# taz.de -- Debatte Holocaust und Erinnerung: Scheinheilige Freunde der Juden | |
> Unser Autor ist Jude, lebt in Deutschland. Er weiß, welche Kräfte im Land | |
> Antisemitismus befördern und Hass gegen Minderheiten schüren. | |
Bild: Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin | |
Meine Großeltern waren Häftlinge in den KZs in Auschwitz und Dachau. | |
Deutschland hat fast alle ihre Verwandten vernichtet. Als sie nach der | |
Befreiung in ihre Heimatstadt in Südungarn zurückkehrten, mussten sie | |
erfahren, dass alles, was sie früher besaßen, geplündert wurde. Sie | |
erhielten von der Bundesrepublik als Entschädigung für ihr Leiden 2.000 | |
D-Mark pro Kopf. Der jugoslawische Zweig meiner Familie leistete Widerstand | |
und schloss sich der Partisanenarmee Titos an. Sie kämpften mit anderen | |
Juden aus der Region gegen die deutsche Besatzungsmacht auf dem Balkan. | |
Zwei Generationen später lebe und arbeite ich in Berlin, in der Stadt, in | |
der vor knapp 70 Jahren der Völkermord an den europäischen Juden und an | |
meinen Vorfahren in Ungarn geplant wurde. In der Stadt, in der die Massaker | |
an den jugoslawischen Zivilisten genehmigt wurden. | |
Manchmal habe ich ein unheimliches Gefühl, wenn ich übrig gebliebene | |
Wahrzeichen und Denkmäler der NS-Zeit sehe. Es brauchte Monate, bis ich | |
mich daran gewöhnen konnte, von meiner Berliner Wohnung zur Universität in | |
Potsdam mit der S-Bahn über den Wannsee fahren zu müssen. Dieser war mir | |
früher nur wegen der Wannsee-Konferenz bekannt: Hier kamen Reichsregierung | |
und SS-Behörden zusammen, um den Holocaust minutiös zu organisieren. | |
Trotzdem habe ich keine Berührungsängste mit nichtjüdischen Deutschen, weil | |
ich weiß, dass die Bundesrepublik nicht mehr das gleiche Land ist. Die | |
Bundesregierung bezeichnet den Kampf gegen Antisemitismus und das Gedenken | |
des Holocaust als Staatsräson. Der deutsche Staat unterstützt zahlreiche | |
jüdische Bildungsprojekte, viele staatliche Universitäten bieten jüdische | |
Studien an, das Jüdische Museum ist eins der meistbesuchten Museen Berlins. | |
Neben den Zentralratsgemeinden existieren unabhängige jüdische Gemeinden, | |
Ausbildungsstätten für Rabbiner und Kantoren; jüdisch-queere und | |
feministische NGOs, Künstlerkollektive, Zeitschriften. Zehntausende | |
Israelis und US-amerikanische Juden zogen in den letzten Jahren nach | |
Deutschland. Auch wenn hier das jüdische Leben nie wieder so lebhaft sein | |
wird wie vor dem Krieg, die Lage scheint sich langsam zu normalisieren. | |
Unter anderem als Folge der Vergangenheitsbewältigung. | |
## Die AfD posiert als Beschützer der Juden | |
Nun wurde beim Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung die | |
zentrale Rolle des Holocaust für die deutsche Geschichte infrage gestellt. | |
Konkret heißt es in These 18: „Der Völkermord an den europäischen Juden | |
soll weiterhin zentraler Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur sein.“ | |
Dieser These kann der Nutzer zustimmen – oder sie ablehnen. Die | |
Bundeszentrale soll hier nicht zur Rechenschaft gezogen werden, ihr | |
Programm spiegelt leider die Realität wider: Siebzig Jahre nach dem | |
Holocaust gibt es eine Partei, die sehr gute Chancen hat, in den Bundestag | |
einzuziehen – viele ihrer Mitglieder und Wähler stimmen dieser These zu. | |
Diese Partei ist die AfD, auch wenn sie in ihrem Programm offiziell keine | |
