| # taz.de -- Bundesparteitag in Berlin: Machen Grüne den Unterschied? | |
| > Das Programm, das sich die Grünen vorgenommen haben, ist enorm: Umwelt, | |
| > Klimaschutz, Gerechtigkeit, Freiheit. | |
| Bild: Das Selfie als Wundermittel der politischen Kommunikation ist leider scho… | |
| Berlin taz | Die Nachricht vom [1][Tod Helmut Kohls] verbreitet sich in | |
| Windeseile in der Halle. „Hast du gehört? Kohl ist tot“, flüstert ein | |
| Delegierter seiner Nachbarin zu. Für Cem Özdemir ist das keine einfache | |
| Situation. Gleich muss er reden, es ist sein großer Auftritt auf dem | |
| Programmparteitag, er steht unter Druck. Özdemir und Katrin Göring-Eckardt, | |
| die Spitzenkandidaten der Grünen, hatten zuletzt keine gute Presse – zu | |
| glatt, zu zahm, zu kantenlos. | |
| Was sagt der grüne Spitzenkandidat zum Tod des Altkanzlers, zu einem | |
| konservativen Staatsmann, gegen dessen Politik die Grünen früher | |
| protestiert haben? Özdemir, blaues Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, flicht | |
| seinen Nachruf nahtlos in seine Rede ein. Kohl habe eine Ära geprägt, ruft | |
| er, er stehe für eines der großartigsten Projekte der deutschen Geschichte, | |
| die Wiedervereinigung. „In einer Frage haben wir uns in Achtung vor ihm und | |
| seinem Lebenwerk verneigt. Er war ein großer Europäer!“. Keine Anbiederung, | |
| aber Respekt, Özdemir findet die richtige Mischung. | |
| Die Ziele, die die Grünen-Spitze sich für diese drei Tage im Berliner | |
| Velodrom gesetzt hat, sind ambitioniert. Die Grünen, die im Bund bei acht | |
| Prozent dahindümpeln, wollen wieder in die Offensive. Angreifen, ab in den | |
| Konter, Schluss mit der mauligen Zerrissenheit. Für Özdemir und | |
| Göring-Eckardt geht es auch darum, ihren Führungsanspruch zu untermauern. | |
| Folgt ihnen die Partei auf dem Kurs, sich alle Regierungsoptionen offen zu | |
| halten? Oder sucht sich unterdrückter Frust an der Basis ein Ventil? | |
| Mit der Inszenierung hat sich die Parteitagsregie Mühe gegeben. Özdemir | |
| redet vor dem Slogan „Zukunft wird aus Mut gemacht“, den sie bei der | |
| 80er-Jahre-Ikone Nena geklaut haben. Auf einer Leinwand leuchten riesige | |
| Sonnenblumen, ohne geht es nicht bei der Ökopartei. | |
| Özdemir ruft erstmal alle BundestagskandidatInnen auf die Bühne („Die | |
| kämpfen für uns in den Ländern!“). Über 70 Leute stellen sich hinter ihm | |
| auf, manche tragen Stühle auf die Bühne. Sie bleiben dort bis zum Schluss, | |
| nach Town-Hall-Meeting soll das aussehen. Der am durchsichtigen Redepult | |
| rackernde Spitzenkandidat steht da wie eingerahmt. | |
| ## Alle sind sich einig | |
| Özdemir schaltet schnell in den Wahlkampf-Modus. Er nennt Christian Lindner | |
| den „Fred Feuerstein des Industriestandorts Deutschland“. Und er attackiert | |
| Merkels und Schäubles Europapolitik. Die Zeit der Arroganz gegenüber den | |
| Partnern und Freunden müsse vorbei sein. „Schulmeisterlicher Drill aus | |
| Berlin“ mache ihren Erfolg unwahrscheinlicher. Auf einem deutschen | |
| Krankenhausflur arbeiteten viele Fachkräfte, die osteuropäische Staaten | |
| ausbildet hätten. Deutschland müsse Europa etwas zurückgeben, Solidarität. | |
| Alle jubeln, alle sind sich einig. Özdemir verschweigt die Tatsache, dass | |
| die Grünen relevante Entscheidungen der Merkel-Regierung zu Griechenland | |
| und Rettungsschirmen im Parlament mitgetragen haben. Das zählt jetzt nicht, | |
| es würde die Stimmung kaputt machen. | |
| Das Programm, das sich die Grünen vorgenommen haben, ist enorm. Umwelt, | |
| Klimaschutz, Gerechtigkeit, Freiheit, die Delegierten ackern sich bis | |
| spätabends durch die Programmkapitel. Neben grünen Klassikern wie der | |
