# taz.de -- Ausstellung „Bikes!“ in Leipzig: Die stete Neuerfindung des Fah… | |
> Das Leipziger Grassi-Museum zeigt mit „Bikes!“ eine innovativ-skurrile | |
> Ausstellung zwischen aktuellen Trends und gehobenem Schrott. | |
Bild: Sicherheit verspricht das Babel Bike von Crispin Sinclair Innovation aus … | |
Das Leipziger Grassi-Museum für angewandte Kunst hätte sich für seine | |
„Bikes!“-Ausstellung gleich bei den Lebenskünstlern bedienen können, die | |
vor dem Haus auf dem Johannisplatz eine temporäre Installation aufgebaut | |
haben. Unter dem hilfsenglischen Kunstwort „meyouwedo“ schwärmen sie von | |
einer transkulturellen Gesellschaft, und zu der gehört auch eine | |
Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt; eine nützliche Schrottsammlung, dienlich | |
allen Fans dieses aus der Draisine und dem Velo hervorgegangenen | |
muskelgetriebenen Fahr-Rades. Und das werden immer mehr. | |
Gehobenen Schrott gibt es auch drinnen unter den Rubriken „Kult“ und | |
„Kunst“ zu sehen. Hauptsächlich aber blickt diese gut besuchte Ausstellung | |
nach vorn und greift aktuelle Trends und Entwicklungen auf. Die Schlagworte | |
„Neuerfindung“ und „Neubewertung“ finden sich schon auf der Begrüßung… | |
und im Einführungstext eines sehr übersichtlichen Flyers. Ein Rahmen, | |
wenigstens zwei Räder, etwas zum Treten, Sitzen und Lenken – das sind | |
Mindestkriterien für ein Fahrrad. Doch selbst der abgebrühte Straßenkämpfer | |
auf dem Zweirad, oft als „Rad“ schlechthin bezeichnet, staunt, was man aus | |
der scheinbar ausgereizten Fahrradkonstruktion noch machen kann. | |
Bevor es mit den Modellen losgeht, stimmt eine Montage köstlicher Fotos auf | |
die Fahrradkultur und die Milieus ein, die durch sie geprägt werden: | |
drolligste Klingeln und Hupen, Plastiktüten als Sattelschutz, vollgestellte | |
Hinterhöfe und niederländische Fahrradparkhäuser, übereinandergestapelte | |
Räder an einem Mast oder das Rennrad oben auf dem Bücherregal. Videos | |
zeigen überfüllte Radwege. | |
Fahrradklau ist Volkssport, und wie ein Menetekel begrüßt ein während der | |
Ausstellungseröffnung geknacktes Stahlgliederschloss die Besucher. Mit | |
einem textilen Seilschloss „texlock“ kann das angeblich nicht passieren. | |
Diebstahl ist bei einem Mietrad ziemlich sinnlos, und die Ausstellung | |
steigt auch prompt mit Bike-Sharing ein. Am modernsten mit elektronischen | |
Schlössern. | |
Das Fahrrad liegt nicht nur im Fitness-Trend und ist Kult, es ist auch | |
unter rationalen ökologischen und verkehrspolitischen Aspekten das | |
vernünftigste Verkehrsmittel. Zumindest in der Stadt, und der zugegeben | |
etwas sportlicher radelnde Autor dieser Zeilen fühlte sich durch die | |
Behauptung bestätigt, dass es bis zu Entfernungen von zehn Kilometern das | |
schnellste Verkehrsmittel sei. | |
## Ganz futuristisch | |
Aber schon beim Einstieg in die Ausstellung liest man Sätze wie: „Von einem | |
friedlichen Nebeneinander von Auto- und Radfahrern ist man in den meisten | |
Städten jedoch noch weit entfernt.“ Daran ändert auch der Elektroantrieb | |
nichts. Man staunt, wie gut er sich mittlerweile verstecken lässt und wie | |
sich Radgewichte unter 20 Kilogramm drücken lassen. Ganz futuristisch | |
mutet eine Ladestation aus Hallein in Österreich an. | |
Aber ehrlich: Für ehrgeizige Selbsttreter ist solch ein Hybrid-Rad nichts. | |
Ebenso wenig wie der Auto-transportfähige Faltrad-Kompromiss, ein Anreiz | |
vorwiegend für Pendler. Wer noch mit dem simplen Mifa-Klapprad aufgewachsen | |
ist, reibt sich verwundert die Augen, wo diese neuen Rohrbündel überall | |
Gelenke für ihre Trickfaltung bekommen haben. | |
Noch längst nicht ausgereizt ist das gute alte Lastenrad. Bis 200 Kilogramm | |
soll es inzwischen fortschleppen, nicht nur das wie eine aufgemotzte | |
Harley-Davidson ausschauende gelbe Postrad. Die abnehmbare Kinderkabine | |
scheint gegenüber dem Anhänger im Vorteil. „Zwei Bierkästen plus zwei | |
Kinder“ wirbt der Leipziger „PonyJohn“ für seine Belastbarkeit, und das | |
