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# taz.de -- Sexuelle Integration: Hidschab und Lederpeitsche
> Wie erleben Flüchtlinge in Europa ihre Sexualität? Ein Spaziergang durch
> Berlin – in einen arabischen Erotikshop und einen Darkroom.
Bild: Inspiriert von den syrischen „Frauengeschäften“: ein arabischer Erot…
„Nach einer Stunde in der Dunkelheit, erfüllt von monotoner Musik und dem
Geruch alter schwarzer Ledersofas und Männerjacken, die genau so riechen
wie die Secondhandshops in Syrien, schreie ich: Ich bin Master! Dann greife
ich mir jemandes Lederpeitsche und beginne, die im Dämmerlicht halb
verborgenen Körper zu peitschen und zu schlagen. Ich spucke auf sie. Ohne
Gnade peitsche ich, und mit der anderen Hand klatsche ich auf die heiße
Haut und die kalten Lederklüfte. Ich kann die Schritte einiger Männer
hören, sie laufen vor mir weg. Aber zugleich kommen auch Männer auf mich
zu. Eine Hand versucht, den Reißverschluss meiner Jeans zu öffnen. Ich
schlage nach der Hand und peitsche zugleich meinen harten Penis.
Es gefällt mir! Ich weiß nicht, ob es die gleiche Hand ist, die nun erneut
versucht, meinen Reißverschluss zu öffnen, aber ich erinnere mich, dass ich
sie gewähren lasse. Ein großes, rasiertes Gesicht nähert sich dem meinen,
wie ein Licht in der Dunkelheit. Ich habe Angst, dass er mich küssen will,
und um mich zu schützen, schlage ich vorsorglich mit meiner rechten Hand
nach dem Gesicht. Es verschwindet für ein paar Sekunden, taucht aber ganz
in der Nähe meines linken Ohres wieder auf und wispert mit einer Mischung
aus schlechtem Atem und Alkohol: Piss auf mich. Genau in diesem Moment
ejakuliere ich eine große Menge Sperma in einen warmen Mund. Ich werfe die
Peitsche weg, schließe meinen Reißverschluss und folge dem rötlichen
Lichtschimmer in Richtung Ausgang, erklimme die Treppen nach oben. Ich
verlasse diesen Ort.“
Obai, so sein Spitzname, erzählt mir von seiner ersten Erfahrung in den
Darkrooms von Berlin, die er vor einem Jahr gemacht hat. Er erzählt davon,
als wir in einem kleinen Restaurant in der Berliner Sonnenallee bei einem
syrischen Frühstück sitzen, um 11 Uhr morgens an einem Samstag. Das
Restaurant ist voller arabischer Familien, daher spricht Obai leise und
sieht sich vorsichtig um. Schließlich, als es zu voll wird, beschließen
wir, lieber den Mund zu halten und unser Frühstück zu genießen.
Obai ist 28 Jahre alt. Er hat ein vollbärtiges, hübsches Gesicht und einen
kräftigen Körper. Er kommt aus Aleppo in Syrien, wo er 2013 seinen
Abschluss in Sozialwissenschaften gemacht hat. Er verließ Aleppo, als dort
alles so schlimm wurde. 2015 ging er zu Fuß von Griechenland nach
Deutschland.
Nach einer Weile stößt eine dritte Person zu uns, ich werde sie in diesem
Artikel Lilas nennen, eine syrische Frau in ihren späten Dreißigern mit
Hidschab und hübschem Gesicht. Sie trägt ein weites beiges Kleid. Lilas
setzte sich neben mich. Obai fühlt sich unwohl und sagt, dass er aufbrechen
will. Er erinnert mich an unsere Verabredung für den Abend, dann geht er.
## Ein arabischer Erotikshop
Lilas ist schockiert, als ich ihr sagte, dass er schwul ist. Obai hat mich
gebeten, ihr von seiner sexuellen Identität zu berichten. Lilas sagt, dass
schwule Männer doch eigentlich verweiblicht seien, lange Haare hätten und
rasierte Gesichter, glatte Körper. Sie erzählt, wie die arabischen Medien
schwule Männer normalerweise darstellen: als Assistenten von
Bauchtänzerinnen. Einige Leute finden sie ganz lustig, die meisten aber
verachten sie nur. Lilas hätte nie gedacht, dass Schwule männlich aussehen
könnten, mit kräftigen Bärten. „Könnte es also sein, dass mein eigener
Ehemann schwul ist?“, fragt sie. Ein Scherz.
Lilas berichtet mir von dem arabischen Erotikshop in Berlin, den sie am
liebsten aufsucht und der nur ein paar Meter vom Restaurant entfernt ist.
„Es ist ein neues Geschäft, von Neuankömmlingen eröffnet.“
Lilas sagt, dass der Laden von den „Frauengeschäften“ – oder auch:
Wäscheläden –, wie man sie aus Syrien kennt, inspiriert ist. Stolz erzählte
mir Lilas von der Reizwäsche, die im Alhamidiya-Souk in Damaskus offen
ausgestellt war. Einige dieser Wäschestücke waren aus Zucker gemacht, an
anderen waren kleine Lichter befestigt. Sie sagt, dass sie zwar niemals
Dildos verkauft hätten, aber doch Spielzeuge wie vibrierende Unterwäsche.
