# taz.de -- „documenta“ in Kassel: Das Tier in der Kunst | |
> Von Athen nach Kassel reiten: Im documenta-Projekt „The Transit of | |
> Hermes“ von Ross Birell ist ein Hengst Protagonist der Kunst. | |
Bild: „The Transit of Hermes“ auf einem Feldweg in Serbien | |
Am Nachmittag des 9. Juli soll das Warten ein Ende haben. Dann wird es | |
hoffentlich endlich heißen: Er ist gekommen! Nicht nur an seinem gestählten | |
Körper und an dem edlen schwarz-weiß melierten Kleide wird man ihn | |
erkennen, sondern bei entsprechender Nähe vielleicht auch an seinem | |
charakteristischen Odor – Kenner machen angenehme Noten aus Heu, Nüssen und | |
Honig aus, nur Banausen erscheinen die animalischen Ausdünstungen als | |
Gestank: Der Erlöser riecht nach Pferdeschweiß. | |
Wenn Hermes, so sein Name, sich an diesem Sonntag mitsamt Tross aus | |
Artgenossen und Reitern auf dem Kasseler Friedrichsplatz feiern lässt, dann | |
haben er und sein Gefolge rund 3.000 Kilometer in 100 Tagen durch Süd- und | |
Südosteuropa zurückgelegt. Sie werden Länder passiert und Grenzen überquert | |
haben, die es teils eine Weile kaum mehr zu geben schien: Griechenland, | |
Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich, Deutschland. | |
## Selten gewordene Bergpferderasse | |
Ein übermäßiges Interesse an virtueller Aufmerksamkeit kann man Ross | |
Birrells Projekt „The Transit of Hermes“, das der Künstler zusammen mit | |
Koryphäen der Wanderreiterei konzipiert hat, nicht nachsagen. Alles andere | |
hätte bei dieser documenta auch schwer überrascht. Immerhin gibt’s eine | |
Onlinekarte, die mal mehr, mal weniger gut funktioniert. Ansonsten geht es | |
um den Ritt an und für sich, inspiriert von einer 10.000 Kilometer langen | |
Passage, die Aimé Félix Tschiffely einst vom argentinischen Buenos Aires | |
nach New York per Pferd zurücklegte (mit eigenem Pferd hätte man mitmachen | |
können). | |
Vor allem aber geht es um ihn, Hermes, einen bildschönen Hengst der | |
Arravani, jener selten gewordenen griechischen Bergpferderasse, die wie der | |
Isländer weitere Gänge beherrscht und deren Vertreter als besonders zähe, | |
ausdauernde wie elegante Arbeitstiere geschätzt werden. Hermes, dessen | |
symbolträchtiger Name schon sein Grenzgängertum andeutet, soll nicht | |
weniger als dies sein: Mittler, Kurier, gar „engelsgleicher Bote“. | |
Ist da zumindest eine ironische Überhöhung im Spiel? Sieht nicht so aus. | |
Das quasireligiöse Heilsbringerthema ist wasserfest: ein Hengst aus dem | |
griechischen Peloponnes, der einer maskulinen Jungfrau gleich von den | |
Goldenen Reitern selbst nicht geritten, sondern lediglich mitgeführt wird. | |
Was seine konkrete Funktion umso mehr ad absurdum führt. Was macht er also | |
hier, dort, in Athen und am Friedrichsplatz? Kann er das Konzept | |
nationalstaatlicher Grenzen überwinden, seltene Arbeitstierrassen retten, | |
den Menschen aus seiner ganz realen Misere erlösen? | |
## Von Beuys bis Anne Imhoff | |
Tiere als gleichsam vertraut scheinende wie unergründbar bleibende Wesen | |
eignen sich offenbar besonders gut, den Überresten magischen Denkens | |
Ausdruck zu verleihen – und sei es nur im mitunter unbewussten Vorgang der | |
künstlerischen Wahl der Mittel. | |
Seit der Höhlenmensch zum ersten Mal zur Farbe griff, zählen Tiere zu | |
seinen Lieblingsmotiven. In lebender Form treten sie auf, seit die Kunst | |
sich vom Dogma der Abbildung gelöst hat: Weltberühmt ist die Aktion von | |
Joseph Beuys, als sich der in seiner New Yorker Galerie zusammen mit einem | |
Kojoten einsperren ließ. | |
Bei Anne Imhoff, die gerade den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig | |
gewonnen hat, gehörten dort zwei Wachhunde zum Inventar; vorher ließ sie | |
schon mal Esel ins Museum bringen. Doch interessiert sich die | |
zeitgenössische Kunst neben allem Symbol- und Accessoirepotenzial | |
umfassender für ihr Objekt? | |
Oder reproduziert sie lediglich, was der Mensch ohnehin schon über die | |
Projektionsfläche Tier denkt und fühlt, zumal wenn es um Fell und | |
Flauschiges geht? Heidegger und seine romantischen Vorstellungen vom | |
