| # taz.de -- Mathilde Franziska Anneke wird 200: Von einer, die aufbrach | |
| > Mathilde Franziska Anneke kämpfte gegen Sklaverei und für Frauenrechte. | |
| > Sie war so radikal wie Marx. Beide werden 200. Ihn kennt man, sie nicht. | |
| Bild: „Als sie Geld brauchte, wurde sie Schriftstellerin, im badischen Feldzu… | |
| Münster/Sprockhövel/Köln/Bad Dürkheim taz | Sie heißt Mathilde Franziska | |
| Anneke und ist verschwunden. In Münster, in der Neubrückenstraße 7, hat sie | |
| gelebt – vor fast 170 Jahren. Da hieß sie noch Mathilde von Tabouillot, war | |
| aber bereits in den aus dem preußischen Militär entlassenen Fritz Anneke | |
| verliebt, der den undemokratischen Monarchismus kritisierte. | |
| Auch schrieb sie keine Gebetbücher mehr, um sich und ihre Tochter über | |
| Wasser zu halten. Im Gegenteil: „Götter, die der Mensch in seiner Not | |
| erschuf“, nennt sie nun, was ihr einst Trost und einen Hungerlohn gab. | |
| Stattdessen schreibt sie Artikel, in denen sie Gerechtigkeit für alle | |
| fordert, Artikel, die kirchenkritisch sind, die die Rechte der Frauen | |
| anmahnen. (Oh, anmahnen? Warum im Präsens? – Weil die Abwesenheit dieser | |
| Mathilde bis in die Gegenwart reicht, sonst müsste man sie nicht suchen.) | |
| Die Frau, kaum 30 Jahre, über 1,80 Meter groß, taucht in Münster ein in | |
| Clubs, wo man Gleichheit und Freiheit fordert, das Presse- und | |
| Versammlungsverbot abgeschafft sehen will und eine Volksregierung | |
| diskutiert (gewählt von Männern, leider). „Neue Schreier“ werden die | |
| Regimekritiker genannt, manchmal auch „Communisten“, ein neues Wort. | |
| Es gibt ein Foto von der Neubrückenstraße, nicht ganz so alt wie die | |
| gesuchte Frau, aber doch so, dass der Buchhändler, der dort einen Laden – | |
| die Schatzinsel – hat, die Arkaden in der Bogenstraße erkennt, von der die | |
| Neubrückenstraße abgeht. Er geht einen Schritt auf die Straße, dreht das | |
| Foto so, dass er den gleichen Blick auf die Arkaden hat, „an der Ecke ist | |
| die 9“, sagt er, dann sei die 7 da, wo die alte Kirche steht. Es ist | |
| verwirrend. | |
| Am Ende meint der Buchhändler, die Häuser könnten früher so schmal gewesen | |
| sein, dass sieben davon hinpassten, und mit der alten Nummerierung hatte | |
| die Kirche dann die 8. Ob er Mathilde Franziska Anneke denn kennt? Erst | |
| „nein“, dann „ja“, dann: „Es gibt einen Mathilde-Anneke-Weg in Münst… | |
| Und? Ihm fällt das Bild einer Reiterin ein, die an den Revolutionskämpfen | |
| 1849 in Baden und der Pfalz teilnahm. Bauern und Freischärler gegen zehnmal | |
| so viele Preußen, deren Pickelhauben die Sonne reflektierten, die | |
| blendeten, als wären sie eine kosmische Erscheinung – und zwischendrin die | |
| Frau auf dem Pferd. „In 15 Jahren hat keiner nach ihr gefragt“, sagt der | |
| Buchhändler. | |
| Immer diese Anneke. Niemand kennt sie. Manche wollten sie nicht mal zu | |
| Lebzeiten kennen. Die zeitgleich in Münster lebende Schriftstellerin | |
| Annette von Droste-Hülshoff nennt Anneke in ihren Briefen „Frau v. T.“ – | |
| und meidet deren Gesellschaft, weil sie eine Geschiedene ist. Denn von | |
| diesem von Tabouillot – einem Weinhändler aus Mülheim – hatte sich | |
| Mathilde nach einem Jahr Ehe getrennt, weil er sich als gewalttätiger | |
| Säufer entpuppte. Frau v. T. sei sehr „genant“, schreibt Droste-Hülshoff | |
| und verkennt: Sie ist möglicherweise selbst die „Genante“, da sie zu einer | |
| Geschiedenen auf Distanz geht. | |
| ## Bei Marx sagt niemand „würde“ | |
