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# taz.de -- Der Hausbesuch: Im grünen Bereich
> Arwa Haj Ibrahim kam 2015 aus Syrien in ihre neue Heimat Berlin. Gekocht
> wird zu Hause meist syrisch, gesprochen immer öfter deutsch.
Bild: Arwa Haj Ibrahim im Wohnzimmer ihrer Wohnung
Arwa Haj Ibrahim hat sich Berlin nicht ausgesucht. Aber jetzt lebt sie
hier. Sie versucht, sich einzufinden, sich mit der deutschen Kultur zu
arrangieren. Besuch bei einer Geflüchteten.
Draußen: Arwa Haj Ibrahim wohnt im ersten Stock. Von ihrem kleinen Balkon,
auf dem Topfpflanzen stehen, schaut sie auf einen Friedhof. Im Erdgeschoss
ist ein kleines Café, das von einer Spanierin geführt wird. Der Hinterhof
ist begrünt, voll mit schönen Blumen. Für Arwa und ihre Familie ist es eine
wunderbare Umgebung.
Drinnen: Die Wohnung hat keinen Flur. Wenn man eintritt, steht man bereits
inmitten der Küche. Rechts dann das Wohnzimmer mit der hohen Decke und den
gelben Vorhängen vor den Fenstern. Arwa hat sie aufgehängt, nachdem sie
einzog. Dazu ein großes, rotes Sofa mit passenden Sesseln und ein kleiner
Fernseher. Eine syrische Komödie läuft. Sie wurde 2009 produziert, vor dem
Krieg.
Der Friedhof: „Nein!“ – Arwa mochte den Ausblick aus ihrem Fenster zunäc…
nicht: Sie schaut direkt auf einen Friedhof. „Ich bin 2015 vor dem Tod in
Syrien geflohen, und hier war er plötzlich wieder mein Nachbar“, sagt sie.
Der Friedhof erinnert sie an ihre syrische Heimatstadt. Sie kommt aus Deir
al-Sor, einer Großstadt im Osten des Landes. „Die Parks in der Stadt wurden
in Friedhöfe umgewandelt in den Jahren des Krieges.“ Arwa hat sich
inzwischen mit der Aussicht aus dem Fenster ihrer Wohnung versöhnt. Sie
drehte die syrische Realität um, fing an, im Friedhof in Berlin einen Park
zu sehen; erst recht, als sie gehört hatte, dass es dort ein nettes
Friedhofscafé gibt. Sie ging hin, um einen Kaffee zu trinken, und erlebte
eine Überraschung: Ein großes Gemälde, das Damaskus zeigt, hängt dort an
der Wand. „Ist das ein Zeichen, dass mein Land tot ist und ich nie mehr
zurückgehen werde?“, fragt sie sich seither.
Stolz: Arwa Haj Ibrahim ist 37 Jahre alt. Sie trägt den Hidschab, das
Kopftuch. Sie ist stolz auf sich und auf das, was sie ist. Eine hart
arbeitende, gebildete Frau mit einem starken Überlebenswillen. In Syrien
hat Arwa Kunst studiert und war Lehrerin an einer Grundschule.
Berlin: Jetzt ist sie in Deutschland und hat einen großen Traum. Sie möchte
ihren Status als Flüchtling endlich hinter sich lassen. Sie will sich in
die deutsche Gesellschaft integrieren, ein produktiver Teil dieser sein. In
Berlin hat sie begonnen Fahrrad zu fahren, „weil das gesund ist und weil
Berlin eine grüne Stadt ist“. Im Moment arbeitet Arwa, neben ihrem
Deutschunterricht, als Freiwillige in einem Berliner Jugendzentrum,
versucht neue Lebensperspektiven zu entwickeln. Arwa sucht einen
Kompromiss zwischen Arbeitsleben und Familie. „Ich habe aufgehört, jeden
Tag zu kochen“, sagt sie. Jetzt bereitet sie Essen immer für einen Tag im
Voraus vor.
Familie: Arwa ist verheiratet mit Mhedi, einem syrischen
Landwirtschaftsingenieur. Mhedi lernt auch Deutsch und wartet auf eine
Möglichkeit, in seinem Berufsfeld zu arbeiten. Zusammen haben sie drei
Söhne und eine Tochter. Yahia, Youssef, Maria und Saleh. Die Kinder gehen
zur Schule, sprechen schon fließend Deutsch und haben Pläne für ihre
Zukunft in diesem Land.
