# taz.de -- Asyl für Afghanen: Organisierte Ablehnung | |
> Hilfsinitiativen für geflüchtete Afghanen haben in Leipzig immer | |
> stärkeren Zulauf, seit der Bund gewisse Regionen des Landes für sicher | |
> hält. | |
Bild: Hunderte fordern bei einer Demo im März eine Bleibeperspektive für Gefl… | |
LEIPZIG taz | Drei Tage lang hat sie geweint. Drei Tage, nachdem der | |
Bescheid vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sie | |
aufgefordert hat, Deutschland in Richtung Afghanistan zu verlassen. | |
Schüchtern hat sich Roja* auf eine Seite des ausladenden Sessels in der | |
Bäckerei am Leipziger Augustusplatz geschoben. Sie will kleiner wirken, als | |
sie ist, schmaler, unauffälliger. Sie hat gelernt, sich zu verstecken. | |
„Frauen in Afghanistan haben keine Rechte“, sagt sie so leise, als wolle | |
sie auch ihre Stimme verstecken. | |
Zu zehnt haben sie sich auf den Weg gemacht: ihr Mann, seine zwei anderen | |
Ehefrauen und die Kinder. Drei Töchter hat Roja mit ihrem Mann – sie hängen | |
noch in einem Flüchtlingscamp in Griechenland fest. Ihre Familie stammt aus | |
Herat, einer Stadt im Westen Afghanistans. Erst im vergangenen November ist | |
Roja nach Leipzig gekommen, seit einem Monat besucht die 33-Jährige einen | |
Sprachkurs. Jetzt hat sie sich einen Anwalt genommen und Klage gegen den | |
Bamf-Bescheid eingereicht. | |
Roja ist eine von 1.653 afghanischen Staatsangehörigen, die derzeit in | |
Leipzig leben. Durch den Afghanistan-Deal vom Dezember 2016, der offiziell | |
„Rückübernahmeabkommen“ heißt, hat sich die Lage von vielen von ihnen | |
verschoben. Die politische Sicht in Berlin hat sich verändert. Demnach gibt | |
es in Afghanistan sichere Regionen, in die abgeschoben werden kann. Sachsen | |
hat sich dieser Linie bereitwillig angeschlossen. Zwar gab es im | |
vergangenen Jahr noch keine Abschiebungen von Leipzig nach Afghanistan – | |
und doch: „Die Anerkennungszahlen werden jetzt künstlich gedrückt, um der | |
Politik gerecht zu werden“, sagt Thomas Hoffmann vom Sächsischen | |
Flüchtlingsrat in Dresden. Im Jahr 2015 seien noch 78 Prozent aller Anträge | |
angenommen worden, derzeit nur noch 52 Prozent. | |
## Afghanistan ist kein sicheres Land | |
Die aktuelle Lageeinschätzung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten | |
Nationen UNHCR ist eindeutig: Es stellt in seinem Bericht fest, dass das | |
gesamte Staatsgebiet Afghanistans von einem „innerstaatlichen, bewaffneten | |
Konflikt“ im Sinne des europäischen Flüchtlingsrechts betroffen sei. | |
Aufgrund der sich ständig ändernden Sicherheitslage könne man gar nicht | |
zwischen sicheren und unsicheren Regionen in dem Bürgerkriegsland | |
entscheiden. | |
Das nährt unter den Geflüchteten die Angst, nach Afghanistan | |
zurückzumüssen: Mehrere Demonstrationen von afghanischen Geflüchteten hat | |
es in Leipzig gegeben, die kraftvollste am 25. März. Kurz danach besuchte | |
der afghanische Botschafter die Universität Leipzig, um Arbeiten der 2014 | |
von Taliban ermordeten Fotojournalistin Anja Niedringhaus zu ehren. | |
Thomas Könneker ist ein auf Asyl- und Ausländerrecht spezialisierter Anwalt | |
in der Leipziger Südvorstadt. Nach eigenen Angaben gewinnt er für seine | |
