| # taz.de -- Das Kunstjahr 2017 im Rückblick: Die Selfie-Epoche | |
| > Jeder darf nur noch über das Eigene sprechen. Deshalb war das sogenannte | |
| > Superkunstjahr in Wahrheit eine Katastrophe. 2018 wird auch nicht besser. | |
| Bild: Kunst, nur noch Kulisse für die eigene Identität? | |
| Zwei Kunstereignisse haben es in die Wirtschaftsnachrichten geschafft. | |
| Unter „Die Tops des Jahres 2017“ rubriziert die FAS selbstverständlich | |
| Leonardo da Vincis „Salvator Mundi“, der für schlanke 450 Millionen Dollar | |
| bei Christie’s über den Tresen ging. Unter „Die Flops des Jahres 2017“ | |
| rechnet sie die documenta 14, die [1][mit einem Defizit in Höhe von 5,4 | |
| Millionen Euro] abschloss, bei einem stolzen Budget von 37 Millionen Euro, | |
| das gleichwohl [2][für zwei Standorte] zu gering veranschlagt worden war, | |
| selbst bei einem neuen Besucherrekord von über einer Million Menschen. | |
| Beide Kunstereignisse stehen tatsächlich symptomatisch für das – ob der | |
| Gleichzeitigkeit von [3][Biennale in Venedig], Documenta in Kassel und | |
| Athen, [4][den Skulpturprojekten Münster] und weiteren Biennalen wie | |
| Istanbul, Lyon und Schardscha – so genannte Superkunstjahr 2017. Es war ein | |
| superschlechtes Jahr für die Kunst. | |
| Die documenta 14 enttäuschte, auch ohne drohende Insolvenz und Streichung | |
| des kleinen g in der gemeinnützigen documenta gGmbH. Denn in Athen wie in | |
| Kassel ging es um große Anliegen, am wenigsten aber um die Kunst. Sie wurde | |
| in Dienst gestellt, um mit dem europäischen Kolonialismus abzurechnen und | |
| der internationalen Finanzwirtschaft; um die Rolle des bloßen Zeugnisses | |
| einzunehmen, oft völlig verfehlt wie im Fall der Künstlerin [5][Cornelia | |
| Gurlitt], die die Leerstelle der verweigerten Kunstsammlung ihres Bruders | |
| Hildebrand Gurlitt, füllen sollte; oder um als bürgerlich-westlich | |
| geprägter Kanon denunziert und endlich der vermeintlich überfälligen | |
| politischen und gesellschaftlichen Nachhilfe teilhaftig zu werden. Nicht | |
| grundlos lautete das Motto der documenta 14 „Lernen von Athen“. | |
| Dafür sammelten Adam Szymczyk und sein Team die ihnen passend erscheinenden | |
| Künstler und Künstlerinnen ein, um sie mit neu zu schaffenden Arbeiten zu | |
| beauftragen, für die sie den thematische Rahmen von Identitätspolitik, | |
| indigener Kunst, Migration, Klimawandel, Nationalsozialismus und Erosion | |
| der Demokratie vorgaben. Interessanterweise warf dann selbst Athen, die | |
| beispielhafte Hauptstadt aller Gegenwartskrisen, sei es die Demokratie-, | |
| die Finanz- oder die Flüchtlingskrise, nicht mehr kuratorischen Ertrag ab | |
| als Kassel. | |
| ## Stadtmarketing statt State of the Arts | |
| Die Paranoia freilich, mit der nun die Stadt Kassel und das Land Hessen in | |
| jeder Kritik gleich die Forderung erkennt, die Documenta abzuschaffen, hat | |
| ihre Ursache in den eigenen Anstrengungen, [6][genau das zu tun]. Denn | |
| längst ist die von Arnold Bode aus der Erfahrung der Diktatur, des | |
| Vernichtungskriegs und des Genozids heraus entwickelte Schau der | |
| Gegenwartskunst für Stadt und Land schlicht regionaler Wirtschaftsfaktor | |
| geworden und eine Marke, die ja nicht beschädigt werden darf. Durch die | |
| Kunst und ihre Experimente. Wo noch immer der global gültige Überblick zum | |
| State of the Art der Gegenwartskunst beschworen wird, muss Stadtmarketing | |
| vermutet werden. | |
| Das Stadtmarketing hat Venedig seit langem hinter sich gelassen, steht aber | |
| dennoch für den State of the Art, für den die Instrumentalisierung der | |
| Kunst die Regel ist. Nicht überall wurde die Kunst als Waffe gegen den | |
| Kapitalismus so raffiniert und doch so durchschaubar geführt wie im | |
