# taz.de -- Pro und Contra Landkreis-Abschaffung: Ist weniger mehr? | |
> Beim Dauerthema Kreisgebietsreform streiten sich die Geister. Wäre es die | |
> bessere Alternative, die Kreise gleich ganz abzuschaffen? | |
Bild: Thüringen (hier im Bild der Naturpark Hainich) diskutiert derzeit über … | |
JA | |
Die Beteiligung an der Wahl zum Landrat in Kassel 2015: 26,3 Prozent. Im | |
hessischen Wetterau waren es ein Jahr zuvor 28,8 Prozent. In meiner Heimat | |
Nordfriesland gingen bei der Stichwahl 2007 23,3 Prozent der | |
Wahlberechtigten an die Urnen. Und im brandenburgischen Landkreis | |
Oder-Spree nahmen Ende 2016 gar nur19 Prozent der Wahlberechtigten an der | |
Stichwahl um das Amt des Landrats teil. | |
Die Konsequenzen: In Nordfriesland wurde die Direktwahl des Landrats | |
abgeschafft. Im Kreis Oder-Spree wurde die Wahl für gescheitert erklärt, | |
weil der Sieger nicht einmal 15 Prozent aller Wahlberechtigten auf sich | |
vereinen konnte. In Brandenburg war es seit 2010 die neunte von 14 direkten | |
Landratswahlen, in denen das Quorum nicht erreicht wurde. | |
Was sagt uns das? Dass Liebe entweder tatsächlich blind macht und die | |
Menschen die Wege zu den Wahllokalen nicht mehr finden lässt oder dass die | |
Liebe zum eigenen Landkreis doch nicht ganz so groß ist, wie immer | |
behauptet wird, wenn wieder irgendwo eine Kreisgebietsreform ansteht. | |
Warum also – wenn die Identifikation nicht mal mehr ausreicht, um auf einem | |
Zettelchen ein Kreuz zu machen – diese Verwaltungsebene nicht ganz | |
abschaffen? Bund, Land, Gemeinde oder Stadt – das reicht. | |
Jede Aufgabe, die aktuell die Kreise erledigen, könnte auch von den | |
Gemeinden oder dem Land geschultert werden. Die Verkehrsplanung kann das | |
Land übernehmen. Und um Soziales, Notdienste, Krankenhäuser oder Schulen | |
kümmern sich dann halt nur noch die Gemeinden. Machen sie ja teilweise | |
jetzt schon. Warum soll ich mein Auto nicht bei der Gemeinde zulassen? Bei | |
Nummernschildern – da wurde es bei allen Gebietsreformen nämlich immer | |
richtig emotional – kann doch eh mittlerweile jeder machen, was er will. | |
Und es ist mir doch egal, ob mir der Landrat oder der Bürgermeister meinen | |
Führerschein ausstellt. | |
Die Kämmerer der Kreise machen doch jetzt schon nichts anderes, als Geld, | |
das ihnen über die Umlage von den Gemeinden oder Ländern zugeflossen ist, | |
zu zählen und zu verteilen. Warum dieses Geld nicht gleich bei den Ländern | |
oder Gemeinden belassen und ihnen die Aufgaben übertragen? Die eigenen | |
Einnahmen der Kreise reichen schließlich hinten und vorne nicht. | |
Wenn all diese Aufgaben in den Händen der Gemeinden lägen, würden endlich | |
teils absurde Doppelstrukturen abgeschafft: Warum stelle ich meinen | |
Bauantrag bei der Gemeinde, die sich dann aber mit der | |
Kreis-Denkmalschutzbehörde auseinandersetzen muss? Wieso braucht es auf | |
jeder Ebene eine Schulverwaltung? | |
Die Abschaffung der Kreise würde die Verwaltung deutlich – Achtung! | |
Schlimmes neoliberales Adjektiv! – effizienter machen. Und das ohne einen | |
großen Kahlschlag, denn betriebsbedingte Kündigungen wird es nicht geben. | |
Wir sind hier schließlich im öffentlichen Dienst. Das Ganze wäre ein lange | |
dauernder Prozess, in dem Kreisbedienstete ihre Arbeit zukünftig halt fürs | |
Land oder die Gemeinde verrichteten. | |
Und – keine Sorge – Krankenhäuser müssten auch nicht deswegen dran glaube… | |
weil es die Kreisverwaltung nicht mehr gäbe. Und der Müll würde weiter | |
abgeholt. Die kreisfreien Städte machen es ja bereits vor, dass es auch | |
ohne Kreise geht. | |
