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# taz.de -- Neue ARD-Miniserie „Das Verschwinden“: Autorenfilmer auf Abwegen
> Die ARD versucht sich an eigenen Miniserien. Heraus kommt mit „Das
> Verschwinden“ das Beste, was es im Ersten zu sehen gibt.
Bild: Lost in Oberpfalz: Julia Jentsch spielt die Mutter einer Verschwundenen
„Babylon Berlin“, „Charité“, „Im Angesicht des Verbrechens“. Tom T…
Sönke Wortmann, Dominik Graf. Die ARD ist ein schwerfälliger Beamtenladen,
aber den neuen Serientrend wollte sie wenigstens nicht komplett
verschlafen.
Dennoch scheint die ARD mit dem Genre, wenn es man denn so nennen mag, noch
immer zu fremdeln: Denn zu was für einer merkwürdigen Rechtfertigung meint
der ARD-Programmdirektor Volker Herres da in seinem Presseheft-Vorwort zu
einer neuen Serie ansetzen zu müssen? „Wir sind stolz darauf, dass
Hans-Christian Schmids ‚Das Verschwinden‘ das Spektrum unserer
Serienproduktionen so eindrucksvoll erweitert“, schreibt er. „Unser
Portfolio reicht von […] Familienserien wie ‚Um Himmels Willen‘ bis zu
unseren Weeklys ‚In aller Freundschaft‘ und ‚Lindenstraße‘ und unseren
täglichen Serien ‚Rote Rosen‘ und ‚Sturm der Liebe‘. […] Kein Progra…
bietet eine ähnliche Bandbreite bei seinen Serienproduktionen wie Das
Erste.“
Schmids „Das Verschwinden“ ist also der nächste Versuch der ARD bei den
gern von bewährten Kinoregisseuren gedrehten, horizontal erzählten, von
uneindeutigen Charakteren bevölkerten Miniserien mitzumischen. Deren Boom
hat in den USA etwa um das Jahr 2000 begonnen. Und Herres zählt
ausgerechnet bei dieser Gelegenheit noch einmal akribisch die Gründe auf,
warum die ARD heute ein Ü60-Sender ist? Und jüngere Menschen zunehmend zu
den Streamingdiensten wechseln?
„Das Verschwinden“ wäre nun wirklich einmal eine Gelegenheit gewesen, die
ARD über den grünen Klee zu loben. Und Herres versaut sich selbst die
Lobhudelei, weil er unbedingt mit „In aller Freundschaft“ und „Rote Rosen…
anfangen muss. Alle noch nicht endgültig vergraulten Zuschauer tun gut
daran, sämtliche Verlautbarungen der ARD zu ignorieren und sich „Das
Verschwinden“ einfach anzugucken.
Die Serie ist in diesen Zeiten der kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspannen
nämlich das Beste, was es in der ARD seit Langem zu sehen gegeben hat. Aber
was heißt hier: einfach angucken? Die ARD zeigt ihren neuen Vierteiler, der
von Regisseur und Autor Schmid (und seinem Koautor Bernd Lange) eigentlich
als Achtteiler konzipiert war, am 22., 29., 30. und 31. Oktober. Kleines
Rätsel: Was stimmt nicht an dieser Zahlenfolge? Oder ist das der Versuch,
das ARD-Publikum innerhalb einer einzigen Miniserie mit der Praxis des
Binge-Watchings vertraut zu machen?
## Ein Schuss ins Blaue
Schmid erzählt eine Woche vor der Ausstrahlung in seinem Produktionsbüro
von den fünf Jahren, die er an dem Projekt gearbeitet hat: „Wir haben das
ins Blaue hinein entwickelt. Wir haben ein komplettes Treatment von 120
Seiten an die ARD-Sender geschickt und gefragt, ob die es machen wollen.“
Er erzählt, wie das war, einen Sendeplatz zu finden für einen Vierteiler,
der eigentlich ein Achtteiler ist, der im zwischen neun ihren Besitzstand
wahrenden Landesrundfunkanstalten und der Degeto austarierten
ARD-Sendeschema nicht vorgesehen ist: „Die ARD ist ein Riesentanker. Wir
waren schon seit zwei Jahren im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk und
die wollten das machen. Aber es zeichnete sich in den
ARD-Koordinierungssitzungen nicht ab, dass wir einen Sendeplatz finden
würden. Und erst als dann die Degeto, die Filmeinkaufsorganisation
der ARD, uns vier Sendeplätze angeboten hat, waren wir nicht mehr auf
Mehrheiten im Koordinierungsausschuss angewiesen. Wenn es keinen Sendeplatz
gibt, dann gibt’s auch kein Projekt.“ (Falls der eine Leser oder die andere
Leserin den Begriff vom „schwerfälligen Beamtenladen“ am Anfang für
unangemessen gehalten haben sollte.)
