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# taz.de -- Rechte Mythen im Buch „Finis Germania“: Zurück in die Diskursv…
> Buchpassagen spiegeln die Haltung der gesellschaftlichen Mitte vor
> zwanzig Jahren wieder. Heute dienen sie Rechten als willkommene Munition.
Bild: In den Augen von Rolf Peter Sieferle muss an einen Mythos nicht erinnert …
Seit Der Spiegel Ende Juli „Finis Germania“ von seiner
Sachbuch-Bestenliste gestrichen hat, ist die Debatte um den posthum
veröffentlichten Essayband des Historikers Rolf Peter Sieferle neu
entbrannt. Eigentlich schien über ihn und sein vermeintliches Skandalbuch
alles gesagt. Buch und Autor sind als zynisch, reaktionär, paranoid,
rechtsradikal, antisemitisch und geschichtsrevisionistisch bezeichnet
worden. Erstaunlicher aber als die Langlebigkeit der Debatte ist die
Geschichtsvergessenheit der Diskussion über Sieferles Buch.
Obwohl die Umstände der Entstehung des Bandes im Nachwort verschleiert
werden und offen bleiben muss, warum Sieferle ihn nicht zu Lebzeiten
veröffentlichte, kann kein Zweifel daran bestehen, dass weite Passagen des
Texts mindestens zwei Jahrzehnte alt sind. Das besonders umstrittene und
häufig zitierte Kapitel „Mythos VB“ (gemeint ist:
Vergangenheitsbewältigung) geht mit einer Gegenwart „fünfzig Jahre nach
großen Greueltaten“ ins Gericht – muss also etwa Mitte der neunziger Jahre
entstanden sein.
Hier forderte Sieferle beispielsweise sarkastisch die Abschaffung des Buß-
und Bettags, den er durch den 9. November als „Staatstrauertag“ ersetzt
sehen wollte. Der Buß- und Bettag ist freilich schon seit 1995 kein
bundesweiter Feiertag mehr. (Auch Helmut Kohls „Physiognomie“ gibt schon
länger, wie es an anderer Stelle heißt, keinen „Anlaß zu wohlfeilen
Satiren“ mehr – und „EG“-Äpfel hat wahrscheinlich seit 1993 niemand me…
gegessen.)
## Alte Theorien und Texte als „neu“ verkauft
Ein „sehr provokantes Buch der Geschichts- und Gegenwartsdeutung“, wie der
Spiegel-Redakteur Johannes Saltzwedel schrieb, der den Band auf die Liste
der Sachbücher des Monats von NDR und Süddeutscher Zeitung gebracht hatte,
kann man „Finis Germania“ demnach nur nennen, wenn man die Historizität des
Textes nicht zur Kenntnis nimmt.
Haben die Kritiker des Buchs die Stellen, die Auskunft über ihren
Entstehungszeitpunkt geben, überlesen oder ignoriert? Gewiss, dies wird dem
Kalkül des neurechten Publizisten Götz Kubitschek und dessen Verlag Antaios
entsprechen, der das Buch herausgebracht hat. Aber Sieferles Ausführungen,
die einige Jahrzehnte auf seiner Festplatte Staub angesetzt hatten, nun als
Kritik der heutigen Bundesrepublik zu lesen, ist ein ahistorisches
Missverständnis. Höchstens ist das Buch eine – inhaltlich wenig originelle
– Quelle zur Illustration des Diskurses über NS und Holocaust vor gut
zwanzig Jahren.
Denn Sieferles Angriff auf die „VB“ atmet den Geist der neunziger Jahre,
das Jahrzehnt der großen Deutungsdebatten über den Holocaust und das
Selbstverständnis der „neuen“ Bundesrepublik. Die Kontroverse um Philipp
Jenninger war noch in frischer Erinnerung, und der Historikerstreit über
die „Singularität“ von Auschwitz eine Sache, über die man noch meinte,
ernsthaft diskutieren zu müssen.
In kurzen Abständen folgten die Kontroversen, bei denen es nicht nur um
historische Deutung, sondern immer auch um die Selbstvergewisserung der
deutschen Gesellschaft ging: Schindlers Liste, Wehrmachtsausstellung, der
fünfzigste Jahrestag des 8. Mai 1945, Goldhagen-Debatte, die Debatte um ein
Berliner Holocaust-Mahnmal oder die Paulskirchenrede von Martin Walser.
Gerade im bürgerlichen und konservativen Lager – und keineswegs nur bei
Rechtsradikalen – rief all das teils heftige Abwehrreaktionen hervor.
Sieferle positionierte sich in seinem Essay eindeutig, wenn er sich
beispielsweise gegen den „fanatische[n] Eifer“ aussprach, mit dem „noch
immer Greise aufgestöbert werden“, die im NS an Kriegsverbrechen beteiligt
gewesen waren. Er hatte wohl eher Mitleid mit Erich Priebke als mit Oskar
Gröning.
