# taz.de -- Wolfsburg und Volkswagen: Wo das Leben sicher und stabil ist | |
> Ein Herz, darin zwei Buchstaben: VW. Wie gehen die Bewohner der Stadt, | |
> die von und mit dem Konzern lebt, mit dem Dieselskandal um? | |
Bild: Alles wie immer in Wolfsburg? | |
Wolfsburg taz | Vielleicht reicht ja der Blick in das Archiv des | |
Tattoo-Studios, um Wolfsburg zu verstehen, vielleicht sogar dieses eine | |
Motiv: ein Backsteinbau, aus dem vier Schornsteine emporragen, weißer | |
Rauch, dazu das Logo des Unternehmens VW. Darunter die Zahl 1053817. Eine | |
Stammnummer. Die bekommt jeder, der bei Volkswagen arbeitet, schon für den | |
ersten Ferienjob. Man behält sie ein Arbeitsleben lang. Das qualmende | |
VW-Werk und die Stammnummer prangen auf dem Oberarm eines Mannes als | |
Tattoo. | |
Gerade einmal 350 Meter liegt das Tattoo-Studio Culture Shocks vom Werk | |
entfernt. Wer einen Termin beim Chef haben will, wartet dafür auch mal | |
Jahre, reist aus dem Ausland an, um seine Kunst tragen zu können. Die von | |
VW kommen hierher, um sich Tachometer auf ihren Körper stechen zu lassen | |
oder einen brennenden Golf auf einem Hügel aus Totenschädeln. | |
Klar, für das Geschäft ist VW gut, sagt der junge Mann mit Bart und Käppi, | |
der am Tresen steht. Sein Namen soll nicht in der Zeitung stehen, denn was | |
er dann sagt, klingt zweifelnder: Wenn der Opa, der Vater und die Mutter | |
schon bei VW arbeiten, die Sicherheit und Stabilität vorleben, die Kinder | |
im Takt der Schichten großziehen, welche Visionen vom eigenen Leben bleiben | |
dann noch den Jungen? „Die träumen davon, Unterabteilungsleiter zu werden, | |
dann bekommen sie tausend Euro mehr“, sagt der Bärtige. „Wie kannst du dich | |
weiterentwickeln – dich selbst und dein Umfeld?“ | |
Sicherheit und Stabilität. Das ist es, was die Konzernzentrale über die | |
Stadt hinweg ausstrahlt. Wohnblocks, die mit den Verkaufszahlen der Autos | |
in die Höhe geschossen waren. Straßen, die nach Porsche oder früheren | |
VW-Chefs benannt sind; Krankenkassen und Immobilienbüros tragen gut | |
sichtbar die Namen der Automarken, irgendwo ist immer ein Schornstein des | |
Werks zu sehen. | |
## Empört? | |
In Wolfsburg ballt sich der große Skandal um manipulierte Abgaswerte und | |
Kartellabsprachen auf wenigen Quadratkilometern. Fast 60.000 Menschen | |
arbeiten hier für VW, noch mehr für die Zulieferer. Über die Hälfte der | |
Einwohner also. Wer sein Leben für VW aufbraucht, hat allen Grund, empört | |
zu sein. Das sind die Wolfsburger doch – oder? | |
An einer Tankstelle unweit der Dieselstraße halten die glänzenden Neuwagen | |
zum ersten Mal, nachdem Käufer sie abgeholt haben. Diesen Tag zelebriert | |
VW. Die Firma lädt Kunden ein, im Fünf-Sterne-Hotel zu übernachten, im | |
Sterne-Restaurant zu essen oder eine Zirkusvorstellung auf dem VW-Gelände | |
zu besuchen. Hier, an der Tankstelle, sind die Besitzer zum ersten Mal | |
alleine mit ihrem Auto. Man erkennt sie an ihren Händen, die am Gurt | |
vorbeigreifen oder über Amaturen streichen. Helmut Neumann ist da geübter. | |
Neumann befüllt ein grünes Beatle-Cabriolet. „R-Linie, 110 KW, also 150 PS, | |
zwei Liter, tankt Super“, sagt er. Es ist die Bestellung einer Stammkundin, | |
einer Adeligen, die Wert darauf legt, dass die Farbe ihres Autos zum Wappen | |
