Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zadie Smiths neues Buch „London N-W“: Traurig im schönen Leben
> Freundschaft zweier Frauen: Zadie Smith zeichnet das Porträt einer
> Generation in einem multiethnischen Londoner Problemkiez.
Bild: „Zähne zeigen“ machte sie weltberühmt: Zadie Smith.
Als Zadie Smiths Romandebüt „Zähne zeigen“ im Jahr 2000 erschien, war der
Jubel groß. So jung die Autorin (Jahrgang 1975), so beherzt war ihr Zugriff
auf das Leben ihrer Protagonisten, der Buddies Archie Jones und Samad
Iqbal, deren Freundschaft der Roman über Jahrzehnte hinweg verfolgt,
während das multikulturelle Leben in ihren Familien Kapriolen schlägt. Ein
selbstbewusster, lebenskluger London-Roman war da gelungen; ein wahres
Erzähltalent hatte die Szene betreten.
Nun, 14 Jahre später, scheint Zadie Smith wieder ein großer Wurf gelungen
zu sein. „London N-W“, das in Großbritannien gefeiert und auch von der
deutschen Kritik ungeduldig herbeigeschrieben wurde, kommt, rein hypemäßig,
fast schon an „Zähne zeigen“ heran. Tatsächlich kehrt Smith hier zu der
Disziplin zurück, mit der sie ihren Ruhm begründete: dem Buddy-Roman.
Diesmal aber sind die Buddies weiblichen Geschlechts. Und während „Zähne
zeigen“ seine Helden durch ihr Erwachsenenleben begleitete, zeigt „London
N-W“ das Leben von Leah Hanwell und Keisha/Natalie Blake von der Kindheit
bis zur ersten großen Lebenskrise im Alter von Mitte 30.
Der Roman, zeitlich im Jetzt verankert, ist eine breit angelegte
Momentaufnahme mit Rückschau. Es ist Sommer, und anderswo in London feiert
man Karneval – nicht jedoch in Kilburn im Nordwesten der Metropole, einem
Stadtteil mit multiethnischer, meist ärmlicher Bevölkerung und vielen
sozialen Problemen. In Deutschland würde man Problemkiez sagen.
## Harter sozialer Aufstieg
Leah Hanwell und Natalie Blake sind hier aufgewachsen und, obwohl sehr
verschieden, seit jeher beste Freundinnen. Der Unterschied liegt nicht nur
in der Optik. Leah ist weiß, Natalie schwarz. Leah Sozialarbeiterin,
Natalie Anwältin. Leah war nie ehrgeizig, Natalie hat für ihren sozialen
Aufstieg hart gearbeitet, sogar ihren Namen von „Keisha“ in „Natalie“
geändert. Leah hat keine Kinder, Natalie zwei. Jede der Frauen aber hat ein
Geheimnis, das sie mit niemandem teilen kann, nicht einmal mit der besten
Freundin.
Wenn man die Geschichte dieser beiden als eine Art Generationenporträt
begreift, so ist es eine innerlich seltsam zerrissene Frauengeneration, von
der Zadie Smith hier erzählt: frei, sexuell selbstbestimmt, berufstätig und
hochqualifiziert, doch gleichzeitig tief unglücklich. Sowohl Leah als auch
Natalie sind finanziell unabhängig und sozial gut eingebunden. Doch beide
leiden unter den Unvollkommenheiten des eigenen Daseins und neiden der
jeweils anderen ihr scheinbar perfektes Leben.
Es besteht ein deutliches narratives Ungleichgewicht zwischen den beiden
Hauptfiguren. Leah, aus deren Perspektive der erste Teil des Romans erzählt
wird, tritt den Lesern ausschließlich als Erwachsene entgegen. Natalies
Leben dagegen, das die gesamte zweite Hälfte des Romans einnimmt, wird in
zahlreichen Rückblenden komplett nachvollzogen – angefangen bei jener Zeit,
als sie noch Keisha hieß und beide Mädchen in einer scheußlichen
Hochhaussiedlung wohnten.
## Felix, das Gegenbeispiel
Zwischen dem Leah- und dem Natalie-Teil findet sich eher unverhofft eine
dritte, kürzere Erzählung eingeschoben, die vom Leben und plötzlichen
Sterben eines gleichaltrigen Mannes handelt, Felix. Ein zufälliger Überfall
bringt ihm den Tod und verbindet sein tragisches Schicksal dabei, wenn auch
lose, mit dem Leben der Freundinnen.