Man kann „Finis Germania“ mit guten Gründen als rechtsradikales und
geschichtsrevisionistisches Traktat bezeichnen. Auch die antisemitischen
Untertöne sind nicht zu überhören, wenn Sieferle die im Holocaust
ermordeten Juden Europas die „ominösen sechs Millionen“ nennt. Aber im
Jahrzehnt seiner Entstehung waren Sieferles Positionen keineswegs nur am
lunatic fringe zu finden, und der damalige – wenn man so will –
Radikalismus der Mitte sollte in der Debatte über das Buch nicht unerwähnt
bleiben.
Rechtsradikale Debatten aus der Mitte
Zwei Beispiele sind besonders augenfällig. Sieferles Kritik am Umgang mit
der NS-Vergangenheit und der Konfrontation mit dem Holocaust in der
Bundesrepublik weist eine frappierende Ähnlichkeit mit der Paulskirchenrede
Martin Walsers – kein Rechtsradikaler, sondern einer der erfolgreichsten
deutschen Nachkriegsschriftsteller – auf, mit der er 1998 eine heftige
Debatte auslöste.
Walser geißelte bekanntlich den „grausamen Erinnerungsdienst“ sowie die
„Dauerpräsentation unserer Schande“. Sieferle wandte sich gegen die
Vergangenheitsbewältigung als „Staatsreligion“ und die „endlose liturgis…
Repetition einer immergleichen Geschichte“. Für Walser sollte Auschwitz
nicht mehr „Drohroutine“, „jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel
oder Moralkeule“ sein, Sieferle wehrte sich gegen Auschwitz als „Mythos“,
bei dem es sich um eine „Wahrheit“ handle, „die der Diskussion entzogen
werden soll“.
„Finis Germania“ liest sich aber auch wie eine Abwehrreaktion auf die
Universalisierung des Holocaust und die Erinnerung an ihn als globales
Phänomen, die ebenfalls in den neunziger Jahren einen großen Schub erlebte.
Sieferle nannte dies die „sich zurzeit formierende neue Religion der
Menschheit“ und meinte darin einen „Antigermanismus“ zu erkennen, der sog…
dem Antisemitismus gleichgesetzt werden müsste. Die Welt brauche den
deutschen „Teufel“ als „Negativfolie, vor der sie sich selbst rechtfertig…
kann“. Als Urheber dieser Entwicklung machte Sieferle „die Juden“
verantwortlich. Diese hätten „ihren ermordeten Volksgenossen in aller Welt
Gedenkstätten“ gebaut, „in denen nicht nur den Opfern die Kraft der
moralischen Überlegenheit, sondern auch den Tätern und ihren Symbolen die
Kraft ewiger Verworfenheit zugeschrieben wird“.
Auch Unterstellungen und Ängste dieser Art waren in den neunziger Jahren
keineswegs ein Monopol der Rechtsradikalen. Wenn auch der Ton ein anderer
war, löste gerade die ausgeprägte Holocaust-Erinnerung in den USA bei der
Regierung Helmut Kohls und deutschen Diplomaten ähnliche Abwehrreaktionen
aus. Und auch hier machte man „die Juden“ für eine vermeintlich gegen
Deutschland gerichtete Erinnerungspolitik verantwortlich.
Ähnliche Ansichten konnte man von Rudolf Augstein lesen. Er war davon
überzeugt, dass das Berliner Holocaust-Mahnmal als „Schandmal“ gegen das
„sich neu formierende Deutschland“ gerichtet war, man jedoch aus „Rücksi…
auf die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand“ es
hierzulande nicht wagen würde, diese „Monstrosität“ zu verhindern.
## Kluft zwischen Eliten und Bevölkerung
Die Debatte über Sieferles Buch hat diesen historischen Kontext vollkommen
ausgeblendet. Hier offenbart sich ein mangelndes Bewusstsein für die
Tatsache, dass sich der Diskurs über den Holocaust in den letzten zwanzig
Jahren fundamental gewandelt hat. Sicher, wären diese Passagen aus „Finis
Germania“ schon in den neunziger Jahren veröffentlicht worden, sie wären
nicht ohne Widerspruch geblieben.
Aber die hier vorgetragenen Ressentiments, Pauschal- und Vorurteile sowie
Abwehrreflexe gegen eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust waren damals
noch fest in vielen Köpfen der politischen und intellektuellen Elite der
Republik verankert. Im Gegensatz zu heute – wo sie öffentlich so aggressiv
fast nur noch von den Aktivisten und sogenannten Vordenkern der Neuen
Rechten und anderer Rechtsradikalen artikuliert werden.
Diesen dient Sieferles Schubladentext freilich nun als willkommene Munition
– nicht nur gegen die Erinnerung an den Holocaust, sondern auch gegen einen
angeblichen „Bevölkerungsaustausch“ in Deutschland und, ganz allgemein,
gegen das „System“. Das macht „Finis Germania“ nicht zu einem provokant…
Buch der „Gegenwartsdeutung“. Dennoch ist es brandaktuell, weil sein Erfolg
eine wachsende Kluft zwischen den politischen Eliten und Teilen der
Bevölkerung bezeugt, die es in den Neunzigern noch nicht gab: Während die
Feuilletons der Republik das Buch ächteten, wurde es durch tausendfache
Klicks bei Amazon.de zum Bestseller.
7 Sep 2017
## AUTOREN
Jacob S. Eder
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Lesestück Meinung und Analyse
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