eigentlichen Sein lassen grüßen: In Oden an das Tier, die man von Künstlern | |
wie Nichtkünstlern hören kann, geht es viel um die zeitlich-physische | |
Kongruenz des Tiers mit sich selbst. | |
Deutlich wird der menschliche Neid auf dieses nicht wie er selbst | |
enervierend im Hier-jetzt-gestern-heute-könnte-wäre umherspringende | |
Lebewesen. Die enge Mensch-Tier-Symbiose spiegelt sich auch in der | |
Übernahme bekannter Narrationen wieder – mal wie bei Beuys und Birrell aus | |
Mythologie geknüpft, ohne dass diese selbst zur Debatte stünde, mal | |
beobachtet die Kunst ihr Objekt mit biologistischem Blick in Videoarbeiten. | |
## Nackt unter Schweinen | |
Der hochgradig ambivalenten Beziehung des Menschen zu seinen Nutztieren | |
nehmen sich dann und wann Kunstwerke wie 2012 Miru Kims „I Like Pigs and | |
Pigs Like Me“ an: Für mehrere Tage lebte die Künstlerin nackt und auf allen | |
vieren mit Hausschweinen zusammen, das Ergebnis wurde per Livestream ans | |
Publikum übertragen. | |
Wurde hier nur eine These illustriert, die schon feststand, gerichtet an | |
ein Kunstpublikum, das ebenso zuverlässig hierauf reagieren würde – oder | |
fügte Kim der Debatte eine neue, poetische Dimension hinzu? | |
Das Problem eines künstlerischen Zugangs zum Gegenüber, zu dem der Mensch | |
doch so mannigfaltige und oft widersprüchliche Beziehungen pflegt, scheint | |
nicht zuletzt das der eigenen Verortung zu sein. Warum nicht das Tier gern | |
als heiß geliebtes, aber eben doch: Anderes? Als Wesen, das ganz mit dem | |
Innen und Außen im Einklang lebt, weil es nun mal gar nicht anders kann? | |
Wieso nicht einmal thematisieren, dass der Mensch seine begrenzte, aber | |
doch grundsätzliche Freiheit, die ihm kraft seiner Gattung Fluch und Segen | |
zugleich ist, nach vielfachem Bekunden im Handumdrehen gegen das | |
animalische Leben eintauschen würde? „Tiere um uns sind keine besseren | |
Menschen, in ihrer Welt herrscht des Stärkeren Recht“, besang | |
Blumfeld-Kopf Jochen Distelmeyer jene in seiner liebevoll gemeinten Ode, | |
um zu schließen: „Tiere um uns, was wär’n wir ohne sie?“ | |
## Eine Kluft zwischen den Erfahrungen | |
Denkenswerten Mensch-Tier-Begegnungen konnte man vor fünf Jahren auch in | |
der Kasseler Karlsaue beiwohnen, weil der französische Künstler Pierre | |
Huyghe die mit einer großflächigen Installation bespielte. | |
Man konnte sich wie ein Paparazzo auf die Suche machen und sodann wie ein | |
Schneekönig freuen, wenn der Star der damaligen Weltkunstausstellung einem | |
schließlich die Ehre gab. Es war ein Hund, ein majestätischer Podenco | |
Ibicenco, weiß wie Porzellan und mit fein sich abzeichnenden Rippen, wie | |
ein Sphinxhund dem Gebüsch entsteigend. | |
Jedenfalls, dieser Hund und sein weniger mediengehypter Begleiter, sie | |
interessierten sich offenkundig kein Stück dafür, Teil eines Kunstwerks zu | |
sein. | |
In diesem einen Moment, in dem sich Kunst-Tier und Kunst-Zuschauer | |
begegneten, öffnete sich ein unüberwindbar weit klaffender Abgrund – | |
Erfahrungshorizonte, die sich niemals begegnen werden. | |
## Alles scheint möglich | |
Eine Weile beehrte der namenlose Art-Star das Publikum mit seiner | |
Anwesenheit, dann verschwand er so geisterhaft, wie er gekommen war. Später | |
konnte man in der New York Times die Enttäuschung einer Kunstjournalistin | |
nachlesen, weil sie jenen Hund während ihres gesamten Besuchs in Kassel | |
nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. | |
Als physisches, atmendes, laufendes, fressendes, ausscheidendes Wesen lässt | |
sich die Präsenz des (Säuge-)Tieres nicht so einfach wegdiskutieren. Ob es | |
animalisch-emotionaler Brückenbauer zum Kunstwerk wird, diesem eine neue | |
Qualität hinzufügt oder doch eher dessen Bankrotterklärung unterzeichnet – | |
alles scheint möglich. | |
Zum Erlöser taugt es indes vermutlich eher nicht. | |
Dass man’s ihm zutraut, ist zumindest ein interessanter Aspekt. | |
9 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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