# taz.de -- Halbzeitbilanz der Legislaturperiode: Viel Bewegung, wenig Spiel | |
> Die Konstellation in der Bremischen Bürgerschaft hat sich zur Hälfte der | |
> Wahlperiode stark verändert. Der große Bruch bleibt aus – mangels | |
> Perspektiven. | |
Bild: Parlamentspräsident Christian Weber hat das Stühlerücken gut im Blick | |
BREMEN taz | Ein bisschen Wechsel ist normal, auch während der Legislatur. | |
Aber dass eine solide Mehrheit für die Regierungskoalition bis zur | |
Halbzeitpause von vier auf bloß noch eine Stimme abschmilzt – das kommt | |
selten vor. Zwei Jahre nach der Konstituierung hat sich die Zusammensetzung | |
des Parlaments infolge beruflicher Karriere und juristischer | |
Auseinandersetzungen erheblich verändert – und infolge von Parteiwechseln. | |
Eine politische Tendenz lässt sich daran nicht ablesen. | |
Weltanschauliche Motive sind nicht mal bei den ParteiwechslerInnen zu | |
erkennen: Bernd Ravens, Deutschlands dienstältester Landtagsabgeordneter, | |
ist mit Beginn der Legislatur aus der CDU aus, nach einem Jahr dann in die | |
SPD eingetreten und hat sich so immerhin das Recht erkämpft, im Landtag | |
Spitzen gegen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) abzuschießen. | |
Jenseits davon bleibt sein politischer Output ideologiearm. Turhal Özdal, | |
im Frühjahr 2016 von den Grünen in die CDU gewechselt, hat seither keine | |
Spuren mehr in der Parlamentsdatenbank hinterlassen: keine Rede, kein | |
Antrag, kein Zwischenruf – nichts. | |
Und Susanne Wendlands Abgang aus der Grünenfraktion ist von deren | |
Vorsitzenden Maike Schaefer so bemerkenswert schroff kommentiert worden, | |
dass man eher auf zwischenmenschliche als inhaltliche Differenzen tippt. | |
„Dieser Austritt ist für uns persönlich kein Verlust“, hatte sie | |
unmittelbar nach Erhalt von Wendlands Mitteilung am 22. Mai 2017 erklärt. | |
Wendland habe sich „bereits seit 13 Monaten ohne nähere Angaben nicht mehr | |
für die Fraktion und die BürgerInnen“ engagiert. | |
Es wirkt, als verursache eher eine tektonische als eine politische Dynamik | |
diese Verschiebungen: Unbedeutend werden sie gewesen sein, wenn das | |
Erdbeben ausbleibt. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht da nun etwas | |
Druck rausgenommen: Anfang Juli hat es das Bremer Wahlergebnis bestätigt, | |
indem es die Klage der AfD und ihres Bremerhavener Spitzenkandidaten Thomas | |
Jürgewitz nicht zur Beratung zuließ. | |
## Ein verpasster Treppenwitz | |
Jürgewitz, vor der Wahl eigens aus dem Umland wieder in sein Bremerhavener | |
Elternhaus umgesiedelt, war dort im Mai 2015 denkbar knapp an der | |
Fünfprozenthürde gescheitert – mit 4,99 Prozent. Er hatte dann, in erster | |
Instanz erfolgreich, das Ergebnis angefochten. Die vom Staatsgerichtshof | |
angeordnete überwachte Neuauszählung im Sommer 2016 jedoch hatte | |
rechnerisch wieder das alte Ergebnis bestätigt, und Karlsruhe befand nun: | |
Jürgewitz muss draußen bleiben. Der Verwaltungswirt belehrte darob die | |
Verfassungsrichter, ihre Entscheidung wäre „grob rechts- und | |
verfahrensfehlerbehaftet“, aber Folgen hat das keine: „Der Beschluss ist | |
unanfechtbar“, steht unter der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. | |
Ein Mandat für Jürgewitz hätte auch eine Art Treppenwitz bedeutet: Mit ihm | |
wäre die AfD landesweit in Fraktionsstärke ins Parlament eingezogen – wenn | |
sie sich nicht schon kurz nach der ersten Sitzung entzweit hätte. Die | |
ernstere Folge: Es hätte die SPD ein Mandat und damit der Koalition die | |
Mehrheit gekostet: Die Bürgerschaft ist laut Bremischem Wahlgesetz auf 83 | |
Sitze beschränkt, einer pro 8.000 BürgerInnen, und das ist ein ziemlich | |
üppiger Schlüssel, etwa im Vergleich zu Hamburg, wo ein Mandat 15.000 | |
BürgerInnen repräsentiert. | |
Knappe Mehrheiten können auch disziplinieren. Allerdings stellt sich dabei | |
die Frage, was der Einzelne davon hat, sie mit aufrechtzuerhalten: Der für | |
Bremen schwierige Sanierungskurs und die daraus folgende Haushaltsdisziplin | |
bedeuten für alle Abgeordneten, dass es mit dem eigenen Spezialprojekt kaum | |
etwas wird. Stillstand aushalten zu müssen – dafür ist keiner in die | |
Politik gegangen. | |
## Unbeliebter Fraktionschef | |
Das hat Folgen fürs Binnenklima der Koalitionsfraktionen. Am ehesten | |
zählbar bei den SozialdemokratInnen: Im Frühjahr 2016 soll der Vorsitzende | |
