| # taz.de -- Straßenstrich in Berlin: „Alle lügen sich in die Tasche“ | |
| > Der Straßenstrich rund um die Kurfürstenstraße erregt viele Gemüter. | |
| > Stephan von Dassel, grüner Bezirksbürgermeister von Mitte, fordert eine | |
| > Sperrzone. | |
| Bild: Berlin ist die einzige Stadt in Deutschland, die keine Sperrzone hat | |
| taz: Herr von Dassel, Sie sprechen sich für ein Verbot der | |
| Straßenprostitution in der Kurfürstenstraße und Umgebung aus. Für einen | |
| Grünen grenzt das an Tabubruch. Was hat Sie denn da geritten? | |
| Stephan von Dassel: Seit ich Bürgermeister von Mitte bin, werde ich mit | |
| Beschwerden von Anwohnern und Gewerbetreibenden konfrontiert. Mir werden | |
| Fotos zugeschickt, die aus Wohnungen heraus gemacht worden sind. Mein | |
| Vorstoß für eine Verbotszone mag rabiat klingen, aber so wie bisher geht | |
| das nicht weiter. Die Zustände auf dem Straßenstrich sind den Politikern | |
| schließlich seit Jahren bekannt | |
| Was ist auf den Fotos zu sehen? | |
| Kopulierende Menschen. Sich entleerende Menschen. Also Sexvollzug und | |
| Toilettengänge auf Spielplätzen, Schulhöfen und öffentlichem Straßenland. | |
| Die Toleranz, die Auswirkungen des Strichs zu dulden, ist bei einem Teil | |
| der Bevölkerung ganz offensichtlich erschöpft. Manchmal wird auch heißes | |
| Wasser vom Balkon geschüttet, um die Prostituierten zu vertreiben. Es ist | |
| Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass das nicht eskaliert. | |
| Wo findet das statt? | |
| Die Kurfürstenstraße und die Umgebung in Richtung Magdeburger Platz sind | |
| aus meiner Sicht besonders betroffen. Die Bezirksgrenze verläuft ja so, | |
| dass die Kurfürstenstraße und beide Bürgersteige zu Mitte gehören. In der | |
| angrenzenden Froben- und Bülowstraße findet auch Prostitution statt. Die | |
| Beschwerden bekommt dann meine Kollegin Frau Schöttler, | |
| Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg. | |
| Viele Menschen, die in dem Kiez leben und arbeiten, haben mit dem Strich | |
| überhaupt keine Probleme. | |
| Klar, einige sehen das weniger kritisch. Die haben dann aber vielleicht | |
| auch nicht mehrfach am Tag kopulierende Paare bei sich im Hinterhof oder im | |
| Hausflur. | |
| Durch den Park am Gleisdreieck und die Wohnbebauung in der Flottwellstraße | |
| hat die Gegend eine Aufwertung erfahren. Auch in der Kurfürstenstraße wird | |
| heftig gebaut. Ihr Plädoyer für ein Sperrgebiet klingt, als würden Sie sich | |
| zum Sprachrohr der neuen Eigenheimbesitzer machen. | |
| Ich mache mich nicht zum verlängerten Arm der Investoren. Aber wir können | |
| doch nicht unhaltbare Zustände akzeptieren, um die Mieten niedrig zu halten | |
| und einen Kiez vor Gentrifizierung zu bewahren. Das kann nicht Ziel der | |
| Politik sein. | |
| Klagen hat es auch früher immer mal wieder gegeben. Viele der | |
| Prostituierten kommen aus Osteuropa. Streetworkerinnen und Sprachmittler | |
| sind eingesetzt worden, um die Frauen zu angemessenem Verhalten | |
| aufzufordern. Darum noch einmal: Was ist die neue Qualität? | |
| Wir hören von der Kirchengemeinde, was die für Probleme mit ihren Eingängen | |
| haben. Der Geschäftsführer von Möbel Hübner in der Genthiner Straße | |
| schildert mit relativ drastischen Worten, wie es bei ihm auf dem Parkplatz | |
| am Montagmorgen nach einem Wochenende aussieht. Oder wenn Sie mit einer | |
| Mitarbeiterin von „Olga“ sprechen … | |
| … das ist eine Beratungsstelle für drogenabhängige Frauen und Prostituierte | |
