# taz.de -- Pariser Fotoausstellung über Autos: Gebärmutter aus Stahl und Glas | |
> Der Charme schlecht geflickter Wagen: Die Fondation Cartier zeigt eine | |
> Bestandsaufnahme zum Zusammenspiel von Fotografie und Auto. | |
Bild: William Eggleston, Los Alamos series, 1974 | |
Die Schönen und die Reichen fuhren Mitte des letzten Jahrhunderts bei | |
Sonnenschein an der Côte d’Azur, also in Nizza, Saint-Tropez oder Antibes | |
gerne im Cabrio herum. Und wenn sie dann rückwärts ausparkten, bot sich den | |
Fotografen eine wunderbare Gelegenheit, sie ganz nah und unverstellt zu | |
erwischen. Denn dann schauten Alain Delon am Steuer seines Ferrari Spider | |
und Jane Fonda als Beifahrerin oder in gleicher Konstellation Sacha Distel | |
und Brigitte Bardot direkt in die Kamera von Edward Quinn, der sich hinter | |
dem Auto aufgebaut hatte. | |
Quinns zauberhafte Paparazzofotos aus einer Zeit, als es noch Filmstars gab | |
statt Promis und Celebrities, sind Teil der bislang wohl umfangreichsten | |
Bestandsaufnahme zum Zusammenspiel von Fotografie und Auto. Gemeinsam mit | |
dem Fotografen und Filmemacher Philippe Séclier hat sie der Verleger, | |
Fotograf und Kurator Xavier Barral für die Fondation Cartier in Paris | |
unternommen, wobei die Initiative von Séclier, als ehemaligem Chefredakteur | |
von AUTOhebdo ausging. Dass Letzterer – der von einem dezidiert dem | |
Automobilrennsport gewidmeten Magazin herkommt − die Frage eines Kollegen, | |
welches Auto er fahre, mit „keines“ beantwortete und bekannte, in Paris mit | |
dem Fahrrad unterwegs zu sein, erklärt sein Anliegen einer | |
Bestandsaufnahme. | |
Denn obwohl nichts das 20. Jahrhundert so sehr geprägt hat wie das Auto, | |
scheint seine Geschichte – wie wir zur Genüge wissen – mit dem 21. | |
Jahrhundert schon wieder ans Ende gelangt zu sein. Kaum weniger prägend, | |
wenngleich mit mehr Zukunft ausgestattet, waren für diese Zeit die | |
visuellen Massenmedien Film und Fotografie. Dass Nicéphore Nièpce, der 1827 | |
das erste belegte Foto der Welt aufnahm, mit seinen Bruder Claude schon | |
1807 einen ersten Verbrennungsmotor zum Patent angemeldet hatte, deutet auf | |
eine verwandte Erfindergeschichte hin. Sie führte in eine gemeinsame | |
Entwicklungs- und Gebrauchsgeschichte, eine untrennbare Praxis. | |
Fotografie wie Auto veränderten die Wahrnehmung von Zeit und Ort radikal. | |
Sie bürgerten im Alltag der westlichen Industrieländer neue Sichtweisen ein | |
genauso wie völlig neue Vorstellungen von Mobilität und Geschwindigkeit | |
oder der Idee des Fortschritts überhaupt. Fotografie und Auto brachten die | |
moderne Gesellschaft auf den Weg. | |
Vor allem die emphatische Idee von individueller Freiheit, wie sie in den | |
westlichen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts Platz griff, ist ohne das | |
Auto nicht vorstellbar. Erstmals in der Geschichte der Menschheit | |
ermöglichte es das Auto im Prinzip jedem, zu jeder Zeit dort hinzugelangen, | |
wohin er wollte. Erzählungen gehen dann so, dass Studenten der | |
Filmhochschule München im Mai 1968 feststellten, dass sie einen VW-Käfer | |
besaßen, das Benzin billig war und sie es sich somit leisten konnten, nach | |
Paris fahren, in Solidarität mit den Leuten von der Cinematèque. Es waren | |
auch Studentinnen dabei. Und hier muss man der Ausstellung ankreiden, dass | |
sie nicht weiß, was das Auto gerade für die Freiheit und Emanzipation der | |
Frauen bedeutete. | |
## Zentrale Waren der patriarchalen Gesellschaft | |
Doch genau deshalb ist die Ausstellung so aufschlussreich. Das Auto, in dem | |
man warm, wettergeschützt, eigenmotorisiert und musikumspült durch die Welt | |
