort bekannt wie ein
bunter Hund.“ Grund für den Umzug: ein Sturz.
Leben: Inzwischen hat Simonsohn sich erholt. „Es war uns allen wichtig,
dass sie wieder erzählen kann, denn dafür lebt Trude ja“, sagt Elisabeth
Abendroth, die wie so oft bei ihr ist, ihr gegenüber sitzt. Simonsohn
spricht mit wachen Augen und klarer Stimme: „Ich habe immer schon für
Gerechtigkeit gekämpft und für Menschenrechte.“ Seit 1979 ist sie
unermüdlich als Zeitzeugin unterwegs, spricht an Schulen, in Stiftungen, an
Universitäten. „Eigentlich haben wir gesagt: nur noch ein Termin pro Tag“,
sagt Abendroth, Simonsohns Kalender in den Händen haltend, „aber das klappt
nicht.“
Aufklären: Die 96-Jährige hat viel zu tun: „Es gibt immer noch Leute, die
nicht wissen, was passiert ist“, oder es nicht wissen wollen. Dieses
berühmte „Wir haben nichts gewusst“ kann Simonsohn nicht hören. Sie sagt:
„Das Verschweigen ist hier die Sünde.“
Heimat: Geboren ist sie 1921 in der damaligen Tschechoslowakei. „Ich bin ja
keine Deutsche.“ Ihre Stimme wird lauter. „Ich hatte das Glück, 18 Jahre in
einer Demokratie aufzuwachsen.“ Sie tippt mit dem Zeigefinger auf den
Tisch. Demokratisch gewesen sei auch ihr Elternhaus. „Ich durfte absolut
widersprechen.“ Sie hat gelernt, Nein zu sagen.
Die Deutschen: In Olmütz besuchte Simonsohn eine tschechische Grundschule,
dann ein deutsches Gymnasium. „Ich war wirklich gut integriert.“ Mit dem
Einmarsch der Deutschen 1939 sei alles zu Ende gewesen. „Ein Tag später hat
mich kein Deutscher in der Stadt mehr gekannt. Sie haben mir nichts Böses
getan, aber ich war nicht mehr vorhanden.“
Nein sagen: Wenn sie heute gefragt werde, was zu tun ist, damit „so etwas
nicht noch mal passiert“, sagt Simonsohn: „Zu allem Unrecht sofort Nein
sagen. Wenn du denkst: ‚Jetzt hätte ich etwas tun müssen‘, ist schon etwas
gewonnen. Vielleicht klappt es beim zweiten Mal. Die Leute, die Unrecht
tun, wissen, dass sie Unrecht tun.“
Verhaftung: Jeder in der Stadt habe gewusst, dass sie „eine glühende
Zionistin“ war. „Aber der Spitzel, der mich verraten hat, hat aus meiner
zionistischen Arbeit eine kommunistische Arbeit gemacht.“ Im Sommer 1942
wurde sie verhaftet, nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich. Simonsohn hat
damit rechnen müssen, erschossen zu werden. „Das Standrecht war ja
ausgerufen.“ Zuletzt saß sie in Einzelhaft. Dort erhielt sie einen Brief
aus Dachau mit der Nachricht über den Tod ihres Vaters, seinen Ehering –
„als Anlage“.
Deutungen: „Andere Frauen in dem Gefängnis haben ihre Träume gedeutet. Ich
habe an nichts mehr geglaubt.“ Eine Frau, die kurzfristig in ihrer Zelle
untergebracht wurde, hat ihr aus der Hand gelesen. „Sie hat gesagt, ich
würde hier rauskommen und die Liebe meines Lebens kennenlernen.“ So kam es
dann auch. „Ich weiß bis heute nicht, ob sie es mir wirklich aus der Hand
gelesen hat.“
Die Liebe: „Er war ein dunkelhaariger, sehr gut aussehender Mann“, sagt
Simonsohn auf ihre Fotowand blickend: „Sie haben ihn ja gesehen.“ Ihren
Mann, Berthold Simonsohn, lernte sie in Theresienstadt kennen. Der
Polizeipräsident von Olmütz habe sich dafür eingesetzt, dass sie nicht nach
Ravensbrück deportiert wurde, wie die anderen Frauen, die als politische
Gefangene galten. „Das wäre sehr viel schlimmer gewesen.“
Bertl: Neun Jahre älter als sie ist Berthold Simonsohn gewesen, hat vor dem
Krieg noch promoviert, nach dem Krieg die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden
in Deutschland geleitet, eine Professur für Sozialpädagogik und Jugendrecht
in Frankfurt übernommen – 1978 ist er „viel zu früh“ gestorben. „Er w…
Intellektueller“, beschreibt sie ihn – „und er war im Widerstand.“ Vor …
Krieg in der Sozialistischen Arbeiterpartei, später in der
Widerstandsbewegung in Theresienstadt.