| in der Kurfürstenstraße. | |
| Mit einer Mitarbeiterin von „Olga“ war ich einen Abend lang unterwegs. Nach | |
| allem, was ich da mitbekommen habe, habe ich nicht die Hoffnung, dass man | |
| die Frauen mit Sozialarbeitern dergestalt erreichen kann, dass sie auf dem | |
| Spielplatz keinen Sex mehr haben. Es fehlt ja auch eine Alternative. Im | |
| Unterschied zu früher gibt es in der Gegend kaum noch Freiflächen. Dazu | |
| kommt, dass wir da eine Freierklientel haben, der alles egal ist. Das | |
| Einzige, was zählt, ist: „Super, 20 Euro. Wenn ich Glück habe, auch noch | |
| ohne Kondom!“ Außerdem hat es dort unlängst auch wieder einen größeren | |
| Gewaltvorfall gegeben. | |
| Auch das ist nichts Neues. | |
| Aus meiner Sicht hat die Kriminalität, bedingt durch das Milieu von | |
| Prostitution und Zuhältern, zugenommen, ohne dass ich da ein Fachmann bin. | |
| Bestätigt das die Polizei? | |
| Mit der Polizei habe ich darüber noch keine intensiven Gespräche führen | |
| können. | |
| Glauben Sie wirklich, dass ein Sperrbezirk die Lösung ist? | |
| Irgendwann muss man sich eingestehen: Wir haben unglaublich viel versucht, | |
| aber die Situation hat sich nicht verbessert. Trotzdem sagen alle weiter: | |
| „Verbote bringen nichts. Wir brauchen noch zwei Sozialarbeiter mehr.“ Aber | |
| auch diese zwei Sozialarbeiter mehr werden an den Verhältnissen vor Ort | |
| nichts ändern. | |
| Wen meinen Sie mit „alle“? | |
| Die Politik. Den alten Senat. Den neuen Senat … | |
| … an dem die Grünen ja beteiligt sind … | |
| … das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg. Alle lügen sich in die Tasche. Aus | |
| meiner Sicht könnte ein Verbot durchaus eine Lösung darstellen, weil es die | |
| Straßenprostitution erst mal zurückdrängt. | |
| Not in my backyard – Sankt-Florians-Prinzip nennt man das. | |
| Man müsste gucken, wohin sich das verdrängt. Selbst „Hydra“ … | |
| … die Prostituierten-Selbsthilfeorganisation … | |
| … sagt, in Verbotszonen gibt es weniger Prostitution. Alle Großstädte in | |
| Deutschland haben weitreichende Sperrzonen. Dort findet zwar immer noch | |
| Prostitution statt, aber nur noch 20 Prozent im Vergleich zu vorher. | |
| In der Vergangenheit waren es zumeist konservative Politiker, die | |
| Sperrzonen gefordert haben. Auch der frühere CDU-Innensenator Frank Henkel | |
| gehörte dazu. Alle wurden von den Bezirksämtern und dem Senat müde | |
| belächelt. | |
| Das weiß ich alles. Auch an den Reaktionen habe ich das schon mitgekriegt. | |
| Ich habe die Diskussion auch deshalb losgetreten, um uns alle zu zwingen, | |
| ehrlich zu den Betroffenen zu sein. | |
| Wie soll das gehen? | |
| Die Politik muss Farbe bekennen. In meinen Augen gibt es drei | |
| Möglichkeiten: Entweder wir richten ein kommunales Bordell in der | |
| Kurfürstenstraße ein. Oder wir erlassen eine Sperrzone. Oder wir sagen den | |
| Anwohnern: Regt euch nicht auf, wir können das nicht lösen. | |
| Man könnte auch sogenannte Verrichtungsboxen auf der Straße aufstellen, wie | |
| es andere Städte zum Teil tun. | |
| Auch das könnte man machen: Wohnwagen aufstellen und Verrichtungsboxen, die | |
| die Kommune bezahlt. | |
| Das klingt ja fast wie Zurückrudern. | |
| Da irren Sie sich. Mein Ziel ist, dass der Sexvollzug nicht mehr in der | |
| Öffentlichkeit stattfindet. Den Antrag eines privaten Geschäftsmannes im | |
| Sexkaufhaus LSD an der Potsdamer Straße/Ecke Kurfürstenstraße, ein | |