fuhr, in einer menschengemachten Gebärmutter aus Stahl und Glas, dieses | |
Auto, so wollten es Gesellschaft und Autoindustrie, konnte nur ein Ding für | |
den Mann sein. Genauso wie die natürlichen Gebärmütter, also die Frauen. | |
Die grauenhaftesten Bilder der Ausstellung sind deshalb die Fotos, die Bill | |
Rauhauser um 1975 auf der Automesse von Detroit aufgenommen hat und die | |
neben jedem neuem Automodell eine sexy junge Frau zeigen. Das Arrangement | |
bezeichnet das Auto wie die Frau als zentrale Waren der patriarchalen | |
Gesellschaft. Übertroffen wird das Grauen nur noch von den Bildern, die | |
Jacqueline Hassink auf den entsprechenden Autosalons in Genf, Frankfurt am | |
Main, Paris, Tokyo und Schanghai aufgenommen. Zwischen 2002 und 2008! | |
Wann hatte Edward Quinn Françoise Sagan, die sich, wie sie sagte, nur im | |
Auto als Handelnde sah, am Steuer eines Jaguar XK120 fotografiert?! 1954. | |
Die Fotos von Quinn hängen außen an der Wand eines kubischen Einbaus im | |
Erdgeschoss der Fondation. In seinem Innern werden die frühesten | |
Autoaufnahmen gezeigt. Selbstverständlich ist Jacques-Henri Lartigues | |
berühmte Aufnahme eines Straßenrennens in der Normandie 1912 zu sehen, auf | |
der die Zuschauer am Straßenrand nach links wegkippen, während das Auto | |
nach rechts eiert. Dann überraschen aber die 1924 und 1925 entstandenen | |
Fotos von der „Croisière Noire“, einer von Citroën finanzierten Expeditio… | |
die durch den afrikanischen Kontinent führte. 1931 bis 1932 folgte dann die | |
„Crosière Jaune“ durch Zentralasien. Viele Bilder zeigen Menschen und Tiere | |
damit beschäftigt, die Autos über Brücken oder steile Bergstraßen zu | |
ziehen. Die Straßen lassen eben zu wünschen übrig, weltweit, wie eine | |
Dokumentation des Reifenherstellers Michelin von 1930 belegt. | |
Nicht anders als an der Côte d’Azur war es auch in Afrika und Asien | |
prestigereich, autofahrend fotografiert zu werden. Während die hinreißenden | |
Aufnahmen von Malick Sidibé und Seydou Keïta afrikanische Taxifahrer und | |
Familien aus der Mittelklasse vor dem eigenen Auto zeigen, werden in China | |
Familien, Paare und Singles in Autoattrappen platziert, wie auf liebevoll | |
nachkolorierten Studioaufnahmen aus den 1950er Jahren zu sehen ist. Afrika | |
ist auch der Schauplatz des grandiosen Konzeptkunstwerks „Turtle 1“ von | |
Melle Smats und Joost van Onna. Der Künstler und der Soziologe folgten den | |
Schrottautos aus Europa nach Afrika, wo sie zum größten Teil im sogenannten | |
Suame Magazin in der Stadt Kumasi in Ghana landen. | |
In diesem südlich der Sahara gelegenen Teil Schwarzafrikas schlachten rund | |
200.000 Handwerker Autos aus, verkaufen gebrauchte Ersatzteile und | |
reparieren Fahrzeuge. Mit einigen von ihnen bauten Smets und van Onna in | |
nur zwölf Wochen Turtle 1, einen ausschließlich aus vorgefundenem Material | |
konstruierten, optimal an die Umgebung angepassten Lastwagen, robust genug, | |
um Klima und Straßenverhältnissen zu trotzen, und einfach im Handling. Die | |
Niederländer wollten daraus eine kleine unabhängige Produktion entwickeln, | |
doch der Erfolg des Gefährts bewegte die ghanaischen Kooperationspartner, | |
eine Luxusversion des Autos zu bauen. | |
## Eine Geschichte des Scheiterns | |
Die Fotografie zeigt die Geschichte des Autos deshalb auch immer wieder als | |
Geschichte des Scheiterns. Individuell wie gesamtgesellschaftlich | |
dokumentiert das Reenactment MfS von Arwed Messmer mit den perversen | |
Aufnahmen, die er in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der | |
DDR fand. Um misslungene Fluchtversuche mit dem Auto fotografisch | |
nachzustellen, zwang das MfS die Protagonisten, sich noch einmal in die | |
