# taz.de -- Feridun Zaimoglus über Luther-Roman: „Er begriff, man braucht da… | |
> 500 Jahre Reformation – im Buch „Evangelio“ beschreibt der Autor die | |
> Ruppigkeit der Luther'schen Sprache. Und den Wunsch, Martin zu einer | |
> Konsensfigur zu machen. | |
Bild: Der junge Martin Luther, damals noch Mönch | |
taz: Herr Zaimoglu, ist es klug oder eher unschlau, im Lutherjahr einen | |
Lutherroman zu schreiben? | |
Feridun Zaimoglu: Ich wusste erst mal nichts vom Jubiläumsjahr, da kann man | |
sehen, aus was für einem verschlafenen Winkel ich komme … | |
… vielleicht wusste ja Ihr Verlag davon … | |
… die haben mich darüber aufgeklärt. Fast hätte mir mein Lektor auf die | |
Stirn geklatscht, als ihm dämmerte, dass das kein genialer Schachzug von | |
mir ist. | |
Ein Leser schrieb, durch „Evangelio“ müsse man sich beißen wie durch einen | |
halbjahrtausendalten Brotkanten. Ich vermute, Ihr Luther sollte kein | |
Weißbrot werden. | |
Ja, natürlich kein Weißbrot. Wobei, wenn man im Bild bleibt, so ein | |
halbjahrtausendalter Kanten setzt ja Schimmel an – ich hoffe, dass er nicht | |
das gemeint hat. | |
Ich glaube, er meinte: im besten Sinne schwere Kost. | |
Es ist natürlich ein Bruch mit der Heutigkeit. Was die Sprache anbelangt, | |
was die Glaubens- und Lehrsätze anbelangt beziehungsweise die für viele | |
überwundenen Lehrsätze. Es scheint – jedenfalls habe ich den Versuch dazu | |
unternommen – eine versunkene Welt auf. | |
Die fremd bleiben soll? | |
Ich bin etwas verblüfft darüber, wie man im Jubiläumsjahr Luther und seine | |
Zeit aufbereitet. Es ist ja nicht nur so, dass man da kleine | |
Playmobilfiguren hinstellt, es ist auch so, dass man den guten, etwas | |
geschwollenen Luther, den späten Luther aufbläst und ihn sich zurechtmacht, | |
als sei er unser Zeitgenosse. Man will ein Fest feiern, nichts dagegen | |
einzuwenden, nur: Je weniger man den eigentümlichen Luther meint, desto | |
besser scheint es den Feiernden zu gehen. | |
Ich vermute, man will feiern, aber man sucht auch einen Schutzpatron und | |
eine Identifikationsfigur. Jemanden, der alles richtig gemacht hat. Wobei: | |
Für die einen hat er alles richtig gemacht, für die anderen alles falsch, | |
mit wenig Zwischentönen. | |
Man sucht in unseren heutigen Tagen den Konsens. Und oft genug stellt sich | |
dieser Konsens nicht etwa als eine vernünftige goldene Mitte heraus, | |
sondern als Verbreiung von Ideen und Vorstellungen. Ich habe dieses Buch | |
nicht geschrieben, um zu verstören und zu provozieren. Ich habe es auch | |
nicht im Sinne einer experimentellen Sprachartistik geschrieben. | |
Sondern? | |
Es ist ein Roman, es ist ein Roman, es ist ein Roman. Und wie bei jedem | |
meiner Texte habe ich versucht, mich dem auszusetzen. Wenn es über Luther | |
heißt, und ich stimme dem zu, er sei ein genialer Verdolmetscher, so muss | |
ich ja alles versuchen, um Luther als einen Mann seiner Zeit aus Fleisch | |
und Blut zu zeichnen. | |
Warum eigentlich Luther, wenn alle über Luther schreiben. Warum nicht | |
dessen Zeitgenossen Thomas Müntzer? | |
Wenn man Müntzers Schriften liest, stößt man leider Gottes auf | |
knallverrückte, esoterische, ziemlich durchgedrehte Ansichten. Auf eine | |
Theologie, die alles überwindet, sowohl das Diesseits als auch das | |
Jenseits. Wieso Luther? Ich habe seine Übersetzung des Alten und des Neuen | |
Testaments ohne Übertreibung drei Dutzend mal gelesen. Er ist ein | |
wortgewaltiger Gottesmann. Hier ist einer – ich spreche vom frühen Luther | |
–, der den Kopf hingehalten hat, aber zum Fürstenknecht wurde. Ich habe | |
Luther gewählt, weil sich bei ihm Glaube und Sprache zu einem gewaltigen | |
Wortstrom verpaart haben. | |
Vor 20 Jahren haben Sie mit Kanak Attack eine neue Sprache geschaffen – | |
fühlen Sie sich als Spracherfinder Luther verwandt? | |
In Luther haben wir einen, der endlich begriff, dass er aus der | |
Klosterzelle und der Gelehrtenkammer hinausgehen musste. Ich bin kein | |
Freund heutiger akademischer Schreibweisen, dieser Verbrämung und | |
Versaubeutelung der Sprache. Ich bin als Salonhooligan bei denen, die das | |
nicht gelernt haben. Luther ist der Stubengelehrte, der hinausgeht und den | |
einfachen Menschen, den Angehörigen verschiedener Zünfte, den Handwerkern | |
Worte ablauscht und sie als passend für die Übersetzung erfindet. Er hat es | |
begriffen: Man braucht das Rabiate und das Ruppige. | |
