| # taz.de -- Kommerz zum Lutherjahr: Die großen Festspiele der Reformation | |
| > Playmobil hat gut eine halbe Million Luther-Figuren verkauft, Merkel soll | |
| > die Luther-Praline gekostet haben: Wittenberg im Hype. | |
| Bild: Wittenberg im Lutherwahn: Wie wär's mit einem Luther-Burger im Luther-Ho… | |
| Es luthert gewaltig in Wittenberg, und immer vernehmlicher ist zu schauen | |
| und zu hören, was in einem stetigen Crescendo bis zum nationalen | |
| Reformations-Feiertag am 31. Oktober anschwellen soll. Auf der | |
| Collegienstraße schiebt man sein Fahrrad besser, um nicht mit den zahllosen | |
| Reisegruppen aus allen Kontinenten zu kollidieren. Einige der ansonsten | |
| heutig-zivil gekleideten Führer versuchen, dem Luther und seiner deftigen | |
| Sprache nach dem Maul zu reden. | |
| Schon eine Woche vor Himmelfahrt stehen die Kirchentagsbühnen, auf dem | |
| Markt ist ein mobiler Info-Pavillon errichtet worden. Um wen es geht, rufen | |
| die zahllos wehenden Fahnen mit dem Logo der Luther-2017-Dachmarke in | |
| Erinnerung. Es zeigt das selbst schon zur Marke gewordene Cranach-Porträt | |
| plus Inschrift „Im Anfang war das Wort“. Das Wort oder doch das Marketing? | |
| Ein kleiner Laden nahe der Stadtkirche bietet Devotionalien feil. Den | |
| Kräuterschnaps „Tintenfleck“, Baumscheiben mit Metallreliefs Wittenberger | |
| Kirchen, Faltkartons mit den Konterfeis von Reformatoren oder die | |
| Luther-Socke, auf der man besonders gut stehen kann. Playmobil hat | |
| mindestens eine halbe Million seiner süßen Lutherfiguren verkauft. Und die | |
| Luther-Praline aus der Schlosskonditorei Zerbst soll auch Kanzlerin Angela | |
| Merkel gekostet haben. | |
| Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise baute zu Beginn des 16. | |
| Jahrhunderts Wittenberg zu seiner Residenz und mit der Gründung der | |
| Leucorea-Universität auch zu einer Hauptstadt des Geistes aus. Hier | |
| predigte der junge Luther, veröffentlichte die berühmten 95 Thesen, hierher | |
| kehrte er nach Exkommunikation, Reichsacht und seinem vorübergehenden | |
| Untertauchen auf der Wartburg 1522 zurück. Als ein veränderter, auf den | |
| Schutz des Kurfürsten angewiesener Mann, nicht mehr als der ungestüme | |
| Reformator. | |
| Erinnerungskultur als Marketingstrategie | |
| Was wir heute Erinnerungskultur nennen, erlebte zu Beginn des 19. | |
| Jahrhunderts einen ersten Schub. Von einem „gesteigerten Bedürfnis nach | |
| großen Festen“ vor dem Hintergrund historischer Daten spricht der Jenaer | |
| Historiker Alexander Brünes. Er gehört zu den Autoren des Sammelbandes | |
| „Luther als Vorkämpfer?“ über eine Tagung an der Universität Jena, die s… | |
| mit dem 300. Reformationsjubiläum 1817 befasste. Es stand ganz im Zeichen | |
| der Volksaufklärung. Mit einiger Plausibilität ließ sich ein Bogen von der | |
| Reformation zur Aufklärung schlagen. Vor 100 Jahren, in der Agonie des | |
| Ersten Weltkrieges, geriet Luther zum Nationalhelden, zum „deutschesten | |
| Mann, den es je gegeben hat“. Historiker Brünes in Jena sieht deshalb | |
| Großjubiläen stets vor dem jeweiligen Zeithorizont: „Für jeweilige Ziele | |
| kann Luther herangezogen werden.“ | |
| Was heißt das 2017? Unser Zeithorizont assoziiert Begriffe wie Marketing, | |
| Kommerzialisierung, Eventisierung. Luther-Tomaten der Wittenberg Gemüse | |
| GmbH und „Lutherbrodt“ sind folglich nahe liegende Geschäftsideen. 2015 in | |
| Dortmund uraufgeführt, tourt seit Januar das Pop-Oratorium „Luther“ durch | |
| Deutschland. | |
| Darüber kann man lächeln. Oder fragen, warum sich Staat und Kirche die | |
| 500-Jahr-Feiern rund 50 Millionen Euro kosten lassen, von denen allerdings | |
| die Hälfte durch Sponsoren, Vermarktung und Eintrittsgelder kompensiert | |
| werden soll. Welchen „Kollateralnutzen“ verspricht das Jubeljahr? | |
| Wirtschaftlich liegt er auf der Hand: Im März berichteten die | |
| Wirtschaftsminister der drei mitteldeutschen Länder auf der Internationalen | |
| Tourismusbörse in Berlin stolz von der erfolgreichen Vermarktung der | |
| Stätten, die von Luther und der Reformation zumindest gestreift wurden. In | |
| Sachsen betrifft das vor allem das Schloss Hartenfels in Torgau. In | |
| Wittenberg steigen die Besucherzahlen schon seit einigen Jahren. Thüringens | |
| Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) nannte eine Zahl von sechs | |
| Millionen Euro Förderung, die seit 2012 in die touristische Infrastruktur | |
| rund um Reformationsorte geflossen sind. Mehr als tausend Kilometer | |