Theresienstadt: Auf die Frage, wie man sich in dem Lager verlieben konnte,
sagt Simonsohn: „Es gab dort alles, es gab auch Scheidungen, wie überall.“
Aus Theresienstadt erinnert sie nicht nur den Hunger und „all die schlimmen
Sachen“, sondern auch Menschlichkeit. „Wenn ich an Auschwitz denke und
alles was danach kam, war es mein größtes Glück in Theresienstadt zu leben
und zu arbeiten.“
Ohnmacht: An Auschwitz hat Simonsohn wenig Erinnerung: „Wenn man große
Schmerzen hat, kann ein Körper ohnmächtig werden, und ich glaube, dass auch
eine Seele ohnmächtig werden kann.“ Vor Kriegsende war sie noch in zwei
weiteren Lagern – Außenlagern des KZ Groß-Rosen. Überlebt hat sie als
tschechische Zwangsarbeiterin, für die sie sich ausgegeben hat. Ihre
Mutter, die sie in Theresienstadt wiedergetroffen hatte, wurde in Auschwitz
ermordet.
Glück um Glück: Simonsohn betont, viel Glück gehabt zu haben. „Noch ein
Glück“ heißt auch ihre Biografie, die sie zusammen mit Elisabeth Abendroth
geschrieben hat – angelehnt an eine Geschichte von Friedrich Torberg. „Die
geht so: Da kommt ein Neffe mit gebrochenem Bein nach einem Unfall und
sagt: Gott sei Dank habe ich mir nicht noch den Arm gebrochen, Gott sei
Dank habe ich mir nicht noch das Genick gebrochen, so ein Glück. Und dann
sagt die Tante Jolesch: Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück
ist.“
Nach dem Krieg: Gemeinsam mit ihrem geliebten Bertl arbeitete Trude
Simonsohn für die jüdische Flüchtlingshilfe in der Schweiz, bevor sie
schließlich nach Deutschland zogen. „Die Leute sagen immer: ‚Sie müssen d…
Deutschen doch hassen.‘ Dann sage ich, ‚ich habe kein Talent zum Hassen.‘…
Sie erklärt, dass sie viele Widerständler kannten, ihnen der Umzug deshalb
nicht schwer fiel. „Bertl wusste ja, dass es hier auch viele
Widerstandskämpfer gab, die keine Juden waren“, schaltet Elisabeth
Abendroth sich ein – „wie Papa“, der Politologe Wolfgang Abendroth. Oder
ihre Freunde, die Heydorns. „Trude hat viel Talent für Freundschaft.“ Auch
die Entscheidung, nun koscher zu essen, hat sie aus Freundschaft getroffen
– „wegen der Gesellschaft“ am Tisch einiger koscher Essenden hier im
Seniorenheim.
Frankfurt: „Als ich mich in das Goldene Buch eingetragen habe, habe ich
gesagt, dass ich zum ersten Mal seit der Befreiung in einer Stadt zu Hause
bin, und das ist Frankfurt“, sagt Trude Simonsohn. Nicht nur, weil sie dort
Freunde hat, auch weil ihre Arbeit dort geschätzt wird. „Ich wurde ja auch
ausgezeichnet“, sagt sie und lächelt. Letztes Jahr wurde sie zur ersten
Ehrenbürgerin der Stadt ernannt. „Was, keine Frau bisher?“, sei ihre erste
Reaktion gewesen, inzwischen sind sie und die ehemalige Oberbürgermeisterin
schon zu zweit.
24 Oct 2017
## AUTOREN
Lea Diehl
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