Doch was ist „Das Verschwinden“ nun eigentlich? Der Regisseur findet die
Bezeichnung als „Whodunit“ mit den Mitteln des Autorenfilms für seine
allererste Fernseharbeit ganz gut: „Ich sehe da überhaupt keinen
Widerspruch. Ein Autorenfilmer auf Abwegen, wenn Sie so wollen.“ Jane
Campions „Top of the Lake“ hat er sich gern angesehen: „Ich finde die
Provinz untererzählter als die Großstadt.“
In einer Kleinstadt an der bayerisch-tschechischen Grenze verschwindet also
ein Mädchen in der Nacht ihres 20. Geburtstags. „Ihre Tochter taucht schon
wieder auf“, sagt da ein Polizist (Stephan Zinner) und ein anderer (Martin
Feifel): „Wir schicken nicht gleich unsere Leute, wenn eine erwachsene Frau
mal über Nacht wegbleibt.“ So macht sich die Mutter (Julia Jentsch) also
selbst auf die Suche. Schmid: „Das war einer der Gründe, wieso ich ‚Das
Verschwinden‘ gemacht habe. Weil es da keinen Kommissar als Ermittler gibt.
Weil die Hauptfigur jemand sein sollte, der nicht professionell ermittelt.“
Das Verschwinden eines Menschen ist ein typisches, oft durchgespieltes
Thriller- oder Krimimotiv. „Das Verschwinden“ kommt aber – und das ist
wirklich verblüffend – ohne alles Genrehafte, Reißerische, Kolportagehafte
aus. Ohne all die Tricks, die auch Meister Hitchcock nicht scheute, um das
zu erzeugen, was er Suspense nannte (die Glühbirne im Milchglas). Schmid:
„Ich gehe von den Figuren aus. Ich versuche alles, was passiert, aus den
Figuren heraus zu entwickeln. Ich setze nicht irgendwo einen Cliffhanger
hin, nur weil der da jetzt sein muss.“ Und doch: Wenn man sich das gebannt
anguckt, sechs Stunden lang dabeibleibt, wissen will, wie es weitergeht,
wie es ausgeht – dann ist es offensichtlich spannend, in einem durchaus
herkömmlichen Sinn. Schmid: „Der Krimiplot allein hätte mich nicht genug
interessiert.“
„Das Verschwinden“ ist deshalb noch viel mehr.
## Ein Blick in die Kleinstadt
Es ist Kleinstadtdrama: „Das ist eine kleine Stadt. Hier wohnen gute Leute.
Auch wenn sie vielleicht nicht immer Gutes tun“, sagt einer der Polizisten.
Am Ende werden diese guten Leute mit ihren Lügen, Geheimnissen und Affären
nicht nur Familien, sondern auch Menschenleben auf dem Gewissen haben. Und
das Verhalten jedes Einzelnen wird dabei nachvollziehbar gewesen sein.
Es ist das Soziogramm eines Landstrichs: „Weißt du, wie mich die ankotzen,
die Tschechen“, sagt der lokale Clubbetreiber zu der Mutter: „Seit die da
drüben auf Klein-Las-Vegas machen […] Irgendwann fackel ich denen die Bude
ab!“ In der Grenzregion ist das Problem mit der Droge Crystal Meth größer
als anderswo. Der eine Polizist unterstellt, das verschwundene Mädchen
hätte sich die Nase vollgehauen und dann drüben weitergemacht: „In
Tschechien.“ Der andere meint: „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aber
manchmal wünschte ich mir, man könnte die Grenze wieder schließen.“
Es ist ein Coming-of-Age-Film: Es waren einmal drei Freundinnen von klein
auf (umwerfend gut: Johanna Ingelfinger, Saskia Rosendahl, Elisa Schlott).
Sie haben einander versprochen, „dass wir immer für einander da sind – egal
was passiert“. Und nun: „Letzten Sommer haben wir noch alles
zusammengemacht. Zum See, zur ‚Fusion‘ und so. Es war alles gut. Und jetzt
streiten wir uns wie die Idioten um so’n paar Gramm Meth.“ Jetzt geht es
für sie um Leben und Tod.
Ein paar Dinge waren Schmid („Nach fünf im Urwald“, „Requiem“, „Was
bleibt“), der in München Dokumentarfilm studiert hat, wichtig: „Ambivalent
und differenziert zu erzählen.“ Die bereits „vierte Zusammenarbeit mit The
Notwist. Ich schätze deren Musik einfach sehr.“ Die Schauspieler, die
überwiegend nicht aus Bayern stammen und keinen Dialekt sprechen: „Wenn ich
da genau sein will, dann sprechen die aber bitte auch Oberpfälzisch – und
nicht dieses halb hochdeutsche Münchner Bayrisch. Das würde Arbeit mit
Laien vor Ort bedeuten. Das wollte ich nicht. Das hätte ich als eine zu
große Einschränkung empfunden.“ Schließlich: „Das Ende dieser Geschichte
ist für mich kaum anders vorstellbar.“
Zwei Fragen noch: Ob Hans-Christian Schmid denn noch einmal für die ARD
drehen würde? „Würde ich nicht ausschließen.“ Ob es da schon ein neues
Projekt gibt? „Nein.“
22 Oct 2017
## AUTOREN
Jens Müller
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