| Der Scheidungsprozess von Mathilde von Tabouillot hatte sich Jahre | |
| hingezogen, am Ende wurde sie schuldig geschieden, weil sie der | |
| gerichtlichen Aufforderung, zu ihrem Mann zurückzugehen, nicht folgte. Noch | |
| mal: Der Mann ist ein Säufer und Schläger. Sie verlässt ihn. Das Gericht | |
| fordert, dass sie zurückgehe. Sie tut es nicht. Da wird sie schuldhaft | |
| geschieden. „Bösliches Verlassen“, so der Terminus damals. Bei der | |
| Hexenverfolgung wurde mit ähnlicher Logik argumentiert – nur dass da alles | |
| auf das Todesurteil hinauslief. Die kleine Tochter Fanny indes blieb bei | |
| der Mutter – das immerhin war ungewöhnlich. („Ach“, meint später die | |
| Frauenbeauftragte von Sprockhövel, als sie Annekes Geburtshaus dort zeigt, | |
| „das lag wohl daran, dass Fanny oft krank war und Fannys Vater kein | |
| Interesse an ihr hatte.“) | |
| Egal was Mathilde Franziska Anneke geleistet hat, kaum jemand weiß etwas | |
| von ihr, auch nicht im nach ihr benannten Weg am Stadtrand von Münster. | |
| Hinter den Häusern ein Sickergebiet, die Weiden dort abgeholzt, „sie seien | |
| morsch gewesen“, sagt eine Frau, die im Garten arbeitet. Mit Anneke hat sie | |
| sich nicht beschäftigt, „ich wohne doch erst ein Jahr hier“. Eine andere, | |
| die im schwarzen Chrysler vorfährt und dann die Mülltonnen wegstellt, | |
| meint, sie wisse nichts. Wieder eine andere sagt, sie habe gehört, Anneke | |
| habe es im 16. Jahrhundert mit den Frauenrechten gehabt. – Eine Metallsäge | |
| zerschneidet die Ruhe. Wenn sie aufhört: Vogelgezwitscher, Rotkehlchen, | |
| Dompfaff, in den blätterlosen Bäumen gerade gut zu erkennen. Hummeln | |
| umschwärmen, was schon blüht. „Entschuldigen Sie die Störung.“ „Sie st… | |
| nicht.“ | |
| Unter dem Straßenschild vom Mathilde-Anneke-Weg steht: 1817–1884, | |
| Schriftstellerin, Journalistin, Frauenrechtlerin. | |
| Einen Tag später im philosophischen Frauensalon „PhiloSofa“, er findet | |
| dreimal im Jahr im IG-Metall-Bildungszentrum Sprockhövel, (dieser Stadt, | |
| die mit Anneke zu tun hat), statt. „Die Macht des Wortes“ ist Thema des | |
| Abends. Dinge zu benennen, habe mit Herrschaft und Macht zu tun, sagt eine | |
| Vortragende, „im Anfang war das Wort“. Zwanzig Frauen, alle lange dabei, | |
| den Salon gibt es seit 1999, sitzen im Kreis, reden über schöne und böse | |
| Worte und wie eines das andere gibt: Ich heiße dich willkommen – Ich heiße | |
| dich, etwas zu tun. Jemanden achten – und ächten. Er verlässt sich auf sie. | |
| – Sie verlässt ihn. Sprache hätten die Menschen von den Göttern, sagt eine. | |
| Eine andere wechselt das Thema, sagt: „Mathilde Franziska Anneke wird am | |
| 3. April 200 Jahre alt.“ „Nein“, korrigiert die neben ihr, „sie würde … | |
| Jahre alt“. Die erste widerspricht: „Bei Marx, der nächstes Jahr 200 wird, | |
| wird niemand würde sagen.“ Marx ist ein gutes Stichwort, Anneke kannte ihn. | |
| Sie hat so radikal gedacht, geschrieben, gehandelt wie er, auch wenn sie so | |
| gründlich vergessen wurde, dass, was noch an sie erinnerte, lange nur | |
| Zerrbilder waren. „Flintenweib“ wurde sie genannt, nachdem der Aufstand in | |
| Baden und der Pfalz 1849, an dem sie teilnahm, gescheitert war. Eine Dritte | |
| sagt: „Anneke wäre 200 Jahre geworden“, das klingt grammatikalisch korrekt | |
| – ach, was soll’s. Der Salon bekam im Jahr 2010 den ersten Anneke-Preis | |
| verliehen. Nur, wer war sie? | |
| Mathilde Franziska Annekes Leben ist voll. Geboren 1817 als ältestes von | |