afghanischen Mandanten 20 bis 25 Prozent der Verfahren vor Gericht. Für | |
viele ist das die letzte Möglichkeit. Denn: „Die Afghanen werden jetzt vom | |
Bamf abgeschossen.“ An seinem makellos aufgeräumten Schreibtisch schiebt | |
Könneker die Stifte in der flachen Messingschale vor sich auf dem Tisch | |
penibel parallel zueinander, er formuliert seine Sätze schnörkellos und | |
spart nicht mit Kritik am Bamf und an der Politik der Bundesregierung: „Die | |
Situation in Afghanistan hat sich destabilisiert, und gleichzeitig sinkt | |
die Anerkennungsquote. Das sorgt für sehr viel Unruhe in der afghanischen | |
Community.“ | |
Hilfe und Unterstützung bekommen afghanische Geflüchtete auch von Farhad | |
Ahmadi. Im Dezember 2016 hat er das Leipziger Afghanistan-Forum (LAF) | |
gegründet. Seit einem Jahr und acht Monaten lebt der aus Kabul stammende | |
Asylsuchende in der Stadt. „Ich habe das Leid vieler Afghan*innen gesehen“, | |
sagt er. Ahmadi möchte sein Forum mit anderen Vereinen vernetzen, will | |
Strukturen und Angebote schaffen: Nachhilfestunden, Betreuungsplätze für | |
Kinder, damit auch die Mütter Sprachkurse besuchen können. Er ärgert sich | |
über die Behauptung von Innenminister Thomas de Mazière, in Afghanistan | |
gäbe es sichere Regionen. „Die Anschläge in Kabul zeigen, dass es nicht so | |
ist.“ | |
Nachdem er einen Ablehnungsbescheid bekommen hat, haben er und Roja sich | |
den gleichen Anwalt genommen. Obwohl er selbst nicht weiß, ob er bleiben | |
kann, will er auf die Situation aller afghanischen Geflüchteten aufmerksam | |
machen, ihnen helfen. „Es kann nicht sein, dass sie in die Hölle | |
zurückmüssen, der sie entkommen sind.“ | |
## Flucht mit gesundheitlichen Folgen | |
Ali* teilt diese Gedanken. Wie Roja möchte auch er nicht mit seinem | |
richtigen Namen in der Zeitung stehen. In der Leipziger Bäckerei sitzt er | |
im Sessel neben ihr. Mit seinem Schnauzer, der grauen Strickjacke und | |
Stoffhose, die auf den halboffenen schwarzen Seniorentretern liegt, könnte | |
er auch als einheimischer Rentner durchgehen. „Das Gesetz in Afghanistan | |
ist, dass es kein Gesetz gibt“, sagt er. „Kein Gesetz, kein staatliches | |
System, das für sein Volk da ist.“ | |
Ali redet sich in Rage: „Wird eine Frau vergewaltigt, ist sie selbst | |
schuld. Wer das Haus verlässt, hat keine Sicherheit, wieder zurückzukehren | |
– auch in Kabul nicht.“ Obwohl Alis Stimme vor Nervosität zittert, sind | |
seine Handbewegungen unaufgeregt und sanft, als habe er gelernt, sich auf | |
diese Weise zu beruhigen. Er erzählt, wie er mit seiner Frau, zwei Söhnen | |
und zwei Töchtern über das Mittelmeer flüchtete: In einem Boot mit rund 30 | |
Leuten, das kenterte – und wie das Meer all ihre Sachen verschluckte. Wie | |
sie draußen schliefen, hungerten, zwei Monate lang. | |
„Meiner Frau und mir war es egal, ob wir sterben“, stößt Ali hervor. Der | |
dünne Wasserfilm über seinen Pupillen zittert, als würden jeden Moment die | |
Tränen daraus hervorrollen. „Aber wir wollten eine Zukunft für unsere | |
Kinder.“ Die Flucht hat Ali und seiner Frau zugesetzt: Beide waren seitdem | |
oft stressbedingt krank, sie leiden unter psychischen Problemen. | |
Vergangenen Monat musste Ali sich einer Herzoperation unterziehen, aktuell | |
