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# taz.de -- Der Hausbesuch: Keine Blütenträumerin
> Helga Weyhe ist 95 Jahre alt und bis heute mit Leib und Seele
> Buchhändlerin in Salzwedel. Endlich bekommt sie Anerkennung für ihre
> Beharrlichkeit.
Bild: Helga Weyhe in ihrem Büro hinter der Buchhandlung
Helga Weyhe kommt aus einer Buchhändlerfamilie. Seit über 70 Jahren führt
sie die Weyhe’sche Buchhandlung in Salzwedel, die zuvor ihrem Vater und
davor dem Großvater gehörte.
Draußen: Salzwedel ist eine Hansestadt, um 17.000 Einwohner hat der
Kernort. Mit Kuttern sei man früher auf der Jeetze bis nach Hamburg
geschippert, wird am Glühweinstand auf dem Weihnachtsmarkt erzählt. In den
engen Straßen klebt ein Fachwerkhaus am nächsten; nicht akkurat, mal kippt
ein Haus leicht nach vorne, daneben eins nach hinten, mal wird eins breiter
in der Höhe, wieder ein anderes wirkt auf einer Seite gestaucht. In so
einem Haus hat auch Helga Weyhe ihre Buchhandlung. Ans Schaufenster hat sie
Sinnsprüche geklebt: „Jedes Volk hat die Auffassung, Gottes bester Einfall
gewesen zu sein. Th. Heuss“. Oder „Tatsachen muss man kennen, ehe man sie
verdrehen kann. Mark Twain“. Oder „man tagt und tagt und es wird nicht
hell“.
Drinnen: Vorne ist die Buchhandlung, hinten das Büro. Ihr Sortiment ist
über die Jahre eigenwillig geworden. Da liegt etwa ein Buch über Kattes Tod
– dem Freund von Friedrich dem Großen, der hingerichtet wurde – neben dem
Neuen Testament; ein Kalender der Altmark neben George Orwells „Farm der
Tiere“; Michail Chodorkowskis „Meine Mitgefangenen“ neben Feridun Zaimogl…
Luther-Roman „Evangelio“. Allein durch die Bücher, die nebeneinander
liegen, entsteht Spannung und so ist es in der ganzen Buchhandlung. An der
Wand im Büro, die vom Verkaufsraum einzusehen ist, hängt eine riesige Karte
Nordeuropas in den Grenzen von vor 500 Jahren. Sie hängt schon lange dort.
Auf den Regalen darunter stehen unzählige Blumensträuße. Helga Weyhe hatte
am 11. Dezember ihren 95. Geburtstag.
Gegenwart: Auf die Frage, ob sich bei einem so langen Leben die
Vergangenheit vor die Gegenwart schiebt, antwortet Helga Weyhe ungern.
„Natürlich sei da Vergangenheit“, aber da sie immer weiter arbeite, habe
sie mehr Gegenwart. Morgens und nachmittags ist das Geschäft auf. Da kommen
die Kunden, „und jeder ist anders“, die einen wollten in Ruhe gelassen, die
anderen beraten, aber nicht gegängelt werden, sie müsse herausfinden, was
denen gefällt. Da sie das Interview während der Öffnungszeiten gibt, zeigt
sich: Es ist, wie sie sagt.
Sich raushalten: Ist kein Kunde da, sitzt Helga Weyhe in ihrem Büro, von
dem aus sie den Eingang und den Tresen der Buchhandlung im Blick hat. Neben
ihr steht der Computer, sie redet und tippt gleichzeitig Bestellungen ein.
Kommt jemand, greift sie zum Griff der offen stehenden Tür zwischen Laden
und Büro, zieht sich daran hoch und ist präsent. Trotzdem: Es muss auch
Vergangenheit geben bei so vielen Jahren, so viel Geschichte. Sie hat vier
politische Systeme erlebt: die Weimarer Republik, die Nazis, die DDR, das
wiedervereinigte Deutschland. „Ich hab mich rausgehalten“, sagt sie.
