| # taz.de -- Zurückgehaltene Antisemitismus-Doku: Der Antisemit braucht keine J… | |
| > Das Erste will die Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt“ nun doch | |
| > zeigen. Das ist gut so, denn der Film stellt den Kern der Sache richtig | |
| > dar. | |
| Bild: Der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, befehligte von 1941 bis 1945 v… | |
| Das Erste wird am Mittwoch um 22:15 Uhr die TV-Dokumentation „Auserwählt | |
| und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ zeigen. Anschließend soll | |
| die Gesprächsrunde bei Sandra Maischberger darüber diskutieren. „Dabei | |
| werden auch die vom WDR beanstandeten handwerklichen Mängel der | |
| Dokumentation berücksichtigt“, hieß es bei der ARD. | |
| Die von Arte und WDR bestellte und dann nicht gesendete Dokumentation | |
| „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf die Juden in Europa“ hat in d… | |
| Tat Mängel. Die Filmemacher beschäftigen sich mit zu vielen Themen, | |
| verlassen sich zu stark auf ihre Interviewpartner und bleiben an manchen | |
| Stellen an der Oberfläche. Sie lassen auf israelischer Seite keine | |
| Historiker und Experten zu Wort kommen, sondern Leute, die mal mehr, mal | |
| weniger fundiert ihre Meinung zum Nahostkonflikt formulieren und dabei auch | |
| widerlegte historische Mythen wiederholen. | |
| Die Autoren Sophie Hafner und Joachim Schröder hätten außerdem auf Polemik | |
| verzichten und stattdessen so nüchtern und präzise wie möglich beschreiben, | |
| zitieren und argumentieren sollen. Das haben sie an manchen Stellen nicht | |
| getan und sich dadurch angreifbar gemacht. | |
| Dennoch haben die Filmemacher den Kern der Sache korrekt dargestellt: Sie | |
| zeigen, dass der Antisemitismus ein Weltbild bereitstellt, das heute in | |
| Deutschland und Frankreich Menschen aus sehr unterschiedlichen Gruppen | |
| miteinander verbindet. Sie zeigen, dass es sich dabei um einen | |
| Antisemitismus handelt, dessen Narrative oft einem spezifisch | |
| islamistischen Antisemitismus entstammen. Sie zeigen, dass dieser | |
| Antisemitismus des 21. Jahrhunderts eine krude Mischung aus uralten | |
| antijüdischen Stereotypen, antiliberalen und antiemanzipatorischen | |
| Ressentiments und Verschwörungstheorien ist, die häufig im Rahmen eines | |
| militanten Antizionismus formuliert und vom dünnen Mäntelchen der | |
| „Israel-Kritik“ kaschiert werden. | |
| Der Antisemit braucht keine Juden. Und auch die neuen antisemitischen | |
| Antizionisten in Europa werden sich durch Kenntnisse der realen | |
| Verhältnisse in Nahost nicht bei der Pflege ihrer Projektionen stören | |
| lassen. Antisemitismus ist die Verdinglichung des Abstrakten in der Figur | |
| des Juden, der die Welt kontrolliert. Der Jude erscheint dem Antisemiten | |
| als übermächtiger Agent des Bösen. Als unsichtbarer Strippenzieher | |
| dirigiert er die globalen Finanzströme und die Medien. | |
| ## Antisemitismus ist auch für Antirassisten anschlussfähig | |
| Antisemitismus ist daher kein bloßer Rassismus, und er ist weltweit | |
| anschlussfähig, selbst in Kontexten, die sich selbst als antirassitisch | |
| definieren. Der Antisemitismus schafft einen Rahmen, mit dessen Hilfe eine | |
| komplexe, sich in dynamischer Bewegung befindliche Welt verständlich | |
| gemacht werden kann. | |
| Aufklärung heißt, mit rationalen Argumenten Licht ins Dunkel zu bringen, in | |
| der Hoffnung, diejenigen zu erreichen, die Argumenten zugänglich sind. Und | |
| vielleicht Zweifel bei denen zu säen, deren Weltbild noch nicht wasserdicht | |