Flucht: Nachdem Arwa die Hoffnung, dass der Krieg zu Ende gehen würde,
verloren hatte, kam die ganze Familie im September 2015 in einem
Schlauchboot, auf illegalem Weg, über die Türkei nach Griechenland. „Bevor
wir in das Schlauchboot gestiegen sind, habe ich noch ein Foto von meinen
Kindern gemacht – das war der traurigste Moment meines Lebens“, sagt sie.
Zur Identifizierung; für den Fall, dass ihre Körper an Land gespült würden.
Arwas Augen füllen sich mit Tränen, als sie sich das Bild von den Kindern
mit den Rettungswesten auf dem Handy ansieht. Ihre Kinder sind jetzt hier,
bei ihr, glücklich und in Sicherheit.
Freiheit: Im Wohnzimmer hängt ein Graffito, der älteste Sohn hat es in der
Schule gemalt. „Freiheit“ steht darauf geschrieben, in Rot, auf Arabisch
und Englisch. Arwa hat das Bild ganz oben an der Wand platziert, als wäre
es die Überschrift für dieses Haus. „Es ist das Wort, das die gesamte
Situation in Syrien verändert hat“, sagt Mhedi. Sie selbst sagt, sie habe
ihren Kindern wieder Freiheit gegeben. Mhedi hat eine bestimmte Vorstellung
von Freiheit, von der er seinen Kindern erzählt: Jeder Mensch ist frei, das
zu sein, was er will. Er ist frei, die eigene Religion zu wählen, den
Kleidungsstil, den Beruf. Arwa, die Schleier trägt, sagt, dass sie und ihr
Mann ihrer Tochter Maria die Entscheidung, ob sie später einmal Schleier
trägt, selbst überlassen wollen.
Zukunft: Arwa und Mehdi denken nicht mehr über die Zukunft nach, seit sie
in Syrien alles, was sie hatten, verloren haben. In ihrer neuen Heimat
haben sie gelernt, die Gegenwart zu genießen. „Ein Tag in Berlin ist sehr
kurz, da bleibt keine Zeit, sich um die Zukunft zu sorgen. Wir denken nur
noch daran, was wir jetzt und hier haben“, sagt Mehdi. Beide interessieren
sich für das deutsche Bildungssystem und wollen ihre Kinder motivieren, an
deutschen Universitäten zu studieren.
Die Küche: Der Besuch bei Arwa Haj Ibrahim fand an einem Samstag, zur
Mittagszeit statt. Sie kochte gerade ein im Osten Syriens bekanntes
Gericht, Okraschoten mit Reis. Dann bat sie ihre Tochter Maria, einen
großen Teller mit Essen zu füllen, um ihn den Nachbarn zu geben. „Die
Nachbarn können unser Essen von drüben riechen, also müssen wir es mit
ihnen teilen“, sagt Arwa zu ihr, als wolle sie sie im Umgang mit Nachbarn
erziehen. Die Küche sieht aus wie eine Küche in Syrien, sehr aufgeräumt und
sauber. Ein runder Tisch steht vor dem Fenster, daran sechs Stühle.
Syrische Zutaten und Gewürze sind penibel auf den Regalen und auf dem
Kühlschrank aufgereiht. Das alles verleiht einem das Gefühl, man sei in
Syrien.
Sprache: Ihr jüngstes Kind Yahia hat Arwa zum Deutschlernen inspiriert und
motiviert. Die Geschichte dazu erzählt sie so: Wenn meine Kinder sich zu
Hause schlecht benehmen, drohe ich ihnen, ihren Lehrern in der Schule davon
zu erzählen, damit sie sich vor ihren Klassenkameraden schämen. Das macht
man als syrische Mutter so. Als sie das eines Tages Yahia androhte, machte
der sich über sie lustig, weil sie nicht so gut Deutsch spricht wie er und
deshalb gar nicht in der Lage sei, mit den Lehrern zu reden. In diesem
Moment realisierte Arwa, wie wichtig es ist, Deutsch zu lernen, um sich
nicht aufgrund der Sprachbarriere vom Leben ihrer Kindern zu entfernen.
Syrien: „Syrien ist in meinem Herzen, in meinen Erinnerungen und in meinen
Träumen, jeden Tag und jede Nacht“, sagt Arwa. Es geht ihr nicht mehr um
ihr Land, es geht ihr um die eigene Familie: Wenn sie eines Tages
zurückgehen will, dann nur, um ihre Schwestern zu sehen und ihre Mutter zu
umarmen.
Übersetzung: Ivy Nortey
31 Oct 2017
## AUTOREN
Khaled Alesmael
## TAGS
Der Hausbesuch
Schwerpunkt Syrien
Flucht
arabisch
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