# taz.de -- Konkurrenz auf dem Immobilienmarkt: Dieses System fickt jeden | |
> Lügen, hassen, verraten: Unser Autor war auf Wohnungssuche. Was das mit | |
> ihm gemacht hat, hatte er sich nicht vorstellen können. | |
Bild: Wohnungssuche ist keine rosige Angelegenheit, sondern ein einziges Hauen … | |
Ich dachte immer, ich bin einer von den Guten. Fleischfrei, kein Auto, | |
Feminist, Multikulti-Patchworkfamilie und immer bereit, das System zu | |
ficken, sofern mir jemand erklären konnte, wie das technisch vonstatten zu | |
gehen hatte. Ich stand karmatechnisch und ganz ohne Doppelmoralboden | |
ziemlich solide da, fand ich. Dann musste ich mir eine neue Wohnung suchen. | |
In München. | |
In den vergangenen vier Monaten habe ich Dinge getan, für die man mich als | |
moralbefreites Arschloch und schlechten Vater bespucken dürfte. Ich habe | |
meine Werte verraten, meine Familie und mich selbst. Ich habe Unschuldige | |
belogen und gehasst. Die Wohnungssuche bricht jegliche Wertvorstellungen | |
und bringt das Schlechteste im Menschen hervor. Dieses [1][System] fickt | |
jeden. | |
Der Beginn verlief blauäugig-idealistisch. Erste Wohnungsbesichtigung, 30 | |
Menschen und ich stehen in einem Hausflur in München-Giesing. Ich habe die | |
Vermieterin in ein Gespräch über die Nachbarschaft verwickelt. Als wir am | |
Küchenfenster stehen, warnt sie plötzlich, dass gegenüber eine Grundschule | |
liege, „in die schon viele Ausländer gehen“. Ich werfe ein, dass meine | |
Tochter ja sozusagen auch „halbe Ausländerin“ sei und dass die als Kinder | |
schon noch recht nett seien. Fand ich witzig. Die Eigentümerin nicht. | |
## Der Mietmarktteufel | |
Auf dem Nachhauseweg schleicht sich erstmals der Münchner Mietmarktteufel | |
auf meine Schulter: „Hättest du dir den saudummen Spruch nicht sparen | |
können? Die Alte ändert ihre Haltung eh nicht mehr. Und du hast dir die | |
Chance auf die Wohnung verbaut, Depp!“ Er sollte zumindest mit zweiterem | |
Recht behalten. | |
Ich lerne: Wohnungssuche ist kein Entnazifizierungsprogramm! Bei der | |
nächsten Besichtigung frage ich nicht nach, als die Vermieterin sagt, unter | |
den potenziellen Bewerbern sei viel „Gschwerl“ gewesen. Eine andere | |
Bewerberin rollt mit den Augen. Mutig, aber dumm! | |
Eine weitere Lektion folgt bei der nächsten Besichtigung: Keine | |
Schufa-Auskunft, Gehaltsnachweise und Ausweiskopie dabei? Bitte schnell | |
nachreichen! Ich, der seine Webcam dreifach zugeklebt und Seminare über | |
verschlüsselte Kommunikation belegt hat, hole mir bei einem dubiosen | |
Onlinedienst unter Angabe meiner Kontodaten den „Sofort-Schufa-Check“, | |
bringe meinen Reisepass zum Copyshop und nerve die Personalabteilung meiner | |
gerade beendeten Festanstellung. Sie möge innerhalb von zwei Stunden | |
sämtliche Abrechnungen rüberschicken. | |
Den Privatdaten-Striptease sende ich an eine Immobilienagentur in Duisburg | |
– und bekomme nie eine Antwort. Ich kann meine Daten aber auch direkt bei | |
den großen Immobiliensuchplattformen hinterlegen. Sind die Unterlagen | |
vollständig, bekomme ich ein „Top-Bewerber“-Siegel neben mein Profilbild | |
geklatscht und habe angeblich höhere Chancen bei der Suche. Und der | |
Vermieter, oder wer auch immer, kann auf meine Daten zugreifen, ohne mir | |
dafür auch nur eine einzige Mail zu schulden. Ich lerne: Privatsphäre ist | |
was für Loser-Bewerber! Ich bin jetzt was Besseres! | |
## Echter Hass | |
Im Laufe der folgenden Termine beginne ich, echten Hass zu entwickeln. | |
Gegen Frauen zum Beispiel. Sie werden das, genau wie mein feministisches | |
Prä-Mietmarkt-Ich, nicht gern hören, aber: Frauen punkten bei männlichen | |
Vermietern mit Sexyness und bei weiblichen mit Kaffeeklatsch-Skills. Sie | |
sind brutal zuverlässig, werden nie laut und trinken nicht. Und sie halten | |
die Wohnung sauber. | |
Noch schlimmer sind schwangere Frauen. Da kann man als Mann noch so viel | |
von seiner tollen Tochter erzählen – wenn eine werdende Mutter ins | |