der Familie passt und nur Neumann ihr den Neuwagen bringt. Fast jedes Jahr. | |
„Das ist schon was anderes, ein neues Auto zu fahren“, sagt Neumann, „nur | |
das Verdeck ist etwas laut, wenn man schnell fährt“. Das Verdeck. | |
Ausgerechnet. Auch darüber soll sich das Kartell abgesprochen haben. | |
Neumann fährt Neuwagen nach Berlin, an den Bodensee, nach England und | |
vergangene Woche nach Frankreich. Er beliefert Fußballspieler, Trainer, | |
Prominente und holt geleaste Wagen wieder ab. „Wie der aussah“, sagt er | |
über das Auto, das ein Schauspieler gefahren hat, „das würde ich mich nicht | |
trauen“. | |
## Jetzt ist erst mal Stau | |
Hört er bei seinen Stammkunden Zweifel an VW? „Die lassen sich nicht davon | |
abbringen.“ Und er? „Für eine andere Marke würde ich den Job nicht machen… | |
Neumann ist eigentlich Rentner. Aber durch diesen Job darf er auch schon | |
mal Bentley fahren, 600 Kilometer von München bis Wolfsburg, zuletzt im | |
Januar. Wie das war? „Ich bin im Schneegestöber stecken geblieben.“ | |
Schichtwechsel, 14 Uhr. Vor Tor 17 halten Autos. Sie spucken Menschen in | |
Arbeitshosen und Kapuzenpullis aus, Männer mit Plastiktüten in der Hand, | |
wenige Frauen, noch weniger Hemdenträger oder Anzüge. Sie übergeben den | |
Takt der Stadt an diejenigen, die Feierabend machen. Hunderte, die sich in | |
ihre Autos setzen und nach Gifhorn oder Braunschweig fahren. Jetzt ist erst | |
mal Stau. | |
Dort, wo der Verkehr wieder flüssiger wird, am Rande eines Schrebergartens, | |
steht Ottavio Lo Bianco hinter dem Holztresen der Gaststätte „Sonnenschein | |
bei Otto“. Früher hat er zum Ende der Werksschicht Bier vorgezapft, heute | |
sitzen hier zu wenig Menschen, um ein Kartell zu bilden. | |
## 12 Kinder mit einem VW-Gehalt | |
Lo Bianco veranstaltet Familienfeiern. „Mein Vater ist nur mit einem | |
Schuhkarton nach Deutschland gekommen, mit einer Schnur umwickelt. So“, | |
sagt er und mimt, er trage einen Karton in seiner Hand. Das war in den | |
1960ern und sein Vater Gastarbeiter aus Sizilien. In Wolfsburg standen | |
Baracken für die Italiener, später dann moderne Wohnblocks, in die Lo | |
Biancos Mutter mit ihren zwei ältesten Kindern nachzog. Insgesamt bekam sie | |
12 Kinder, so viele lassen sich mit einem VW-Gehalt durchbringen. | |
Lo Bianco hat sich mit 22 selbstständig gemacht. Er ist der Einzige aus der | |
Familie, der nie im Werk gearbeitet hat. Wird er krank, verdient er nichts. | |
Brauchen seine Geschwister mehr Geld, legen sie einfach ein paar | |
Nachtschichten im Werk ein. | |
Hinter dem Tresen klebt ein Herz, darin zwei Buchstaben: VW. 65.000 dieser | |
Aufkleber hatte ein Optiker davon drucken lassen, als der Abgasskandal 2015 | |
hochkochte, inzwischen klebt er vielerorts in der Stadt. | |
Lo Bianco fuhr auch einen Diesel, zum Glück nur geleast, er hat ihn | |
zurückgegeben. „Die anderen Firmen sind doch viel schlimmer!“, sagt er. Die | |
Betrügereien des Autokonzerns ein Skandal? Hier will man das nicht so | |
sehen. Was sollten sie auch machen in Wolfsburg? „Wenn die untergehen, | |
gehen wir doch alle unter.“ | |
27 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Christina Schmidt | |
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