| deutschen Pavillon, ihr Einsatz in diesem Kampf ist freilich unumgänglich. | |
| Dagegen war auch die Chefin der Biennale, Christine Macel, machtlos, die | |
| wenigstens in ihrer Schau die „Welt voller Konflikte und Schocks“ außen vor | |
| lassen und statt Thesen und Programme das künstlerische Schaffen stark | |
| machen wollte. | |
| Das stimmte freilich so lange hoffnungsfroh, bis man sich mit ihrer | |
| Umsetzung konfrontiert sah: Völlig unsensibel hinsichtlich ihrer | |
| Materialität und Form wurden die Exponate dicht an dicht gedrängt in den | |
| Büchern, Schamanen, Farben, Gemeingütern, Traditionen und, wen wundert es, | |
| der Erde gewidmeten Pavillons sortiert. Und wieder illustrierte das | |
| Kunstwerk nur ein Thema oder Motiv. | |
| Damien Hirsts Monumentalskulpturen im Palazzo Grassi konnten keinen Trost | |
| bieten. Sie verkörpern nur das (Insider-)Geschäft, das die Kunst ja auch | |
| und vor allem ist. Ihr Sammler ist gleichzeitig ihr Händler und bald wird | |
| er auch ihr Auktionator sein, besitzt Francois Pinault doch | |
| praktischerweise das Auktionshaus Christie’s. Dort war Mitte November nun | |
| der wohl spektakulärste Gebrauch von Kunst für politische Interessen zu | |
| beobachten. Für rund 450 Millionen Dollar ging auf der Abendauktion für | |
| Nachkriegs- und Gegenwartskunst (!!) Leonardo da Vincis „Salvator Mundi“ | |
| (um 1500) an einen Prinzen aus dem Morgenland. Nur vermeintlich großzügig | |
| leiht es Mohammed bin Salman dem Louvre Abu Dhabi, wie das Museum wenig | |
| später mitteilte. | |
| Das als Universalmuseum, also mit Exponaten aus der Antike bis in die | |
| Gegenwart, angelegte Haus auf der Insel Saadiyat will weder ein | |
| einheimisches Publikum noch westliche Touristen anziehen. Wie der | |
| Politologe Alexandre Kazerouni in seiner Studie „Le miroir des cheiks“ über | |
| Museum und Politik in den Golfemiraten feststellt, richtet es sich an | |
| westliche Meinungsmacher und Prominenz. Die müssen, so seine These, den | |
| Louvre noch nicht einmal besuchen. | |
| Es reicht die mediale Existenz des Museums, damit das Zielpublikum die ihm | |
| schmeichelnde Botschaft schluckt, es präsentiere sich hier das ideale, dem | |
| Westen nachstrebende Arabien: tolerant in religiösen und moderat in | |
| gesellschaftlichen Fragen, begeistert von der zeitgenössischen Architektur | |
| und last not least schwer beeindruckt von der Kultur des Abendlands und | |
| deshalb auch bereit, bei Christie’s die gewaltige Summe von knapp 450 | |
| Millionen Dollar für einen möglicherweise von Leonardo gemalten Christus zu | |
| zahlen. | |
| ## Was der Verteidigungsminister im Louvre suchte | |
| Sofort vergessen westliche Kulturmanager und Politiker die Situation der | |
| Arbeitsmigranten und der Kritiker der Regimes. Und nutzen das Museum und | |
| seine Sammlung als Bühne und Beiwerk für die Deals, um die es vor allem | |
| geht. Es war eben der französische Verteidigungsminister, der den Louvre | |
| schon vor seiner Eröffnung besuchte. Sind doch die Vereinigten Arabischen | |
| Emirate, wie die lokalen Medien stolz verkünden, größter Kunde für | |
| Frankreichs Waffenexporte. Angesichts der Anbiederung an durchaus | |
| fürchterliche Regime qua Westkunst, man denke an die gescheiterte | |
| Teheran-Expedition der Staatlichen Museen zu Berlin wegen der Warhols von | |
| Farah Diba, würde man gern moral standing einfordern. Doch die Frage nach | |
| Moral führt direkt in größte Katastrophe des Kunstjahrs 2017. | |
| Ausgerechnet die KünstlerInnen selbst, in denen man doch die eigentlichen, | |
| und letzten Sachwalter künstlerischen Anliegens vermuten würde, forderten | |
| die Vernichtung oder Abhängung moralisch anstößiger Kunstwerke und den | |
| Ausschluss eben solcher KünstlerInnen aus dem Diskurs. Es begann mit dem | |