Alles frei verkäuflich und hergestellt in Syrien.
Wir kommen in dem arabischen Erotikshop in der Sonnenallee an. An der Decke
hängen viele grelle Lampen, die den Laden zu hell erleuchten. Es gibt viele
Kunden, Frauen mit Hidschab und einige Männer. Sie schleichen herum wie in
einem Labyrinth. Die hängenden Kleider sind konservativ. Aber sobald ich
meinen Kopf etwas hebe, sehe ich, warum Lilas von den Wäscheläden in
Damaskus erzählt hat. Im Regal stehen weibliche Torsos, die Büstenhalter
mit farbigen Federn oder roten Lollis tragen. Ein anderer Torso ist in
einen Anzug aus schwarzem Netz gehüllt, in der Hand hält die Puppe eine
pinke Lederpeitsche.
Lilas ist stolz darauf, mir zu zeigen, wie sexy die syrischen Frauen im
Schlafzimmer aussehen. Zusammen mit ihrem Mann hat sie einige Sexshops in
Berlin und Hamburg besucht. Sie mag Fetischoutfits – als Haushälterin oder
Schulmädchen. Nur die Größe der Dildos hat sie schockiert. Ich lasse Lilas
im Shop zurück, sie will einen neuen Hidschab für den Sommer kaufen.
Mitternacht. Obai, der seine Sporttasche dabeihat, wartet auf mich an der
Tür der Mutschmanns Bar, wo ich ihn interviewen will. Er scheint dort
bekannt zu sein: Er umarmt den Türsteher zur Begrüßung. Wir treten ein.
## In der Cruising-Bar
Die Bar ist sauber, hell und blau erleuchtet, aber die Musik ist aggressiv,
mit harten Beats. Es sieht wie in einem Gefängnis aus, schwarze Stangen aus
Metall trennen die Räume voneinander. Obai geht sofort in den Umkleideraum.
Er trägt ein Ledertop unter seiner Straßenkleidung. Ich sehe, wie sich sein
Gesicht im blauen Licht verändert, Obai mit seinem dichten Bart wirkt jetzt
dunkler. Mit seinen dicken Augenbrauen sieht es aus, als würde er eine
Sonnenbrille tragen. Er kommt näher und bittet mich, ihm ins Untergeschoss
zu folgen.
Dort unten ist eine Cruising-Bar. Es ist dunkel, aus allen Ecken strömt
Nebel und es riecht nach Poppers. Es fühlt sich an, als ob wir in einer
Rauchkammer in der Hölle stehen; eine Qual für einen Nichtraucher. Obai
nimmt meine Hand und zieht mich in einen Darkroom. Er schließt die Tür.
Es ist eine Einzelzelle. Sie ist aus schwarzem Holz gebaut, das Licht ist
rot. Draußen kommen einige Männer näher, sie berühren die Holzwände. „Sie
denken, dass wir jetzt Sex haben, und versuchen, durch die Löcher zu
schauen“, flüstert Obai. Wir sitzen beide auf dem Fußboden. Obai zieht
seine Schuhe aus, er schweift ab. „Hier erinnert es mich immer an meine 45
dunklen Tage in Aleppo im Jahr 2013. Ich war in einer Einzelzelle mit sechs
weiteren erwachsenen Männern eingesperrt. Kannst du dir einen schwulen Mann
mit sechs Männern an einem Ort wie diesem vorstellen?“, fragte er mich.
Bevor ich antworte, sagt er: „Zuerst war ich schockiert, aber später wurde
es ziemlich sexy. Ich wollte an diesem Ort überleben, also musste ich
meinen Weg finden. Es war Sex! Ich begann es zu genießen, mit den Männern
zusammen zu sein. Ich berührte sie und sie fingen an, mich von hinten zu
streicheln. Wir pinkelten alle in unsere Hosen, ich mochte das Gefühl von
warmer Flüssigkeit auf meinem Körper. Ich atmete den Geruch ihrer
schmutzigen Körper ein, das faulige Sperma in ihrer Unterwäsche. Alles
passierte im Stillen, wir waren stumm, wir durften nicht sprechen.“
Im Raum wurde es still. „Sie sind gegangen, sie haben sich gelangweilt,
weil wir keinen Sex haben, sondern uns nur auf Arabisch unterhalten.“ Obai
spricht über die Männer nebenan.
Ich lasse Obai im Keller zurück. Er cruist im Dunkeln weiter. Im ersten
Stock sehen die meisten Männer in ihren Lederoutfits und Stiefeln identisch
aus. Sie starren mich an, weil ich ein neues Gesicht bin. Ich lächle und
verlasse die Bar.
24 Feb 2018
## AUTOREN
Khaled Alesmael
## TAGS
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Flüchtlinge
Sex
Integration
Homosexualität
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt LGBTQIA
Integration
Der Hausbesuch
Lesestück Recherche und Reportage
Sarin
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