| abgeschottet ist. Journalistische Aufklärung kann heißen, den Sinn für die | |
| Realitäten zu schärfen, die dieser spezifische Antizionismus in seiner | |
| geschlossenen Weltsicht zum Verschwinden bringen muss, um wirksam zu sein. | |
| Aufklärung muss heißen, die Geschichte dieses spezifischen Antisemitismus | |
| und seine Wirksamkeit in Europa zu beleuchten. | |
| Daher ist es richtig, den Film mit einer Szene beginnen zu lassen, in | |
| welcher der Vorsitzende der Palästinenischen Autonomiebehörde, Mahmud | |
| Abbas, von den Mitgliedern des Europäischen Parlaments mit Beifall bedacht | |
| wird, obwohl er eben die uralte Mär von der Brunnenvergiftung zum Besten | |
| gegeben hat. Gerade letzte Woche, erzählte Abbas, hätten israelische | |
| Rabbiner wieder einmal gefordert, das Wasser der Palästinenser zu | |
| vergiften: „Ist das nicht Anstiftung zum Massenmord?“ | |
| Dass das niemand im Europaparlament gestört zu haben scheint, [1][Martin | |
| Schulz sich stattdessen twitternd] für die „inspirierende Rede“ bedankte, | |
| ist verstörend. Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer. Denn Abbas | |
| behauptete in seiner Rede auch, wenn die Besatzung ende, dann ende der | |
| Terror in der ganzen Welt. | |
| ## Die schiefe Denkfigur von Opfer und Täter | |
| Damit hat er das zentrale Phantasma eines Antizionismus formuliert, der im | |
| Kern antisemitisch ist: Wenn die Israelis erst aus den palästinensischen | |
| Gebieten verschwinden, werde Friede auf Erden herrschen. Abbas gibt dies in | |
| einem historischen Moment von sich (er sprach im vergangenen Sommer in | |
| Brüssel), als der syrische Diktator Assad bereits für den Tod von weit mehr | |
| Arabern verantwortlich ist als alle Kolonialmächte und Israel zusammen, wie | |
| der amerikanische Politikwissenschaftler Moishe Postone im Film sagt. | |
| Warum bleibt Abbas’ aberwitzige Behauptung unwidersprochen? Weil sie eine | |
| Hypothese zuspitzt, die vielen Reportagen und Features über den | |
| Nahostkonflikt seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 zugrunde liegt. Wir | |
| kennen diese disproportionale Denkfigur so gut, dass sie uns in Fleisch und | |
| Blut übergegangen ist: Der Nahostkonflikt ist einer der zentralen Konflikte | |
| der Gegenwart. Israel ist Täter, die Palästinenser sind Opfer. Wäre der | |
| Konflikt gelöst, wäre die Welt ein gerechterer Ort, Wolf und Schaf lebten | |
| einträchtig zusammen. Eben das macht diese Dokumentation in Wahrheit so | |
| „heikel“ ([2][FAZ]). | |
| Der oben skizzierte Antisemitismus, der durch Migrationsbewegungen, | |
| Satellitenfernsehen und Internet schon lange Europa erreicht hat, ist eine | |
| Reaktion auf die Moderne. Seine Popularität verdankt er auch den über den | |
| NS-Sender Radio Zeesen seit 1941 auf Arabisch und Farsi ausgestrahlten | |
| antisemitischen Propagandaprogrammen. Diese richteten sich gezielt an | |
| Muslime, vor allem an die unter britischen Herrschaft oder Hegemonie | |
| lebenden Muslime. Der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, der von 1941 | |
| bis 1945 von Berlin aus die muslimisch-bosnischen SS-Divisionen befehligte, | |
| war für diese Programme verantwortlich. | |
| Der Mufti fügte dem antimodernistischen Antisemitismus in der Region eine | |
| europäische, nationalsozialistische Komponente hinzu, die sich als höchst | |
| erfolgreich erweisen sollte, wie der Politikwissenschaftler Matthias | |
| Küntzel, der im Film nicht zu sehen ist, an anderer Stelle gezeigt hat: Die | |
| Muslime hatten die Juden traditionell nur als minderwertig und deswegen | |
