# taz.de -- Zadie Smiths neuer Roman „Swing Time“: Wer spricht denn hier? | |
> In „Swing Time“ schreibt Zadie Smith wieder über den Alltag in | |
> Nordlondon. Worin die Perspektive der Ich-Erzählerin besteht, bleibt | |
> unklar. | |
Bild: Erzählt Geschichten aus Nordlondon: Zadie Smith | |
Sie hat es wieder getan. Die gefeierte britische Autorin Zadie Smith hat | |
ein neues Buch fertig, wieder einmal über 600 Seiten in deutscher | |
Übersetzung. Der letzte, ähnlich opulente Roman, „London NW“, ist schon v… | |
über drei Jahren erschienen. | |
So kommt man erst nach einer Weile darauf, dass das Gefühl von Déjà-vu, das | |
einen bei der Lektüre von „Swing Time“ begleitet, daher rührt, dass der | |
neue Roman zum Teil eine Variation auf den letzten ist. Die | |
Protagonistinnen haben gewechselt, ihre Lebenswege sind andere, auch die | |
Schauplätze sind nicht dieselben. Und dennoch wird man das Gefühl nicht | |
los, das alles zu kennen: dieses diffus melancholische „London NW“-Gefühl, | |
das den neuen Roman erneut grundiert. Im Zeitalter des florierenden | |
Serienwesens könnte „Swing Time“ auch „London NW 2“ heißen, wenn das … | |
Literaturbranche nicht so unüblich wäre. | |
Wie „London NW“ ist auch „Swing Time“ eine Freundinnen-Geschichte. Zwei | |
Mädchen wachsen im selben Viertel Nordlondons auf (Zadie Smith ließ | |
allerdings diesmal verlauten, die Gegend in „Swing Time“ sei eher ein state | |
of mind und auch geografisch nicht korrekt beschrieben), zwei äußerlich | |
ähnliche, nämlich im Hautton zartbraun gefärbte und dabei sommersprossige | |
Mädchen. Die Mutter der einen und der – in ihrem Leben nicht wirklich | |
vorhandene – Vater der anderen stammen aus Jamaica, der jeweils andere | |
Elternteil ist urenglisch. | |
## Irritierende Ich-Erzählerin | |
Beide Mädchen besuchen denselben Tanzunterricht und werden Freundinnen. | |
Während die eine, Tracey, große Begabung und Ehrgeiz an den Tag legt und | |
dabei von ihrer prolligen alleinerziehenden Mutter unterstützt wird, hat | |
das andere kleine Mädchen Normalmaß – und eine auf intellektuellem Gebiet | |
ehrgeizige Mutter, die ihrem englischen Normalo-Ehemann bald Lichtjahre in | |
der persönlichen Entwicklung voraus ist. | |
Dieses Mädchen ist die Ich-Erzählerin. Und es ist sicherlich kein Zufall, | |
dass sie den Roman hindurch namenlos bleibt, obwohl ihre Perspektive die | |
Story grundieren sollte. Aber worin diese Perspektive besteht, bleibt | |
unklar. Muss sie unklar bleiben, weil es letztlich eine Frau ohne | |
Eigenschaften ist, von der dieser Roman erzählt? Auch falls das zutreffen | |
sollte, gibt es noch vieles, das an der Erzählstimme nachhaltig irritiert. | |
Es ist ein wenig so, als hätte das Ich in diesem Roman keinen Raum, sich zu | |
entwickeln. Es sind die anderen Frauen, um die es geht. Tracey. Die Mutter. | |
Aimee, die Frau, für die das Ich als Erwachsene arbeitet. Die beiden haben | |
deutlich aufregendere Lebensläufe: Traceys Leben verläuft lange in einer | |
atemberaubenden Vorwärtsbewegung; trotz schwieriger Verhältnisse scheint | |
die begabte und schöne junge Tänzerin sich durchzusetzen in einer | |
konkurrenzbelasteten Szene. Woran es liegt, dass aus Traceys Karriere | |
nichts wird, darüber lässt sich anhand zahlreicher Andeutungen spekulieren. | |
Ganz anders verläuft das Leben der Erzählerinnenmutter (auch namenlos), die | |
sich aus kleinen Verhältnissen hocharbeitet in den Status einer anerkannten | |
Intellektuellen mit beträchtlichem politischem Einfluss. Und schließlich | |
die Sängerin Aimee: Durch einen glücklichen Zufall wird die Ich-Erzählerin | |
mit Anfang 20 zur persönlichen Assistentin eines Superstars. Fortan steht | |
ihr eigenes Leben ganz im Dienst der Launen einer anderen Frau, die auch | |
deshalb so erfolgreich geworden ist, weil sie immer tut, was sie will – | |
ganz im Gegensatz zur Erzählerin, die nicht einmal ansatzweise zu wissen | |
scheint, was sie selbst wollen könnte. | |
## Fremdbestimmtes Leben | |
Dass sie gut singen kann, wird in zwei beiläufigen Szenen zwar vorgeführt, | |
doch obwohl sie es zu lieben scheint, macht sie dann von dieser Fähigkeit | |
keinen Gebrauch mehr. Ihr Leben bleibt fremdbestimmt. Warum das so ist, ob | |
vielleicht auch die Tatsache eine Rolle spielt, dass sie es mit ihrer | |
Identitätsfindung als Tochter einer schwarzen Frau und eines weißen Mannes | |
schwerer hat als andere, bleibt ebenfalls offen für Spekulation. | |
Zwar ist diese Art offenen Erzählens leserfreundlich, weil man sich | |
jederzeit denken kann, was man will. Aber was ein Roman bei aller Offenheit | |
leisten sollte, ist, einen klaren Erzählstandpunkt einzunehmen (oder, falls | |
es mehrere gibt, diese voneinander unterscheidbar zu machen). Das tut | |
„Swing Time“ nicht. Oft schwebt die Erzählstimme spürbar meilenweit über | |
der erzählten Wirklichkeit des Romans, nimmt der Erzählung – auch dem | |
Protagonnistinnen-Ich selbst – gegenüber einen ziemlich altklugen Tonfall | |
an oder schweift regelrecht ins Essayistische ab. | |
Ja, wer spricht denn dann eigentlich? Vielleicht sogar die Autorin selbst? | |
An keiner Stelle wird die auffällige Diskrepanz zwischen der | |
orientierungslosen jungen Frau, die im Roman agiert, und dem superklugen | |
Über-Ich, das gleichsam von oben herab den Roman erzählt, thematisiert. | |
(Wie alt ist die Erzählerin jetzt? Wie kommt es bloß, dass sie auf einmal | |
den totalen Durchblick hat? Ist sie denn jetzt, im Moment des Erzählens, | |
endlich wer?) | |
Das hätte aber unbedingt geschehen müssen, um die perspektivische | |
Unstimmigkeit zu motivieren. Dass die Motivation ausbleibt, kann nur | |
bedeuten, dass diese merkwürdige erzählerische Unwucht der Autorin eben | |
einfach so passiert ist. Ein erstaunlich schweres Versäumnis. Hoffentlich | |
legt Zadie Smith in ihrer Tätigkeit als Professorin für kreatives Schreiben | |
strengere handwerkliche Maßstäbe an die Arbeiten ihrer Studierenden an. | |
4 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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