| sogenanntes Laufhaus – ein Großbordell einzurichten –, hat die Politik ja | |
| unisono abgelehnt, mit der Begründung: Die Prostitution in dem Gebiet würde | |
| sich damit verfestigen. Ein Verbot erscheint mir als praktikabelste Lösung. | |
| Berlin ist die einzige Stadt, die sagt, wir brauchen das nicht. Diese | |
| vermeintliche Freiheit wird auf dem Rücken der Leute ausgetragen, die die | |
| Straßenprostitution vor ihrer Haustür haben. | |
| Sie haben den Senatsverwaltungen für Gesundheit und Frauen und der | |
| Bezirksbürgermeisterin Schöttler am 8. August einen Brief geschrieben. | |
| Warum? | |
| Meine Intention war, mein öffentliches Vorpreschen in dieser sensiblen | |
| Frage zu erklären. Aber das Schreiben hat auch damit zu tun, dass das neue | |
| Prostituiertenschutzgesetz umgesetzt werden muss. | |
| Das Gesetz ist seit dem 1. Juli in Kraft, bis Ende des Jahres gilt eine | |
| Übergangsregelung. Was ist das Problem? | |
| Das Problem ist, dass das Land Berlin saumäßig schlecht darauf vorbereitet | |
| ist. Alle Frauen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, müssen sich | |
| offiziell registrieren lassen. Bei welchem Amt und wo die gesundheitliche | |
| Beratung stattfinden soll – nichts ist geklärt. Ich bin dafür, die | |
| Beratungspflicht zu zentralisieren. Diese sollte auch dazu genutzt werden, | |
| den Frauen zu sagen, an welchen Orten sie anschaffen gehen dürfen und wo | |
| nicht. Nach der Sommerpause müssen diese Fragen sofort entschieden werden. | |
| Sie haben auch vorgeschlagen, zusammen mit Tempelhof-Schöneberg eine | |
| Anwohnerumfrage in dem betroffenen Viertel durchzuführen. | |
| Dann hätten wir endlich mal einen Überblick, wie viele Leute das als große | |
| Beeinträchtigung empfinden. Ich weiß ja gar nicht, ob ich es mit einer | |
| schweigenden Mehrheit zu tun habe, die sich nur nicht zu Wort meldet, weil | |
| sie von der Politik eh keine Verbesserungen erwartet. Oder sind es wirklich | |
| nur die fünf Haushalte, die das direkt vor der Tür haben und die | |
| Prostitution schon allein aus moralischen Gründen ablehnen? Die Umfrage | |
| könnte sowohl Argumente für als auch gegen einen Sperrbezirk erbringen. | |
| Was für Reaktionen haben Sie auf Ihren Vorstoß bekommen? | |
| Die üblichen: viel zu kurz gegriffen. Das sei ja nur eine Verdrängung. | |
| Wer sagt das? | |
| Meine Partei sagt das. Frau Schöttler sagt das. Die beiden Sprecher der | |
| Senatsverwaltung Inneres und Gesundheit sagen das. Gut, sage ich dann. Dann | |
| möchte ich bitte euer Konzept hören – außer beschwichtigen. | |
| Ihre grünen Parteifreunde wirken alles andere als amüsiert. | |
| Einige haben mich stark kritisiert. Manche denken wohl: Dassel kommt aus | |
| einem verklemmten Elternhaus. Wenn der einen nackten Hintern sieht, kriegt | |
| er die Krise. (lacht) Ja, es gibt viel Kritik. Ich bin auch gewarnt worden: | |
| Damit bedienst du die AfD und die CDU. Frank Henkel ist in Mitte ja | |
| Direktkandidat bei den Bundestagswahlen. Außer dem Straßenstrich hat er | |
| nicht viele Themen, mit denen er punkten kann. | |
| Ihr Plädoyer für eine Sperrzone ist also auch Wahlkampf? | |
| Wenn Sie so wollen. Ich lasse ungern den Eindruck entstehen, dass der grüne | |
| Bürgermeister von Mitte vor Problemen aus ideologischen Gründen die Augen | |
| verschließt. | |
| 22 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Plutonia Plarre | |
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