Abkehr von der Erinnerungskultur fordert. | |
Die „Alternative für Deutschland“ inszeniert sich zwar oft als Freundin der | |
Juden, es gibt aber zahlreiche Belege für ihre Scheinheiligkeit dabei: Sie | |
posiert als Beschützer der Juden gegen den Antisemitismus der Muslime, um | |
antimuslimisches Kapital rauszuschlagen – dabei verbreiten viele ihrer | |
Politiker selbst antisemitische Verschwörungstheorien. Sie leistet im | |
Europäischen Parlament Lobbyarbeit für die Siedlerbewegung im | |
Westjordanland – aber nur, weil sie die diskriminierenden Maßnahmen der | |
rechten Siedler als Blaupause für den Umgang mit den deutschen Muslimen | |
umsetzen wollen. Und sie bezeichnen das Holocaustmahnmal von Berlin als | |
„Schande.“ | |
## Juden sind nach wie vor bedroht | |
Vor 70 Jahren wurden nicht nur die Juden in den KZs vernichtet, sondern | |
auch Mitglieder anderer Minderheiten wie Roma, queere Menschen, Menschen | |
mit Behinderung. Auch heute sind nicht nur die Juden Ziel des Hasses. Der | |
Antisemitismusbericht des Bundestages beweist, dass 20 Prozent der | |
deutschen Bevölkerung für antisemitische Klischees offen sind. | |
Antisemitismus geht Hand in Hand mit Hass auf andere Minderheiten. | |
Antisemiten vertreten in der Regel auch eine allgemeine rassistischer | |
Haltung, wie 2016 durch die „Mitte-Studie“ belegt wurde. | |
Besonders Muslime und als Muslime wahrgenomme Personen werden heute in | |
Deutschland Ziel von Hass. Im Jahr 2016 gab es täglich neun Angriffe auf | |
Geflüchtete und von ihnen bewohnte Heime. Rechtspopulisten, die von allen | |
möglichen Kanälen eine Bühne bekommen, bieten eine theoretische | |
Rechtfertigung für Hass und Gewalt. Hass wird von ihnen gegen sämtliche | |
Minderheiten geschürt, und Juden sind nach wie vor bedroht. Das Gedenken an | |
den Holocaust sollte vor rassistischer Stimmungsmache warnen, deswegen darf | |
es nicht vernachlässigt werden. | |
## Ich bitte euch, wählen zu gehen | |
Hetze gegen Minderheiten kommt allerdings nicht nur von AfDlern. Sarrazin | |
und Buschkowsky sind keine AfD-Mitglieder, Palmer, Spahn, Kubicki und | |
Wagenknecht ebenfalls nicht. Die AfD hat es geschafft, den Diskurs so zu | |
etablieren und normalisieren, dass im Jahr 2017 nicht nur die zentrale | |
Rolle des Holocaust infrage gestellt werden kann, sondern dass es auch | |
keine einzige große deutsche Partei gibt, die Hetze gegen Minderheiten | |
innerhalb der eigenen Reihen nicht duldet. | |
Ich habe als ungarischer Staatsbürger in Deutschland kein Wahlrecht, so wie | |
zahlreiche andere jüdische und nichtjüdische Migranten in der | |
Bundesrepublik. Ich bitte euch trotzdem darum, am 24. September wählen zu | |
gehen. Zwar bietet keine der deutschen Großparteien eine Garantie gegen | |
Antisemitismus und Rassismus, aber alle sind besser als die AfD. Der Einzug | |
der Rechtspopulisten in den Bundestag kann durch eine höhere | |
Wahlbeteiligung verhindert werden. Als Bundestagspartei könnte die AfD | |
gesellschaftliche Diskussionen noch intensiver beeinflussen. Die AfDler | |
sind nicht die neuen Nazis, und wir stehen nicht vor einem neuen Holocaust. | |
Trotzdem würde diese neue Situation eine seit Jahrzehnten nicht gesehene | |
Gefahr für das friedliche Zusammenleben in Deutschland bedeuten. | |
4 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
armin langer | |
Armin Langer | |
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