potenzielle Kinderzimmer wackelt, vom „kuscheligen Nest für uns drei“ | |
faselt und sich dabei über ihren Bauch streichelt, kann man sich | |
verabschieden. Ich lerne: Bei der Wohnungssuche alles instrumentalisieren, | |
was Sympathie bringt. Und alles Weibliche mobilisieren. Weil traditionelle | |
Geschlechterrollen eben doch Gültigkeit haben. Und ich als Mann | |
systematisch benachteiligt werde!!! | |
Zum nächsten Termin hole ich meine Tochter zwei Stunden früher aus der | |
Mittagsbetreuung ab. Sie fragt, seit wann ich Hemd und Sakko trage, ich | |
drücke ihr ohne Kommentar ihr Samtkleid in die Hand. Wir gehen heute als | |
Spießerduo. Normalerweise ekeln mich Väter an, die mit ihren Kindern auf | |
Facebook und in Twitter-Autorenzeilen hausieren gehen („Quentin Lichtblau, | |
stolzer Vater und Journalist“). Aber es gelten andere Regeln, seit mein | |
Wohnungsgesuch mit dem zuckersüßen Vater-Kind-Wachsmalbild auf Facebook | |
durch die Decke gegangen ist. Auf der Fahrt zum Besichtigungstermin noch | |
ein kurzes Briefing: Ja, Papa hat immer noch eine Festanstellung, nein, er | |
raucht nicht und egal wie die Wohnung aussieht, du rennst da rein, lächelst | |
und sagst, wie schön du alles findest! Ja, auch wenn du es nicht schön | |
findest. Nein, das sind keine Lügen. Sei einfach niedlich. | |
## Das Mietmarkt-Ich | |
Weil meine Tochter Angst hat, irgendetwas falsch zu machen, sagt sie lieber | |
gar nichts und bringt vor dem Vermieter gerade so ihren Namen raus. Mein | |
Mietmarkt-Ich is not amused. | |
Nach der gefühlt 200. Absage habe ich es satt: Meine Hoffnung, eine Wohnung | |
in einem Viertel zu finden, dass ich nicht erst auf Google Maps suchen | |
muss, ist dahin. Was erwarte ich auch? Am Telefon fragt mich ein Makler, | |
warum ich mich mit meinem Gehalt überhaupt beworben habe. Die Miete allein | |
betrüge schon mehr als zwei Drittel meines Einkommens. Ich lerne: Die | |
Vorstellung von der Stadt als sozialem Raum für alle ist eine Utopie – eine | |
Wohnung mit U-Bahn-Anschluss muss man sich verdienen! | |
Und während ich gerade nachsehe, wie man nach elf Uhr abends noch vom | |
Stadtzentrum nach Germering fahren kann und ob meine Tochter in unter zwei | |
Stunden zur Schule käme, klingelt mein Handy, eine alte Dame ist dran. Ein | |
weltfremder Bekannter hat seiner Vermieterin mein Gesuch in den Briefkasten | |
geworfen. Sie sei nett, meinte der, vielleicht wäre ja im Haus noch etwas | |
frei. Was für ein Träumer! Verschwendet meine Zeit mit Steinzeitmethoden. | |
Am selben Abend stehen wir in einer Wohnung, doppelt so groß wie die | |
vorherige, direkt an der Isar. Die Vermieterin will keine Daten, sondern | |
sichergehen, dass uns die Wohnung gefällt. Eine Woche später ziehen wir | |
ein. | |
Erst jetzt bemerke ich, wie mich die Suche nach einer Wohnung verändert | |
hat. Das System hat mit den Schlüsseln gerasselt, ich habe gehorcht. Ohne | |
den rettenden Anruf hätte ich mich lachend in eine Wohnung in der Vorstadt | |
verdrängen lassen, mich inklusive Lügen, Frauenhass und Selbstaufgabe in | |
die Arme eines Nazi-Vermieters geworfen und ihm in Quasileibeigenschaft die | |
überzogene Monatsmiete herangeschafft. Freunden erzähle ich das nicht, | |
sondern wiederhole das sinnfreie Münchner-Mietermantra: „Ich habe einfach | |
Glück gehabt.“ | |
Jetzt könnte ich wieder ein besserer Mensch werden. Und vielleicht auch mal | |
an die denken, die nach vier Monaten immer noch kein Glück haben, die mit | |
ihrem nichtdeutschen Nachnamen oder ihren prekären Lebensverhältnissen | |
nicht einmal auf eine Einladung zum Besichtigungstermin hoffen können. | |
Außerdem hätte ich nun endlich Zeit mich aufzuregen, dass deutsche | |
Großstädte bald so urban sein werden wie die Las-Vegas-Pappmascheeversion | |
von Venedig. | |
Wichtig ist aber jetzt nur: Ich habe eine Wohnung. Und ich werde nie wieder | |
ausziehen. | |
2 Jul 2017 | |
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## AUTOREN | |
Quentin Lichtblau | |
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