Verstecke zu legen. Durchweg ein Desaster scheint die Einbindung von | |
Straßen in die Landschaft und in die Stadt zu sein. So wirkt es jedenfalls | |
in den Fotografien von Edward Burtynsky, wo der Highway in Schanghai | |
ausschaut wie die sprichwörtliche Schlange, die sich in den Schwanz beißt, | |
oder bei Alex MacLean, wo die Straßen in Arizona alle in die Leere der | |
Wüste laufen. In Europa tritt die Fehlplanung wie eine Naturgewalt auf. In | |
den Fotos von Sue Barr werden schmächtige Wohnblocks in Neapel von | |
Autobahnbrücken überspannt, die wie eine Konstruktion der Vulkanberge | |
selbst erscheinen. | |
Trotz der Autounfälle, die Weegee 1940 in New York und Arnold Odermatt 1964 | |
in der Schweiz aufnehmen: Die Fotografie ist in der Ausstellung keineswegs | |
nur Illustration und Dokument einer durch das Auto veränderten Welt und | |
deren Wahrnehmung. Die Fotografie spielt auch ihre eigenen Spiele. Ed | |
Ruschas Fotobuch „Thirtyfour Parking Lots in Los Angeles“ (1967), das | |
genauso lapidar, wie der Titel es verspricht, 34 aus der Luft aufgenommene | |
Parkplätze in Serie aneinanderreiht, übte wesentlichen Einfluss zunächst | |
auf die Minimal und die Concept Art aus und sah im Autoabstellplatz nur | |
eine Alltagsform wie im Swimmingpool oder im Cracker-Gebäck. | |
Ruscha prägte auch auf eine jüngere Fotografengeneration wie Lewis Baltz, | |
der zu der in den 1970er Jahren entstandenen New-Topographies-Bewegung | |
gehört, wie etwa auch Henry Wessel mit seinen Fotos von extrem aufwändigen | |
Ampelanlagen im Nirgendwo. Und der Gott der amerikanischen Fotografie, | |
Walker Evans, macht sich dann mit 1973/74 geschossenen Polaroids von | |
Straßenmarkierungen seinen eigenen Reim auf die Pop Art. Wirklich gesehen | |
haben muss man aber Ronni Campanas „Badly Repaired Cars Series“ von 2016. | |
Der italienische Fotograf nimmt die mit Klebeband verdeckten Löcher oder | |
notdürftig gehaltenen Außenspiegel so nah auf, dass die Bilder bei all | |
ihrem herrlichen, lächerlichen Witz an ernste und großartige, abstrakte | |
Kompositionen gemahnen. | |
23 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
## TAGS | |
Fotografie | |
Auto | |
Emanzipation | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Fotografie | |
Lesestück Interview | |
Humboldt Forum | |
Ausstellung | |
Fotografie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Visionen vom Stillstand: VW Käfer aus Vinyl | |
Künstler waren vom Anfang an vom Auto fasziniert. Die Ästhetik fasziniert | |
ebenso wie die skulpturale Möglichkeit der Verschrottung. | |
Ausstellung „Günter Franzkowiak: Arbeit“: Der Blick des Werkzeugmachers | |
Eine eigene Form der Arbeiterfotografie: Der langjährige VW-Beschäftigte | |
Günter Franzkowiak fing mit intuitiver Leichtigkeit Momente abseits der | |
Produktion ein. | |
Fotograf über Architektur in der DDR: „Ich liebe Ruinen“ | |
Bauhistoriker Robert Conrad hat die Altstadt von Greifswald, den | |
Führerbunker und die Berliner Mauer abgelichtet. Er fotografiert gegen die | |
Zeit. | |
Streit um Berliner Humboldtforum: Überreste aus dem Unrechtskontext | |
Bei den außereuropäischen Sammlungen liegt die Provenienzforschung völlig | |
im Argen. Hilfe kommt von der Gerda Henkel Stiftung. | |
Ausstellung „Bikes!“ in Leipzig: Die stete Neuerfindung des Fahrrads | |
Das Leipziger Grassi-Museum zeigt mit „Bikes!“ eine innovativ-skurrile | |
Ausstellung zwischen aktuellen Trends und gehobenem Schrott. | |
Ausstellung im Berliner Kindl-Zentrum: Reisen als Gefühl | |
Die deutsch-iranische Künstlerin Shirana Shahbazi erweitert den Begriff | |
künstlerischer Fotografie. Ihre Berliner Werkschau beeindruckt. |