Haben Sie in „Evangelio“ eine Annäherung an Luthers Sprache versucht oder | |
wollten Sie damit ein Drittes, Neues schaffen? | |
Es wird immer etwas Drittes sein, wider alle Beteuerungen. Ich war nicht | |
dabei, ich habe ihn nicht sprechen gehört. Nicht in der Nachdichtung habe | |
ich die Kunstsprache erfunden, sondern indem ich mich als heutiger Mensch | |
einstimmte auf die Zeit von damals; über Studien, über extreme körperliche | |
Beanspruchung, über Ortsbegehungen habe ich versucht, die Geschichte so zu | |
übersetzen, dass man sie noch versteht. | |
Ein Wort habe ich nachgeschlagen, um zu sehen, ob es schon existierte oder | |
ob Sie es erfunden haben: affensinnig. | |
Sehen Sie, und das ist das Gute: Ich habe keine Ahnung mehr. Da ich so | |
rasend in den Text hineinwachse und im Fieberwahn aufschreibe, vergesse | |
ich, ob es meine Sprachschöpfung ist oder nicht. Ich glaube, es gab | |
affengeistig – auch ein schönes Wort. | |
Sie haben gesagt, Luthers wichtigste Eigenschaft sei für Sie seine | |
Frömmigkeit und Sie fühlten sich ihm darin nahe. Inwiefern? | |
Wenn er, in meinen Worten, von der Heiligkeit des Heilands sprach, dann | |
meinte er, dass allein Jesus Christus gilt und nicht die Unfehlbarkeit des | |
Papstes. | |
Und wo blieb er Ihnen fremd? | |
Ich glaube an meine jüdischen Propheten und mich befremdet es, wenn Luther | |
aus der großen Enttäuschung, dass die Juden sich nicht in großen Scharen | |
bekehren lassen, sie verunglimpft und die Zerstörung von Synagogen | |
nahelegt. Noch schlimmer hat er die Römlinge, den Papst beschimpft. Das | |
Widerwärtige machte auch nicht Halt vor den Frauen. Jede Frau, die um die | |
Wirkung von Heilkräutern wusste oder sich die Frömmigkeitsdiktatur verbat | |
oder ein bisschen Lebenslust an den Tag legte, wurde als Hexe denunziert – | |
und die Hexengläubigkeit ging bei den Protestanten weiter. | |
Sie sind diesmal deutlich ernster als bei anderen Gesprächen. Um nicht zu | |
sagen gewichtig. | |
Wir sprechen über etwas, das zu Kriegen, zu Mord und Totschlag geführt hat. | |
Die einen nennen es Kirchenspaltung, die anderen Luther einen Apostel. Das | |
bedingt der Glaube: Da raunt es aus der Tiefe. Wir könnten auch darüber | |
sprechen, dass damals alle fest an das Weltende und den jüngsten Tag | |
geglaubt haben, dass es Verdammte oder Errettete gab. Es ging um das Ganze, | |
man lebte einige Jahre und dafür stand man gerade bis in alle Ewigkeit. | |
Ich habe noch eine ganz leichtgewichtige Frage: In Ihrer Danksagung nennen | |
Sie Ihren Freund Günter Senkel, dem Sie auf den Recherchefahrten nach | |
Thüringen vorgesprochen hätten. Was genau haben Sie da erzählt? | |
Genau wie Kinder anfangen zu sprechen, habe ich losgesprochen. Mein bester | |
Kumpel Günter fuhr und musste das erdulden. Irgendwann hat er gesagt, dass | |
ich langsam mal das Maul halten könne. | |
Das war ein Vorschlag oder eine Ansage? | |
Er hat es gesagt im Sinne von: Schluss jetzt. Aber ich sprach eben | |
tatsächlich los. Ich hatte mich Wochen, Monate darauf eingestimmt. Nun | |
hatte ich es und sprach: über Theologie, aus der Tiefe. | |
Was bedeutet es für Ihren Blick auf Luther, dass Sie Muslim sind – und was | |
bedeutet es für die Rezeption? | |
Ich glaube nicht an die Echtheit der Herkunft. Ich glaube, um in einem Bild | |
des Glaubens zu bleiben: Fremd ist die Erde uns, weil wir vertrieben worden | |
sind. Die wahre Vertreibung war die Verbannung von Gottes Nähe. Und die | |
doppelte Fremdheit ist die Melancholie – das ist meine Herkunft, darüber | |
ist mir vieles bekannt. Nicht über Erfahrung, sondern über den hohen Ton, | |
den die Seele macht, wenn sie flackert. – Mein Gott aber auch, da habe ich | |
ja eine Metapher, da muss ich selber lachen. | |
Luther war ja ein Brennender, da bleibt es im Bild. | |
Sie haben sich dem Buch ja auch ausgesetzt. Haben Sie da nicht manchmal | |
gedacht, jetzt ist es amtlich, der Mann ist irre? | |
Ich habe eher an mir gezweifelt. Im ersten Moment ist das Buch sehr | |
zugänglich, im nächsten gar nicht. | |
Diese Luther-Welt ist uns fremd, aber im Grunde müsste sie uns – ich sage | |
wir, weil ich ja auch hier aufgewachsen bin – geläufiger sein. Aber genau | |
diese Erfahrung habe ich gemacht: Mein Gott, dachte ich, das ist Fremdheit. | |
16 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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