| elf Kindern in eine wohlhabende Familie. Manche Kinder wurden katholisch, | |
| andere evangelisch getauft – das sei ungewöhnlich, schreiben die Biografen. | |
| Mathilde erhält wie ihre Brüder Unterricht, darf mit den Kindern von | |
| Bediensteten spielen, wird eine ausgezeichnete Reiterin dazu. Sie ist im | |
| heiratsfähigen Alter, als sich ihr Vater verspekuliert – die Familie ihren | |
| Lebensstandard nicht mehr halten kann. Sie verliebt sich in von Tabouillot, | |
| die Quellen geben das her, dass es Liebe war, heiratet ihn, er übernimmt | |
| die Schulden ihres Vaters. Sie bekommt ein Kind und verlässt den Mann | |
| wieder. | |
| ## Sie bekommt einen Sohn, lässt sich davon nicht stoppen | |
| Wer einen Bezug zu Anneke sucht, müsse sich ihr Leben anschauen, sagt Karin | |
| Hockamp, die Archivleiterin von Sprockhövel: Sich von einem gewalttätigen | |
| Mann zu trennen, sei das eine. Als Alleinerziehende aber unbedingt Geld | |
| verdienen zu müssen, das können Frauen nachvollziehen, die es erlebten. | |
| Hockamp kann es nachfühlen, sie war auch allein mit Kind. Eigentlich | |
| Lehrerin, aber als sie Anfang der neunziger Jahre an die Schule hätte gehen | |
| können, wurden Lehrer nicht gebraucht. | |
| Hockamp, auf den ersten Blick wirkt sie scheu, wartet im knallroten Mantel | |
| bei der Kirche von Niedersprockhövel, geht dann zum Archiv die Hauptstraße | |
| hoch. Was ist das überhaupt für eine Stadt, dieses Sprockhövel, dieser aus | |
| vielen Dörfern zusammengewürfelte Ort? Sie hätte auch lange dafür | |
| gebraucht, das zu verstehen, sagt sie. Historiker, wird gesagt, sollen kein | |
| Vaterland, keine Religion, keine Freunde haben – aber ohne Freunde könnte | |
| sie hier nicht leben. Anneke sei ihr übrigens in den Schoß gefallen; sie | |
| hat ein Buch über sie geschrieben, ein dünnes, damit viele Sprockhöveler es | |
| lesen. | |
| In Sprockhövel weiß man erst seit den 1980er Jahren wieder, dass diese | |
| bedeutende Frau im Ort gelebt hat. Eine amerikanische Wissenschaftlerin | |
| hatte die Stadt angeschrieben und gefragt, ob es Spuren von Anneke gibt. | |
| Gibt es. Das Geburtshaus an der B51, das Haus im eingemeindeten | |
| Blankenstein, wo sie aufwuchs. Und das gab es auch: Mit diesem Flintenweib | |
| wolle er nichts zu tun haben, soll der damalige Bürgermeister gesagt haben. | |
| Flintenweib – da war also etwas durchgesickert durch die Zeit. | |
| Zurück ins Jahr 1847: Mathilde ist verliebt in Fritz Anneke, folgt ihm nach | |
| Münster, heiratet, sie ziehen 1848 nach Köln, nehmen an Demonstrationen | |
| teil, die, beflügelt von der Revolution in Frankreich, auch in Deutschland | |
| das allgemeine Wahlrecht und Demokratie fordern. Sie gründen die Neue | |
| Kölnische Zeitung, die in einfacher Sprache geschrieben ist, weil sie sich | |
| an die Arbeiter wendet – Mathilde Franziska Anneke findet, dass alle | |
| Menschen, unabhängig von Stand und Geschlecht, Zugang zu Bildung und | |
| gleiche Rechte haben sollen. Da wird Fritz Anneke verhaftet und landet für | |
| Monate im Gefängnis – er sei Rädelsführer, das reichte, ihn einzusperren. | |
| Mathilde Franziska Anneke macht die Zeitung allein, schreibt hochschwanger | |
| einen Großteil der Artikel, bekommt einen Sohn, lässt sich davon nicht | |
| stoppen. | |
| Karl Marx lebt zeitgleich in Köln und gibt die Neue Rheinische Zeitung | |
| heraus. Als diese verboten wird, fordert er seine Korrespondenten auf, ihre | |
| Artikel an die Neue Kölnische Zeitung von Anneke zu schicken. Aber auch | |