| eher als bemitleidens- denn hassenswert betrachtet. Nun aber wurden sie als | |
| extrem mächtige Feinde des Islam, als Speerspitze und Verkörperung einer | |
| teuflischen Moderne inszeniert. Die Bilder und Narrative dieses | |
| Antisemitismus sind ein Bumerang, der nach Europa zurückgekehrt ist. | |
| ## Antisemitismus, ideologischer Kernbestand im Nahen Osten | |
| Die antisemitische Ideologie der Nazis wurde auch von den Muslimbrüdern | |
| aufgenommen, sie hat die Politik der PLO genauso wie Ajatollah Khomeinis | |
| islamische Revolution beeinflusst. In der politischen Theologie des | |
| iranischen Gottestaats hat der Hass auf die Juden gar eine messianische | |
| Dimension: Wenn der zwölfte Imam erscheint, wird in einem letzten Krieg | |
| Israel vernichtet, die Herrschaft der Juden gestürzt werden. | |
| Einen entscheidenden Punkt in diesem Zusammenhang erwähnen die Filmemacher | |
| leider nicht: Dieser Antisemitismus gehört seitdem zum ideologischen | |
| Kernbestand von Regimen in Nahen und Mittleren Osten, denen an der | |
| Verstetigung des Nahostkonflikts schon deshalb gelegen ist, weil er als | |
| zentrales Motiv ihrer Propaganda dient, die von eigener Misswirtschaft, von | |
| Korruption, Terror und Menschenrechtsverletzungen ablenken soll. | |
| Der Film widmet sich dem Umstand, dass sich eine ganze Armada von NGOs in | |
| den palästinensischen Gebieten und Israel betätigt. Diese leisten zum Teil | |
| notwendige Arbeit, verfolgen zum Teil aber eine Politik, die politisch wie | |
| praktisch kontraproduktiv, wenn nicht ethisch fragwürdig ist, etwa wenn sie | |
| die internationale Boykottbewegung unterstützt. | |
| Wenn man allerdings nach Gaza reist, sollte man fairerweise auch den | |
| anderen Teil der Geschichte erwähnen: Natürlich gibt es auch in Israel | |
| ökonomische und politische Interessen, die es wünschenswert erscheinen | |
| lassen, dass alles so bleibt wie es ist, worauf die Autoren des Films | |
| hinzuweisen leider verzichtet haben, indem sie sich auf die lahme Formel | |
| zurückzogen, auch in Israel würden „Fehler gemacht“. | |
| ## Antisemitismus wird mit der Besatzung nicht verschwinden | |
| Die Autoren hätten zumindest erklären müssen: Es gibt nicht nur Gaza, | |
| sondern auch die Westbank. Es gibt gute Gründe, ein Ende der israelischen | |
| Besatzung zu fordern. Menschenrechtsverletzungen in den besetzten und | |
| kontrollierten Gebieten sind zwangsläufiges Ergebnis der Besatzung. Das | |
| Phänomen des Antisemitismus aber wird nicht mit der Besatzung verschwinden, | |
| weil es mit ihr ursächlich nichts zu tun hat. | |
| Die Reise nach Gaza und Israel hätten die Filmemacher gar nicht antreten | |
| müssen, um ihre Argumentation vorzubringen. Da antisemitische Propaganda | |
| den Nahostkonflikt erfolgreich instrumentalisiert, kann man die Idee, | |
| dorthin zu reisen, aber durchaus nachvollziehen. Teile der Aufnahmen sind | |
| erhellend. So zeigen die Filmemacher junge Leute, die sich über die | |
| endemische Korruption beschweren, und sie berichten von Menschen, die ihnen | |
| auf den Straßen von Gaza-Stadt erklären, die Europäer sollten ihre | |
| Zahlungen an das Hamas-Regime einstellen, bis es zusammenbreche, auch wenn | |
| das Jahre dauern würde. | |
| Das ist eine Forderung, die fundamental den Stereotypen widerspricht, die | |
| nicht nur die selbsternannten Freunde der Palästinenser in Europa – seien | |
| sie bibelfeste Protestanten, [3][BDS]-Aktivisten, Verschwörungstheoretiker, | |
| Pegidisten, Querfrontler, linke und rechte Anti-Imperialisten, Neonazis, | |