Felix hat gerade ein gutes Geschäft gemacht; er ist weg von den Drogen und
stolz auf sich; er geht nach Hause zu seiner Freundin, in die er sehr
verliebt ist. Sein Tod ist vollkommen sinnlos. Aber bevor er stirbt, hat
Felix – der sicher nicht zufällig so heißt – immerhin eine Weile glückli…
gelebt. Vielleicht ist dies seine eigentliche Funktion im Roman: einen
inhaltlichen Kontrapunkt zu bilden zu den scheinbar erfolgreichen, aber
unglücklichen Existenzen von Leah und Natalie.
Vielleicht hat die Autorin ihn auch schlicht gebraucht, um etwas Sex, Drugs
und Rock ’n’ Roll in die ansonsten eher traurige, darüber hinaus praktisch
handlungslose Schilderung des Lebens zweier Großstadtfrauen zu bringen, die
sich an dem, was sie haben, nicht freuen können.
## Ein Erzähltalent darf alles
Eines lässt sich über Zadie Smith jedenfalls mit Entschiedenheit sagen: Ein
echtes Erzähltalent darf fast alles. Denn obwohl in „London N-W“ rein
nichts passiert, was eine größere Entwicklung in Gang setzen würde, und
auch wenn es schwerfällt, für seine hoffnungslos krisengebeutelten
Protagonistinnen Empathie aufzubringen, ist es gleichzeitig gar kein
Problem, den Roman gern zu lesen.
Smiths leichthändiger, spielerischer Umgang mit der Sprache – die
Übersetzung muss Schwerstarbeit gewesen sein –, der die Aufnahme aller
möglichen Soziolekte und kleinere graphologische Spielereien
miteinschließt, machen den Text als solchen zu einem sprachlichen Kunstwerk
von ganz eigenem Zauber.
Nur auf der inhaltlichen Ebene tritt der Roman eher schwerfüßig auf der
Stelle und bleibt auch in seinem Verhältnis zum titelgebenden Londoner
Stadtteil seltsam unentschieden. Weder hat Smith eine Liebeserklärung an
einen verkannten Problemkiez geschrieben, noch ist „London N-W“ eine
furiose Anklage gegen die prekären sozialen Verhältnisse in einem
Innenstadtbezirk. Das Kilburn dieses Romans ist ein Kiez, der genauso
unheilbar traurig scheint wie seine Bewohnerinnen.
24 Jan 2014
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Literatur
Buch
Roman
Roman
Franz Kafka
Fortsetzungsroman
Schwerpunkt Verbrecher Verlag
Independent
## ARTIKEL ZUM THEMA
Zadie Smiths neuer Roman „Swing Time“: Wer spricht denn hier?
In „Swing Time“ schreibt Zadie Smith wieder über den Alltag in Nordlondon.
Worin die Perspektive der Ich-Erzählerin besteht, bleibt unklar.
Essays von Zadie Smith: Kommt von Herzen
Im persönlich inspirierten Erzählen liegt ihre große Stärke. Das zeigt die
Autorin in ihren autobiografischen wie auch in sachlichen Essays.
Der Fortsetzungsroman: Kapitel 8: Ficken gegen den Endsieg
Der Brief vom 15. 5. 1944 ist der älteste, den ich von meinem Großvater
habe. Die Schrift ist ameisenklein und schnurgerade. Und der Brief ein
Zeugnis der Liebe.
Der Theatermacher René Pollesch: "Meine Texte sind Sehhilfen für die Wirklich…
Ein Gespräch über Arbeit und Liebe, Freundschaft und Einsamkeit sowie über
die Bühne als den passenden Ort für theoretische Überlegungen.
Wiederentdeckung von Christian Geissler: Ein Mangel an Gemütlichkeit
Christian Geissler war ein radikaler Autor, politisch und ästhetisch. Jetzt
ist er vergessen. Doch der Verbrecher Verlag wird seine Werke neu auflegen.
Literatur: Frei im Freundeskreis
Der kleine Hamburger Independent Verlag Minimal Trash Art wurde vor 15
Jahren von Leuten gegründet, die ihre Bücher und Tonträger unabhängig von
wirtschaftlichen Überlegungen veröffentlichen wollten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.