ökologische Bestattungsmobil ist ebenfalls in Sicht. | |
## Unisex-Tiefeneinstieg oder Komfortfederungen | |
Alltagstauglichkeit für alle ist ein großes Thema. Unisex-Tiefeneinstieg | |
oder Komfortfederungen aller Art sollen auch Personen mit Handicap vom Rad | |
überzeugen. Kein Thema ist hingegen das oft zu schwere Gewicht von | |
Kinderrädern, die aber ohnehin bald zum trendigen Fatbike mit Traktorreifen | |
neigen. | |
Man wäre nicht ein Museum für Kunst und Design, wenn nicht auch das Fahrrad | |
als Kult- und Kunstobjekt eine Rolle spielte. „Selbstdefinition über | |
ungewöhnliche Ästhetik“ meint das Statussymbol. Also Retro-Cruiser oder | |
eigenwillige Rahmenkonstruktionen wie aus der Leipziger Rotor-Manufaktur. | |
Ein handbemaltes Rennrad von Wasja Götze ist zu bestaunen. | |
Das meiste Aufsehen erregt der Cruiser „Wasteland“ von Sven Keller, mit | |
Schrott, zusammengeschweißten Ritzeln oder Elektrolytkondensatoren | |
dekoriert und einem Blechkoffer als Gepäckfach versehen. Kann man den | |
eigenfüßig noch bewegen, fragt man sich ebenso wie bei der umgebauten | |
Chrysler-Autokabine mit Autoreifen. | |
## Brennstoffzelle als Hilfsantrieb | |
Wohin geht es? Storck ist eine sehr innovative Firma, experimentiert mit | |
Leichtbau, andere mit Holz- und Bambusrahmen. Die Mehrgelenkkurbel „Cyfly“ | |
trennt ein ovales Kettenblatt vom Pedal und will ein höheres Drehmoment | |
erzielen. Bei aufsteckbaren Elektroantrieben gibt es originelle Angebote, | |
sogar an den Einsatz einer Brennstoffzelle als Hilfsantrieb wird gedacht. | |
Ob sich Käufer für das Babel Bike, „das sicherste Fahrrad der Welt“, | |
finden, muss man abwarten. Es bietet wie die Kabinen-Motorroller einen | |
Überrollschutz. | |
Nichts zu tun hat diese Ausstellung mit den High-Tech-Wundern im Radsport. | |
Gewichtsminimierung, Aerodynamik oder Steifigkeit sind etwas für | |
Extremisten. Der Insider aber vermisst einen Hinweis auf die revolutionären | |
Ultraleicht-Experimente an der Chemnitzer Professur für Sportgerätetechnik, | |
die etwa das untere Rahmenrohr durch ein straffes Seil ersetzen. Der | |
unbefangene Alltagsradler verlässt diese Vielseitigkeitsausstellung teils | |
angeregt, teils ironisch lächelnd, aber auf jeden Fall mit dem Gefühl, | |
richtig im Trend zu liegen. | |
8 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
## TAGS | |
Ausstellung | |
Leipzig | |
Fahrrad | |
Radwegenetz | |
Mobilität | |
Volksentscheid Fahrrad | |
Fotografie | |
Volksentscheid Fahrrad | |
Martin Luther | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Radball-Training in Niedersachsen: Kick it like Armstrong | |
Fast wie Fußball, nur eben auf dem Fahrrad: Beim Verein Stahlrad Laatzen | |
spielen Erwachsene und Jugendliche Radball. Ein Trainingsbesuch. | |
Debatte Mobilität: Vorfahrt für Radler! | |
Die meisten Fahrradschnellwege befinden sich auf dem Land. Und Innenstädte | |
gehören weiterhin dem Autoverkehr. Das muss sich ändern. | |
Debatte Menschen und Autos: Die Zombie-Technologie | |
Die aktuelle Debatte über manipulierte Abgaswerte und die Folgen zeigt: Die | |
Autoindustrie steuerte von Anfang an in eine Sackgasse. | |
Entwurf für Berliner Radgesetz fertig: Bahn frei für Radler | |
Der Entwurf für das Radgesetz ist fertig. Bis Ende 2017 wird es | |
verabschiedet, jubelt die Rad-Initiative. Nicht alle sind so optimistisch. | |
Pariser Fotoausstellung über Autos: Gebärmutter aus Stahl und Glas | |
Der Charme schlecht geflickter Wagen: Die Fondation Cartier zeigt eine | |
Bestandsaufnahme zum Zusammenspiel von Fotografie und Auto. | |
Immer Ärger mit dem Radgesetz: Mehr Leidenschaft, bitte! | |
Der ADFC macht seinem Ärger Luft. Auch wenn der Konflikt mit der | |
Verkehrssenatorin wohl ein Missverständnis war – der Frust ist nicht | |
verwunderlich. | |
Kommerz zum Lutherjahr: Die großen Festspiele der Reformation | |
Playmobil hat gut eine halbe Million Luther-Figuren verkauft, Merkel soll | |
die Luther-Praline gekostet haben: Wittenberg im Hype. |