| ihre Zeitung fällt unter die Zensur. Sie nennt sie um in Frauen-Zeitung – | |
| hoffend, dass eine Frauenzeitung für die Obrigkeit nicht so interessant | |
| ist. Im ersten Leitartikel der Frauen-Zeitung fordert sie, dass die Kirche | |
| nicht länger die Hoheit über die Schulen haben darf. Aber bereits beim | |
| dritten Erscheinen wird auch die Frauen-Zeitung verboten. | |
| Schon das müsste reichen, um diese Frau bekannt zu machen. Nur, da kommt | |
| noch viel mehr. | |
| ## „Frauen haben Anrecht auf kulturelle Repräsentation“ | |
| In Köln, unweit der Florastraße, da wo die letzte, bis 1904 von Pferden | |
| gezogene Straßenbahn endete und die Stadt Patina bekommen hat, das Alte | |
| jetzt neu und das Neue alt wirkt, wo Menschen an einem verschleierten | |
| Frühfrühlingstag, die Farben nicht zu grell, wartend rumstehen, in der | |
| Tonlage besänftigt, manche auch draußen sitzen für einen schnellen Kaffee, | |
| tapfer und etwas gekrümmt, um die Körperwärme zu halten (warum gaffst du | |
| so, fragt jemand, weil du schön bist, die Antwort), da wohnt Irene Franken. | |
| Franken, Historikerin, die in den achtziger Jahren den Kölner | |
| Frauengeschichtsverein gründete, sorgte dafür, dass von der Fassade des | |
| Kölner Ratsturms nicht nur 106 Männer herabschauen auf den Alten Markt. 18 | |
| Frauen, die in Köln wirkten, zieren die Fassade nun ebenso: Irmgard Keun, | |
| Schriftstellerin. Edith Stein, Philosophin. Die Postmeisterin Katharina | |
| Henot, 1627 als Hexe verbrannt. Und Agrippina, „sie hat unsere Stadt“ | |
| gegründet. („Unsere“ – das ist eine Liebeserklärung.) | |
| Auch eine Statue von Mathilde Franziska Anneke hängt am Ratsturm. „Frauen | |
| haben Anrecht auf kulturelle Repräsentation“, sagt Irene Franken. Nur, wie | |
| wird so eine vergessene Frau wie Anneke für uns wieder lebendig? „Indem man | |
| das sucht, was sie mit heute verbindet“, meint Franken und zählt auf: Dass | |
| Anneke vor 200 Jahren das Recht auf ein freies Leben einforderte. Dass sie | |
| sich Entwicklungen erlaubte: von der Gebetbuchschreiberin zur Freidenkerin. | |
| „Toll auch: Dass sie das Recht einforderte, als Frau gleich behandelt zu | |
| werden wie ein Mann. Davon profitieren wir bis heute.“ Dass sie ihre | |
| Handlungsspielräume erweiterte und das einsetzte, was sie konnte: „Als sie | |
| Geld brauchte, wurde sie Schriftstellerin; im badischen Feldzug wiederum | |
| setzte sie darauf, dass sie eine begnadete Reiterin war.“ Mathilde | |
| Franziska Anneke war Ordonnanzoffizierin, Berichterstatterin, brachte | |
| Nachrichten von hinten nach vorn an die Front. | |
| Der Blick auf historische Personen sei nie statisch, sagt Franken. Heute | |
| könnte auch von Interesse sein, dass Fritz Anneke im Exil in den USA nicht | |
| richtig Fuß fassen konnte, seine Frau sehr wohl. Eine Erfahrung, die sich | |
| gegenwärtig bei Migrationsbiografien von Männern und Frauen wiederholt. | |
| „Und“, so Irene Franken: „Anneke ist wichtig, weil sie in der Lage war, | |
| Frauenrechte und die Abschaffung der Sklaverei zusammenzudenken.“ (Franken | |
| erwähnt hier Lebensabschnitte von Anneke, die noch gar nicht erzählt sind: | |
| der badische Feldzug, das Exil, ihr Kampf fürs Frauenwahlrecht und gegen | |
| Sklaverei.) | |
| Noch ist Mathilde Franziska Anneke nämlich in Köln. Ihr Mann wird Ende 1848 | |
| aus dem Kerker entlassen und sofort wieder aktiv in der Demokratiebewegung. | |
| Schon Anfang Mai 1849 verlässt er Köln indes, weil ihm erneut Verhaftung | |