| Streit über Dana Schutz’ Gemälde „Open Casket“ von Emmett Till, dem | |
| schwarzen Jungen, der 1955 einem Lynchmord zum Opfer gefallen war. Schutz, | |
| die mit dem Bild ihr Entsetzen über das Fortdauern des Rassismus in den USA | |
| bekunden wollte, wurde als weißer Frau vorgeworfen, schwarzes Leid in | |
| Profit und Unterhaltung umzumünzen. | |
| Mit gleicher identitätspolitischer Stoßrichtung wurde dann der Streit um | |
| Jimmie Durham eröffnet. Dem Künstler, der die UN-Deklaration zu den Rechten | |
| der indigenen Völker maßgeblich initiiert hat, wird vorgeworfen, nicht der | |
| (amtlich bestätigte) Cherokee zu sein, als der er es sich angeblich anmaßt | |
| für die Indianer Amerikas zu sprechen. Mit diesem Vorwurf hatte das | |
| Indian-Country-Magazin die Debatte eröffnet. Cindy Sherman, Marina | |
| Abramović, Omer Fast und Balthus gehören inzwischen zu den vielen | |
| KünstlerInnen, deren Arbeiten wegen Rassismus und/oder Sexismus zu | |
| zerstören oder ins Depot zu verbannen sind, wie durch Teile der Künstler-, | |
| Kritiker-, Kuratoren- und Kunstaktivistenschaft gefordert wird. | |
| Im neuen Jahr steht die Berlin-Biennale an, und die schönste Überraschung | |
| wäre es, wenn die Kunst mit ihren Fragen nach dem Werkprozess, nach ihrem | |
| Material und ihrer Form nach vorne rückte. Es steht freilich zu befürchten, | |
| dass identitärer Tribalismus und ebensolche Moral erst recht das Kunstjahr | |
| 2018 definieren. Jeder darf nur noch über das Eigene sprechen und das | |
| Eigene verhandeln. Das Selfie – bekanntlich gern im Museum, vor dem | |
| Hintergrund von Kunst geschossen − ist Sinnbild der Epoche. | |
| 29 Dec 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!5447357/ | |
| [2] /!5437940/ | |
| [3] /!5405718/ | |
| [4] /!5418304/ | |
| [5] /!5458209/ | |
| [6] /!5030013/ | |
| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
| ## TAGS | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Politische Kunst | |
| Documenta | |
| Biennale Venedig | |
| Okwui Enwezor | |
| Athen | |
| Biennale Venedig | |
| Basel | |
| Documenta | |
| Documenta | |
| Biennale | |
| Afrika | |
| Documenta | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Preise für Schwarze Künstlerinnen: Hegemonien entflechten | |
| Von der „Betroffenenkunst“ zur Auseinandersetzung mit Diversität: Warum | |
| Sonia Boyce und Simone Leigh in Venedig ausgezeichnet wurden. | |
| Retrospektive des Malers Balthus: Die Marionetten in Aufruhr versetzen | |
| Die Fondation Beyeler zeigt eine Retrospektive des Malers Balthus. Dabei | |
| ist auch das Gemälde „Thérèse rêvant“, das eine Debatte über Pädophil… | |
| auslöste. | |
| Offener Brief zur Zukunft der documenta: Kunstexperten stützen Kulenkampff | |
| Die documenta hat mehrere Millionen Euro Verlust gemacht – deshalb soll die | |
| Geschäftsführerin gehen. Nun protestieren zahlreiche Experten gegen ihren | |
| Weggang. | |
| Documenta in den Miesen: Hiobsbotschaft zur Unzeit | |
| Die Weltausstellung hat sich gnadenlos verkalkuliert. Eine Insolvenz sei | |
| nur durch eine Bürgschaft in Millionenhöhe verhindert worden, so ein | |
| Bericht. | |
| Installation auf der Biennale in Venedig: Besser als 100 Amnesty-Plakate | |
| Cevdet Ereks Werk „Çın“ im Türkischen Pavillon zeigt keine politische | |
| Botschaft. Trotzdem ist es ein subtiles Bild für die Lage in der Türkei. | |
| Magazin-Launch: Den Stimmen Raum geben | |
| „Contemporary And“ widmet sich der Vielfalt zeitgenössischer Kunst aus | |
| Afrika und der Diaspora. Am Donnerstag stellen sie ihre neue Ausgabe vor. | |
| „documenta“ in Kassel: Das Tier in der Kunst | |
| Von Athen nach Kassel reiten: Im documenta-Projekt „The Transit of Hermes“ | |
| von Ross Birell ist ein Hengst Protagonist der Kunst. |