| Energiewende spielt auch die Innenpolitik eine große Rolle. Ein eigenes | |
| Kapitel am Samstag trägt die Überschrift: „Wir sorgen für Sicherheit und | |
| erhalten die Freiheit.“ Die Debatte ist mit einer knappen Stunde | |
| eingeplant. | |
| In dem Vorstandsantrag stehen Brocken, die früher Farbbeutelwürfe | |
| provoziert hätten. Der Bundesvorstand wirbt zum Beispiel dafür, ein | |
| „personell und strukturell völlig neues Bundesamt zur Gefahren- und | |
| Spionageabwehr zu gründen“. Das wäre der Tod des bisherigen | |
| Verfassungsschutzes mit 17 föderalistisch organisierten Behörden, und es | |
| ist nicht weit weg von der Idee des CDU-Innenministers Thomas de Maiziere. | |
| Auch Videoüberwachung an Orten mit hoher Kriminalität wollen die | |
| traditionell überwachungsskeptischen Grünen in Zukunft gut finden. | |
| ## Streit beim Kohleausstieg | |
| Dahinter steckt die Furcht der Grünen-Spitze, beim wichtigen Thema | |
| Sicherheit eine offene Flanke zu lassen. Göring-Eckardt erzählt in diesen | |
| Tagen gerne, dass normale Menschen ein überholtes Klischee von den Grünen | |
| im Kopf hätten: Die Grünen sind doch immer noch gegen den bösen | |
| Bullenstaat, so wie in den 80ern. Das ist lange her, die Grünen haben ihr | |
| Verhältnis zum Staat längst geklärt – und der Parteitag soll diese | |
| Botschaft in die öffentliche Aufmerksamkeit rücken. | |
| Streit gibt es beim Kohleausstieg. Der Vorstand empfiehlt, der Linie der | |
| Bundestagsfraktion zu folgen, den Ausstieg aus der fossilen Energie | |
| innerhalb von 20 Jahren zu fordern. Der Parteitag in Münster beschloss im | |
| vergangenen Jahr ein ambitionierteres Ziel, nämlich den Ausstieg bis 2025. | |
| Dieser Widerspruch, der im Wahlkampf schwer zu kommunizieren wäre, wird bis | |
| Sonntag in die eine oder andere Richtung entschieden. | |
| Özdemir brüllt auf der Bühne: Es gebe eben den Point of no return, der | |
| heiße zwei Grad. „Wer da seine Hoffnungen allein auf Merkel setzt, sollte | |
| sich eine Schwimmweste kaufen.“ Jubel, böse Spitzen auf die angebliche | |
| Klimakanzlerin kommen gut an. | |
| Wenn Özdemir so gut in Form ist wie heute, ist er ein blendender Redner. | |
| Als er bessere Gehälter für ErzieherInnen fordert, gestikuliert er so | |
| engagiert, dass er sich die Nase von der Brille wischt. Dann kommt doch | |
| noch ein heikler Punkt. Wenn die Grünen alles ausschlössen, bleibe am Ende | |
| nur die Große Koalition, ruft er. Er vergleicht die frisch verhandelte | |
| Jamaika-Koalition mit Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen. „Da kann ich | |
| voller Überzeugung sagen: Grüne machen den Unterschied in einer Regierung.“ | |
| Übersetzt heißt das: Die Grünen würden dieses Mal gerne auch in Berlin mit | |
| den Schwarzen und Gelben koalieren, wenn es passt. Verglichen mit früheren | |
| Parteitagen, auf denen sich die Grünen stets zur Nähe zur SPD bekannten, | |
| ist das eine kleine Revolution. Auch hier freundlicher Applaus. Die Grünen, | |
| das ist nicht zu überhören, stehen hinter ihrem Spitzenmann. | |
| Am Ende hat Özdemir tellergroße Schweißflecken im Hemd. Die Delegierten | |
| stehen vier Minuten lang auf, jubeln und klatschen laut, für einen | |
| Grünen-Parteitag ist das rekordverdächtig. Özdemir zückt sein Smartphone. | |
| Seine Co-Spitzenkandidatin und der niederländische Grünen-Chef und | |
| Gastredner Jesse Klaver quetschen sich neben ihn. Dass das Selfie als | |
| Wundermittel der politischen Kommunikation schon wieder out ist, hat sich | |
| bis zu den Grünen noch nicht herumgesprochen. | |
| 16 Jun 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| Laura Weigele | |
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