| droht. Die in Frankfurt tagende Nationalversammlung hatte am 28. März 1849 | |
| die Verfassung des Deutschen Reichs verabschiedet, die die Vorherrschaft | |
| des Adels ablösen sollte. Der preußische König und die Einzelstaaten Bayern | |
| und Hannover erkannten sie nicht an, es kam zu Aufständen, nur in der Pfalz | |
| und Baden hielt sich der Widerstand. Fritz Anneke schließt sich, als Führer | |
| einer Truppe, den Aufständischen in der Pfalz an. Und im Sommer 1849 stößt | |
| Mathilde Franziska Anneke zu ihnen, sechs Wochen zieht sie mit den | |
| Freischaren mit und am Ende, als die Festung Rastatt nicht mehr gegen die | |
| preußische Übermacht zu halten ist, flüchten sie und ihr Mann über den | |
| Rhein nach Frankreich. Von dort aus gehen sie, wie viele „Fortyeighter“, | |
| ins Exil in die USA. | |
| „Hey, da ist eine, die hat ganz viel gemacht“, sagt eine Schülerin, der | |
| Mathilde-Anneke-Schule in Sprockhövel. Jetzt könnte die Geschichte zu Ende | |
| sein – und ist es nicht. | |
| ## Sie tritt gegen die Sklaverei ein und für das Frauenwahlrecht | |
| In Bad Dürkheim lebt Diana Ecker und arbeitet als Psychotherapeutin. Die | |
| Pfalz, sagt sie, sei am allerschönsten in Deutschland. Wie um das zu | |
| bestätigen, zeigt sie vom Garten ihres Hauses am Hang über die hügelige | |
| Landschaft. Ecker will eigentlich nicht so viel von sich preisgeben – | |
| Therapeuten wollen nicht, dass Patienten sich mit ihnen beschäftigen. Jetzt | |
| ist sie im Zwiespalt, denn andererseits will sie, dass Anneke bekannt ist. | |
| Im Sommer des Jahres 2009 nämlich wanderte Ecker den Weg nach, den Mathilde | |
| Franziska Anneke im badisch-pfälzischen Aufstand ging. „Anneke ist mit dem | |
| Revolutionszug durch die Gegend geritten, die ich sehr gut kenne.“ Sie kam | |
| auch durch Wörth, wo Ecker geboren wurde. „Ich wollte sehen, was sie | |
| gesehen hat.“ So versucht Ecker dieser Anneke näherzukommen, sie zu | |
| verstehen, „sie war nicht nur Politikerin, sie war Mensch“. | |
| Dann erzählt Ecker, wie Anneke ihren Mann suchte in der Pfalz, ihn in | |
| Kaiserslautern vermutet, nur bis Frankenstein kommt, ihren Fritz nicht | |
| findet, mit den Freischaren weiterzieht, und er sie, da ihm kundgetan | |
| wurde, dass seine Frau ihn sucht, ebenfalls sucht, und sich die beiden auf | |
| halber Strecke zwischen Frankenstein und Neustadt finden, „oh, man merkt, | |
| sie haben sich geliebt. Liebe gibt Nähe“, sagt Ecker. | |
| Ein Jahr beschäftigt sich Ecker mit Anneke, in einer Zeit, in der sie sich | |
| fragte, wie ihr Leben weitergehen soll. „Was Anneke sich zugetraut hat, hat | |
| mich inspiriert, auch Neues anzufangen.“ Ecker schreibt ein Buch über diese | |
| Reise zu der Frau, in die Zeit. Es wird von einem Kritiker verrissen. Was | |
| soll das sein, diese Leutseligkeit. (Leut-Seligkeit.) „Ich wollte sie zur | |
| Freundin“, sagt Ecker. | |
| Je näher Ecker bei ihrer Anneke-Reise Rastatt kommt, in deren Festung die | |
| Revolutionäre endgültig geschlagen wurden, desto mehr spürt sie, wie groß | |
| Hoffnungen sein müssen, um das auf sich zu nehmen, was Mathilde Franziska | |
| Anneke auf sich genommen hat. „Und sie hat sich selbst in der Niederlage | |
| nicht aufgegeben.“ | |
| In den USA gründet Anneke wieder Zeitungen, schreibt Bücher, bekommt noch | |
| fünf Kinder und erlebt, wie fünf ihrer sieben Kinder sterben. Sie tritt | |
| aktiv gegen die Sklaverei ein und für das Frauenwahlrecht und schreckt | |