| rappende Hassprediger oder Friedensbewegte – aufrufen, wenn sie vom | |
| „Freiluftgefängnis Gaza“ oder gar vom „Ghetto Gaza“ zeichnen. | |
| Die Zahl antisemitischer Beleidigungen und Übergriffe in Deutschland | |
| steigt. Jüngstes Beispiel ist der Fall eines in Großbritannien geborenen | |
| jüdischen Jungen, der von Mitschülern in Berlin-Friedenau gemobbt wurde. | |
| Bestimmte antisemitische Einstellungen sind bei arabisch- und | |
| türkischstämmigen Jugendlichen verbreiteter als bei anderen Jugendlichen. | |
| ## Antisemitismus richtet sich gegen liberale Gesellschaft | |
| Wenn junge Männer aus Migrantenfamilien einen jüdischen Mitschüler | |
| drangsalieren, liegt die Annahme nahe, dass per Satellit und Internet | |
| verbreitete Propaganda auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Die Filmemacher | |
| zeigen in ihrer Dokumentation eine große Auswahl von Musikvideos aus | |
| Deutschland und Frankreich, die sich in Hasspropaganda und | |
| Vernichtungsfantasien gegenüber Israel und Juden ergehen. | |
| Nachdem der Friedenauer Fall öffentlich diskutiert wurde, meldeten sich | |
| Eltern der Schule zu Wort, die sich um den Ruf der Schule sorgten. Die | |
| meisten von ihnen trugen übrigens urdeutsche Vor- und Nachnamen. Eine Stadt | |
| wie Berlin, schrieben sie, „könne vor den Auswüchsen internationaler | |
| Konflikte, wie des Nahostkonflikts, nicht verschont bleiben“. Wer | |
| antisemitische Äußerungen und Taten zur Folge des Nahostkonflikts erklärt, | |
| versteht den ideologischen Charakter des antisemitischen Antizionismus | |
| nicht. | |
| Der Antisemitismus richtet sich gegen die liberale, moderne Gesellschaft | |
| als solche. Hafner und Schröder stellen in ihrem Film in Bezug auf einige | |
| der großen Anschläge in Frankreich, etwa auf den koscheren Supermarkt und | |
| das Bataclan in Paris eine wichtige Frage: „Warum tut sich die | |
| gesellschaftliche Mehrheit so schwer, antisemitischen Terror auch so zu | |
| benennen?“ | |
| Gegen Ende ihrer Doku lassen die Filmemacher Francois Pupponi, den | |
| sozialistischen Bürgermeister von Sarcelles an der Pariser Peripherie, zu | |
| Wort kommen. In seiner Kommune leben traditionell Christen, Muslime und | |
| Juden zusammen, über viele Jahrzehnte ohne größere Probleme. Doch wegen | |
| massiver Anfeindungen verlassen seit einigen Jahren immer mehr Juden den | |
| Ort in Richtung Israel. | |
| ## „Dann gibt es unsere säkulare Republik nicht mehr“ | |
| Pupponi sagt: „Die französischen Juden glauben, dass sie in Frankreich | |
| keine Zukunft haben. Ich bitte sie, zu bleiben, weil wenn sie gehen, ist | |
| Frankreich tot. Wenn ein Jude seinen Glauben hier nicht mehr leben kann, | |
| dann gibt es unsere säkulare Republik, unsere Idee von Religionsfreiheit | |
| nicht mehr.“ | |
| Hätte Bild diese Dokumentation also besser nicht gezeigt? Nein, es war | |
| richtig, eine Diskussion über den Antisemitismus von heute zu provozieren, | |
| die in der Politikwissenschaft schon seit zwanzig Jahren geführt wird, aber | |
| in der Mitte der Gesellschaft nicht so recht anzukommen scheint. Es ist | |
| richtig, dass sich die Veranwortlichen der ARD nun dafür entschieden haben, | |
| die Doku am Mittwochabend zu senden und anschließend darüber diskutieren zu | |
| lassen. | |
| 18 Jun 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/MartinSchulz | |
| [2] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/arte-und-wdr-lehnen-antisemiti… | |
| [3] /!5389548/ | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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