| „Lutherweg“ kann man vorzeigen, zu bewandern mit Hilfe einer Luther-App. | |
| Selbst für die Erfinder verwirrend, bezeichnen sich nun Sachsen als | |
| Mutterland, Sachsen-Anhalt als Ursprungsland und Thüringen als Kernland der | |
| Reformation. Insbesondere das künstliche Bindestrich-Land Sachsen-Anhalt | |
| kann solche identitätsstiftenden Schlagworte gebrauchen. Der vorangegangene | |
| Kult um Kaiser Otto in Magdeburg hat es gezeigt. Die Landesregierung hat | |
| nun die viel belächelte Imagekampagne „Wir stehen früher auf“ durch das | |
| „Ursprungsland“ ersetzt. | |
| So etwas schafft Zusammenhalt, und um den geht es den ob der „besorgten | |
| Bürger“ Besorgten auch in dieser Zeit. Wieder lässt sich Luther als | |
| Vorkämpfer für alles Mögliche heranziehen. Zum Kummer für alle Veganer zum | |
| Beispiel als Wegbereiter der „Fleischfresser“. Sachsen-Anhalts | |
| Ministerpräsident Reiner Haseloff, als ökumenisch orientierter Katholik in | |
| Wittenberg wohnend, sieht in Luther den Begründer des modernen | |
| Sozialstaates. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble gilt er unter | |
| Berufung auf seine Zwei-Reiche-Lehre geradezu als Erfinder der Demokratie. | |
| Im Badischen geboren, wird er nicht wissen, dass es schon bald nach Luther | |
| in Sachsen ein sehr enges Bündnis von Thron und Kanzel, quasi eine | |
| Staatskirche, gab. | |
| „Aus den Kirchenmauern raus“ | |
| Von Reformationsfestspielen mag die von der evangelischen Kirche | |
| eingesetzte Botschafterin Margot Käßmann nun gerade nicht sprechen. Auch | |
| die Verantwortlichen der drei organisierenden Geschäftsstellen sind mit | |
| Fangfragen nach Image-Dienstleistungen und möglichen volkspädagogischen | |
| oder volksmissionarischen Absichten nicht zu verblüffen. Und im | |
| Dachgeschoss des Wittenberger Rathauses sitzt die Geschäftsstelle der EKD, | |
| geleitet von Jan von Campenhausen: Der Pfarrer aus dem Ruhrpott wirkt | |
| selber wie ein handfester Luther-Typ und hat überhaupt keine | |
| Bauchschmerzen, zuzugeben, dass man sehr wohl „Glut unter der Asche“ | |
| freilegen wolle. „Aus den Kirchenmauern raus“ laute die Devise, und schon | |
| jetzt könne man konstatieren, dass die Kirche ihre Nische verlassen habe. | |
| Die Voraussetzungen dafür seien auch günstigere als vor zehn Jahren. Denn | |
| eine mehr oder weniger eingestandene Suche nach Heil habe die Themen der | |
| Spaßgesellschaft abgelöst. | |
| Seine Kollegin Astrid Mühlmann leitet die Staatliche Geschäftsstelle und | |
| sitzt in der alten Leucorea-Universität. Auch sie sieht in der gesamten | |
| Luther-Dekade überhaupt kein abgeschlossenes System und betont das „hohe | |
| partizipative Moment“ der Veranstaltungen im Jubiläumsjahr. Frau Mühlmann | |
| erkennt keinen Widerspruch zwischen Werbung und dem eingebetteten Diskurs | |
| auch über den ambivalenten Luther, erst recht nicht bei Bildungsangeboten | |
| für Touristen oder dem sprachfördernden Luther-Koffer für Schüler. | |
| Noch weiter geht Ulrich Schneider, der im Verein Reformationsjubiläum 2017 | |
| mit bis zu 300 Helfern Organisation und Ausführungsplanung in der Hand | |
| hält. „Zukunftsgewandt, nicht historisch“ sei insbesondere jene am | |
| vergangenen Sonntag begonnene Veranstaltungskette in Wittenberg angelegt, | |
| die sich etwas großspurig „Weltausstellung“ nennt. | |
| Neben Kunst und Konzerten sind Politik und Zivilgesellschaft vertreten, um | |
| mit den Gästen aus aller Welt letztlich dieselben Fragen wie vor 500 Jahren | |
| aktuell zu debattieren. 16 Themenwochen, beginnend mit Europa, sollen in | |
| einen Sammelband münden, den Margot Käßmann nach Abschluss des Jubiläums | |
| herausgeben wird. | |
| Etwas vom Erlösungs- oder Reformationsbedarf auch unserer Zeit schimmert | |
| in der MDR-Kurzhörspielserie „Lutherland“ durch. Ein arbeitsloser | |
| Schauspieler tritt im Auftrag von EKD und einer Werbeagentur als zweiter | |
| Luther wie ein Messias auf. Wie wenig aber Playmobil-Figuren oder | |
| Luther-Klischees für den Wertediskurs taugen, wird in diesem Jubeljahr auch | |
| in Wittenberg augenfällig. Auf dem Markt wird für die Abnahme des Reliefs | |
| „Judensau“ an der nur hundert Meter entfernten Stadtkirche demonstriert. Am | |
| Abend aber, wenn diese Demonstranten einpacken, die Souvenir- und | |
| Softeisläden schließen, scheint Wittenberg wieder in seinen seligen Schlaf | |
| zu verfallen. | |
| 25 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Bartsch | |
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