| nicht vor dem Versuch zurück, einen Kampfgefährten der | |
| Anti-Sklaverei-Bewegung aus dem Gefängnis zu befreien. | |
| ## Geschichte studiert, aber dabei nie von Anneke gehört | |
| Von ihrem Mann entfremdet sie sich. Er gilt als rechthaberisch in allem, | |
| was er tut. Er geht zurück nach Europa, um über Garibaldis Kampf in Italien | |
| zu berichten, und später, wieder in den USA, im amerikanischen Bürgerkrieg | |
| auf Seiten der Nordstaaten zu kämpfen – erreicht mit seinem Starrsinn aber | |
| nur, dass man ihn aus der Armee ausschließt. Emotionalen Rückhalt findet | |
| Mathilde Franziska Anneke jetzt bei ihrer Freundin Mary Booth. Ihrem Mann | |
| schreibt Anneke, dass sie ihn immer unterstützt habe, dass er aber | |
| inzwischen ihrer „Individualität, die nun mal sehr weit sich aus dem | |
| gewöhnlichen Kreis herausgerungen hat“, niemals mehr Rechnung tragen könne. | |
| 1860 geht auch sie noch einmal nach Europa. Ihre Gesundheit ist | |
| angegriffen, die Luft in den Bergen soll heilen. Fünf Jahre lebt sie in der | |
| Schweiz, schreibt für Zeitungen – mitunter hat sie kaum Geld. Mary Booth | |
| ist mitgekommen – sie nennt es Liebe, was beide verbindet: „Ich gehe nie | |
| ohne Maria. Wir verlassen uns keine Stunde. Sie sitzt neben mir, wenn ich | |
| arbeite, und wir sind glücklich, daß wir uns gefunden, um uns nie wieder | |
| voneinander zu trennen“, heißt es in einem Brief. | |
| Allerdings ist Mary Booth krank, 1864 geht diese zurück in die USA, sie | |
| will ihr Kind noch einmal sehen. Im April 1865 stirbt sie. Im gleichen Jahr | |
| kehrt Anneke in die USA zurück und gründet mit Cäcilie Kapp, einer neuen | |
| Weggefährtin, in Milwaukee, wo viele Deutsche leben, eine Mädchenschule. | |
| Anneke leitet sie, unterrichtet auch, der Unterricht progressiv, der | |
| Lehrplan fortschrittlich, Religionsstunden gibt es keine. Die Berichte über | |
| ihre Schule sind überschwänglich – Anneke war zu Lebzeiten Vorbild. Neben | |
| ihrer Arbeit setzt sie sich weiter fürs Frauenwahlrecht ein und wird fast | |
| bis zu ihrem Tod 1884 in Amerika eine der wichtigsten Kämpferinnen dafür – | |
| in den USA anerkannt und geehrt. | |
| Und in Sprockhövel, dieser Stadt im Ruhrgebiet. Da wird ihr 200. Geburtstag | |
| begangen. Mit Konzerten, Führungen, der Verleihung des Anneke-Preises und | |
| mit Schattentheater an der Anneke-Schule. (Direkt neben der Schule stehen | |
| die Container, in denen Flüchtlinge wohnen.) | |
| In einem dunklen Raum proben fünf Neuntklässlerinnen und ein Junge aus der | |
| Zehnten, die meisten mit einer Migrationsbiografie, Albanien, Italien, | |
| Syrien. In bewegten Scherenschnitten stellen sie Szenen nach aus Annekes | |
| Leben. Wie sie von ihrem Mann geschlagen wird, wie sie sich neu verliebt, | |
| wie sie für Freiheit kämpft, wie sie mit nichts, nicht mal einem Koffer, | |
| flüchtet. Die Schülerinnen sind aufgeregt, wortkarg, sie suchen gegenseitig | |
| ihre Nähe, eine spielt mit den Haaren der, die vor ihr sitzt. Ja, sie | |
| finden toll, was Anneke gemacht hat. Liebe, Gewalt, da können sie andocken. | |
| Die Lehrerin, die die Schattentheater-AG leitet, assistiert, als die | |
| Mädchen verstummen. „Gut fanden sie“, sagt sie, „dass sich Anneke auch in | |
| Frauen verliebt hat. Das hat sie beeindruckt.“ Und sie erzählt noch, dass | |
| sie Geschichte studierte, aber von Mathilde Franziska Anneke dabei nie | |
| erfuhr. | |
| 1 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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