Björn Tschöpe eine Palastrevolte gerade noch abgewendet haben, jetzt im | |
Juni hat er bei der Wiederwahl nur noch 18 der 29 Stimmen bekommen. Dass er | |
sich sowohl mit der faktischen Oppositionsführerin Kristina Vogt (Die | |
Linke) als auch mit dem Chef der Bürgerschafts-CDU Thomas Röwekamp besser | |
versteht als mit der grünen Fraktionsvorsitzenden, ist ein offenes | |
Geheimnis. | |
Zum großen Krach fehlt allerdings etwas: eine Perspektive. Es drängt sich | |
einfach keine Option auf: Weder sich als EinzelabgeordneteR abzustrampeln | |
noch ein Wechsel in die Opposition könnte ja die frustrierende Immobilität | |
überwinden. Anders als vor zehn Jahren muss zwar die FDP nicht liquidiert | |
werden und Die Linke hatte unter Vogts Führung schon vergangene Legislatur | |
gelernt, sich auf ihre Weise mit konstruktiver Kritik am | |
residual-politischen Prozess Bremens zu beteiligen. Aber Bedarf an Unruhe | |
haben die in ihren Fraktionen deshalb trotzdem nicht, und eine neue | |
Mehrheit würde sich mit ihnen auch nicht herstellen lassen. | |
## CDU würde Land schließen | |
Die CDU dagegen, mit der die Sozialdemokraten doch eine neue Mehrheit | |
zustande brächten, zeigt hingegen weder Initiative noch Ehrgeiz. Bei den | |
Haushaltsberatungen, wo verwalterische Schwerpunkte gesetzt werden, setzt | |
die größte Oppositionspartei konsequent auf pauschale Ablehnung. Und das | |
zusätzliche Geld, das Bremen durch die Neuregelung der | |
Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab 2020 erwartet, will ihr Chef komplett für | |
den Schuldendienst verwenden – dann könnte er das Land auch schließen. | |
Insofern hat im Laufe der Wahlperiode selbst der rechtspopulistische Jan | |
Timke (Bürger in Wut) mehr fürs standing des Parlaments erreicht als der | |
Oppositionsführer, indem er den Bausenator vor den Staatsgerichtshof | |
zerrte. | |
Zwar sah der den Vorwurf der Falschinformation nicht bestätigt, allerdings | |
sei die angefochtene Regierungsantwort auf eine parlamentarische Anfrage | |
Timkes missverständlich geblieben – infolge ihrer Kürze. Der Befund deckt | |
sich damit, dass aus Senatskreisen gelegentlich hinter vorgehaltener Hand | |
gewitzelt wurde, Anfragen der Opposition seien „möglichst kurz und | |
verletzend“ abzutun. Dieser Praxis hat das Landesverfassungsgericht ein | |
Ende bereitet: „Zutreffend und vollständig“ müsse die Regierung antworten. | |
Und „in jedem Fall“ habe der Senat dafür zu sorgen, dass „die Befriedigu… | |
des Kerns des Informationsverlangens sichergestellt“ sei, so das Urteil. | |
„Wenn eine Frage interpretationsbedürftig ist“, sei bei ihrem Urheber | |
nachzuhaken, was er denn genau wissen wollte. | |
## Scharren mit den Hufen | |
Was bleibt, ist ein eher anarchischer Reiz, per Austritt eine | |
Landesregierung stürzen und so etwas bewirken zu können: Die Macht der | |
einzelnen Abgeordneten wächst, wenn die Mehrheit schrumpft. Um den Rest der | |
Wahlperiode zu überstehen, müssen die Koalitionäre ihren Fraktionen was | |
bieten. „Wenn man Veränderung will, muss man sie einfordern – auch vom | |
eigenen Senat“, hat Maike Schaefer kürzlich im Weser-Kurier klar gemacht, | |
dass sich das Verhältnis zwischen Regierungsfraktionen und Regierung neu | |
austarieren wird: Die Abgeordneten scharren mit den Hufen. | |
Eine Enquete-Kommission, in der die Zukunftsfrage verhandelt wird, was mit | |
den höheren Zuweisungen ab 2020 gezaubert werden kann, wäre das klassische | |
Mittel gewesen, diese Energien zu kanalisieren. Doch kurz vor der | |
Sommerpause hatte Bürgermeister Sieling das Thema bereits dem Parlament und | |
den klassischen Organen der Meinungsbildung entzogen: Eine | |
„Zukunftskommission“ soll laut Regierungserklärung für „eine breit | |
getragene Verständigung darüber“ sorgen, „auf welche Weise wir ab dem Jahr | |
2020 den Weg der Stärkung des Zusammenhalts“ gehen etc. pp. Dem Gremium | |
gehören der Senat, Lobby-Gruppen von der Handelskammer bis zum | |
Zentralelternbeirat sowie „jeweils zwei externe Expertinnen und Experten | |
pro Perspektivthema“ an. Eine Beteiligung durch Abgeordnete oder Parteien | |
ist dabei nicht vorgesehen. Müssen die sich halt selbst was zum Spielen | |
ausdenken. | |
24 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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