Das Leben: Sie ist 1922 in Salzwedel geboren – eine Aufbruchszeit. Auch
wenn das Moderne kaum über die Stadt in der Altmark hereinbrach, in der
Literatur tat es das doch. In der Weyhe’schen Buchhandlung gab es die Manns
und viele andere, die die Behäbigkeit der Sprache zertrümmerten: Tucholsky,
Brecht, Kafka, wie sie alle hießen. Schriftstellerinnen auch. Helga Weyhe
war ein Teenager, als die Nazis solche Literatur verboten. Aber sie war
schon zu buchverliebt, um alles im Kopf auszulöschen. „Wir waren bei den
Braunen abgeschrieben und dann bei den Roten“, sagt sie. Und der Vater soll
gesagt haben: „Wir sind hier und verkaufen Bücher, alles andere geht uns
nichts an.“
Trotzalledem: Sie ist jung, macht 1941 Abitur, will studieren, Geschichte
und Literatur, tut es in Breslau, Königsberg und Wien. Davor muss sie als
Helferin in der Landwirtschaft arbeiten im Rahmen des
Reichsarbeitsdienstes. Eigentlich will sie nicht unbedingt Buchhändlerin
werden, aber 1945 steigt sie doch bei ihrem Vater ein. „Wenn man hier
aufwächst und von Kind an liest, bleibt man dabei.“
Buchhändlerin in der DDR: Es sei schwierig gewesen damals; der privat
geführte Buchhandel bekam in der DDR viele Bücher erst gar nicht. „Wir
haben eben Fachliteratur verkauft, die war schön billig.“ Mehrfach soll
versucht worden sein, ihnen den Laden wegzunehmen. „Ein paar mal dachten
wir, jetzt wollen sie den Schlüssel. Aber es muss jemanden gegeben haben,
der für uns sprach.“
Reisen: Die Höhepunkte in ihrem Leben seien ihre Reisen gewesen. Anfang der
Fünfziger Jahre, als die Mauer noch nicht stand, ist sie mehrmals heimlich
über Berlin nach Italien gereist und länger geblieben. Sie hatte Verwandte
in Rom. Die Leichtigkeit von dort, die historische Größe, die habe sie mit
zurückgenommen nach Salzwedel. „Aber als es später verboten war, dahin zu
fahren, habe ich es gelassen.“ Erst als sie Rentnerin war, Anfang der
80er-Jahre, reiste sie wieder. Wer in Rente war, durfte das. Sie ging nach
New York. Auch dort gab es einen Verwandten. Er hatte eine legendäre
Buchhandlung an der Lexington Avenue. Ein paar Jahre später reiste sie
zudem nach Israel. Ihre jüdische Schulfreundin hatte den Kontakt wieder
aufgenommen.
Was das Herz noch erwärmt? „Ach Sie meinen die Blütenträumerei“, fragt s…
und spricht nicht darüber. Ihre Wünsche seien doch in Erfüllung gegangen.
Alles andere sei Privatsache, „die gehöre nicht hierher“.
Mehr Reisen: Ihr Leben sei reich. „Ich habe die schönsten Museen der Welt
gesehen, andere Länder, andere Kulturen.“ Manches eben in Büchern
„Neugierig war ich immer, bin es heute noch.“ Weltoffen sei man immer
gewesen und ihre Kunden kämen von überall, auch aus Hongkong und Boston.
„Die wollen Bücher, die man nicht überall kriegt. Welche? Die Tagebücher
von Stalins Botschafter in London Iwan Maiski und „De Profundis“ über das
Scheitern der Russischen Revolution fallen ihr ein.
Lieblingsliteratur: Andere Bücher sind ihr ebenfalls ans Herz gewachsen.
Sie empfiehlt allen, die fragen, die Bücher von Alice Behrend – eine
Erfolgsschriftstellerin in den Zwanzigerjahren, „Jüdin, 33 war Schluss.
Verarmt ist sie in Florenz gestorben.“ Bei ihrem Großvater seien deren
Bücher schon im Regal gestanden. Und ein Kinderbuch von Erika Mann,
„Stoffel fliegt übers Meer“, liegt ihr auch sehr am Herzen. Weil Stoffel,
das Kind, Missstände beseitigt, die heute ebenso aktuell sind.
Shakespeare and Company: Helga Weyhe musste alt werden, bis sie öffentliche
Anerkennung bekam. 2013 machte Salzwedel sie zur Ehrenbürgerin, eine
seltene Auszeichnung. Die erste seit 100 Jahren, wenn man Hitler nicht
mitzählt. „Der hatte sie auch. Aber dem wurde sie wieder weggenommen.“
Dieses Jahr nun bekam sie den Buchhandelspreis für ihr Lebenswerk. Der
Buchhandel weiß: Das deutsche Pendant zu „Shakespeare and Company“, jenem
legendäre Buchladen in Paris, ist in Salzwedel. Der Buchhandelspreis sei
eine Hommage an ihren Vorfahren, sagt Weyhe. „Jede Faser dieser Räume atmet
nicht nur mich, sondern auch meine Familie“. Seit der Auszeichnung gibt es
kaum eine Zeitung, die nicht über sie schreibt. Während des Gesprächs ruft
jemand von Arte an. „Dass ich nun auch in Arte kommen soll“, sagt sie. Sie
freut sich, aber sie zeigt die Freude nicht.
26 Dec 2017
## AUTOREN
Waltraud Schwab
## TAGS
Der Hausbesuch
Buchhandel
Auszeichnung
Deutscher Buchhandel
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