ist seine Frau im Krankenhaus. | |
Ihre vier Kinder sprechen bereits Deutsch, gehen zur Schule, ein Sohn | |
spielt Fußball im Verein. Sie alle haben eine Ablehnung bekommen. 30 Jahre | |
hat Ali in Iran gelebt, dann sollte er für den Krieg in Syrien eingezogen | |
werden. Als er sich weigerte, wollten die Iraner ihn nach Afghanistan | |
abschieben – so, wie jetzt die Bundesrepublik. Während des Gesprächs fasst | |
sich der 50-Jährige immer wieder an die Brust und atmet mehrmals tief | |
durch, bis er wieder besser Luft bekommt. | |
Rechtsanwalt Thomas Könneker sagt: „Das Asylrecht verlangt eine | |
individuelle landesweite Bedrohung.“ Konfrontiert mit den Geschichten von | |
Roja und Ali erklärt er: „Dass eine Frau eine Frau ist, genügt nicht – sie | |
müsste schon als Frauenrechtlerin aktiv geworden und deshalb bedroht worden | |
sein. Auch, wer über generelle Perspektivlosigkeit und die Hoffnung auf | |
eine bessere Zukunft spricht, hat keine guten Chancen.“ Die Rede sei dann | |
oft von „inländischen Fluchtalternativen“. Könneker findet diese „äuß… | |
fragwürdig“. Mittlerweile stammt jede*r zweite seiner Mandant*innen aus | |
Afghanistan. | |
## Unterstützung aus der Refugee Law Clinic | |
In der Südbrause, einem Café am Connewitzer Kreuz, treffen sich nach | |
Feierabend Thomas, 27, Katharina, 25, und Clara, 24. Die drei | |
Jura-Studierenden haben wie jeden zweiten Freitag mehrere Stunden lang mit | |
einem Team aus ehrenamtlichen Sprachmittelnden und Berater*innen | |
Geflüchtete in Asylrechtsfragen beraten. Sie gehören zur Refugee Law | |
Clinic, einer Beratungsstelle von Ehrenamtlichen, die sich 2014 gegründet | |
hat. In Kooperation mit der Universität Leipzig werden jährlich | |
Berater*innen ausgebildet; ein halbes Jahr besuchen sie eine Vorlesung in | |
Asyl- und Ausländerrecht, im anschließenden Semester ein Seminar, in dem | |
konkrete Fälle besprochen werden. „Der Bedarf ist zweifellos da, wir sind | |
immer extrem gut besucht“, sagt Katharina. | |
Die meisten Geflüchteten, die in die Beratung kommen, haben bereits einen | |
Ablehnungsbescheid erhalten. Dann sei es entscheidend, die Klagefrist | |
zwischen einer und zwei Wochen einzuhalten und sich einen Anwalt zu nehmen. | |
Gelegentlich beraten sie die Asylsuchenden auch schon vorher, bereiten sie | |
auf die Anhörung beim Bamf vor. „Sie haben nur diesen einen Termin, und | |
niemand erklärt ihnen vorher, wie wichtig der ist und welche ihrer | |
Schilderungen asylrelevant sind“, erklärt Katharina. Genau auf diese | |
Details, die viele aus Unkenntnis, Furcht oder Scham weglassen, komme es | |
aber oft an. | |
Zur Entscheidung der Bundesrepublik, Asylsuchende auch wieder nach | |
Afghanistan abzuschieben, möchte sich Roja nicht äußern. Verlegen schüttelt | |
sie die buschigen Haare, aus denen die blonde Farbe schon deutlich | |
herausgewachsen ist. Sie glaubt, eine Meinung dazu stünde ihr nicht zu. Sie | |
sagt nur: „Nirgendwo in Afghanistan ist es sicher. Das Geld bestimmt alles, | |
und der Staat hilft den Mittellosen nicht.“ Als sie die Bäckerei verlässt, | |
verschwindet sie schnell in der Masse von Passanten. | |
*Namen geändert | |
14 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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