Warum also noch Landkreise? Weil Politik erfahrbar bleiben muss, heißt es | |
oft, nah dran an den Leuten und so. Das stimmt. Dafür sind Kreise gut. | |
Zumindest waren sie das mal, damals, im 19. Jahrhundert, als Preußen noch | |
seine Landräte auf Kutschen losschickte – und die Daumen drückte, dass kein | |
Gaul lahmte und die Achsen nicht brächen, auf dass alle Amtsgeschäfte zügig | |
im Sinne des Königs erledigt würden. | |
Heute können gestärkte Gemeinden diese Bürger- und Politiknähe viel besser | |
leisten – vor allem, wenn sie nichts mehr an den Kreis abdrücken müssten. | |
Und das Beste: Wenn die Kreise erst mal abgeschafft sind, brauchen wir uns | |
nie wieder über Kreisgebietsreformen zu ärgern. | |
(Jürn Kruse) | |
## NEIN | |
Der 19. Bundestag, der nach dem 24. September zusammentritt, wird der | |
größte seit 1949 sein. An die 700 Abgeordnete werden dann wohl im Reichstag | |
Platz nehmen. An Volksvertretern mangelt es nicht. Jedenfalls nicht am | |
oberen Ende des Gemeinwesens. Am unteren verschwinden Dutzende, Hunderte | |
Mandate, kaum dass es jemand bemerkt. Und mit jeder Kreisreform werden es | |
noch weniger. Im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte, dem seit 2011 | |
größten Kreis Deutschlands, sitzen im Kreistag noch 77 Volksvertreter. | |
Zuvor waren es für dieselbe Fläche noch weit über hundert. Je weniger | |
Kreise, desto weniger Mitbestimmung. Die Kreise ganz abschaffen? Unsinn! Es | |
gibt nicht zu viele, sondern zu wenige Kreise. | |
Schlanke Verwaltung, E-Government, bestmögliche Kosteneffizienz – es ist | |
ein merkwürdiger Sound, dem aktuell die Landesregierungen von Brandenburg | |
und Thüringen verfallen sind. Zuvor hat es schon die SPD/CDU-Koalition in | |
Mecklenburg-Vorpommern um den Verstand gebracht. Sein Background: Je größer | |
die Landkreise, desto sparsamer die Verwaltung. Doch in | |
Mecklenburg-Vorpommern sind die neuen Kreise vier Jahre nach der Reform | |
tiefer verschuldet, als es die alten je waren. | |
Verwaltung kostet Geld. Und kommunale Selbstverwaltung, die Mitsprache der | |
Bürger in kommunalen Angelegenheiten und die Kontrolle der Verwaltung, | |
kostet noch mehr Geld. Doch das ist gut angelegt. Es gibt Enthusiasten, die | |
bezeichnen die kommunale Selbstverwaltung als „Demokratie-Nukleus“. Wo, | |
wenn nicht in den Landkreisen, in den Städten und Gemeinden, ist | |
Mitbestimmung konkret erlebbar? | |
Es geht um die Res Publica, um die öffentliche Sache. Es geht um den | |
Nahverkehr, um Gymnasien, um Volkshochschulen, um die Müllabfuhr, das | |
Rettungswesen, den Katastrophenschutz. Es geht um Museen, Theater, Straßen. | |
Es ist nicht wenig, was die Kreistage entscheiden müssen. Und Angela | |
Merkels „Wir schaffen das!“ wäre 2015 vollends versandet ohne die | |
Landkreise, ohne kommunale Basis und ohne die Menschen, die sich in ihrem | |
Umfeld engagieren. | |
Wo, wenn nicht in den Kreisen, Städten und Gemeinden, werden die | |
Volksvertreter auf der Straße, an der Kasse, an der Zapfsäule angesprochen? | |
Doch mit jeder Kreisreform sinkt nicht nur die Zahl der Mandate. Es sinkt | |
auch die Zahl derer, die neben Beruf und Familie überhaupt noch Politik | |
betreiben können. Wer hat Zeit, am Abend die 80 Kilometer zur | |
Kreistagssitzung zu fahren? Familienväter? Alleinerziehende Mütter? | |
Landwirte? Es sind Rentner. Und es sind Bürgermeister, Landtagsabgeordnete, | |
Mitarbeiter im öffentlichen Dienst und der Verwaltung. | |
Wo das Ehrenamt ausgehöhlt wird, wächst die Macht der Verwaltung. Muss die | |
Musikschule saniert werden? Regnet es durchs Dach? Wer keine Ortskenntnis | |
mehr hat, entscheidet nach Vorlage aus dem Landratsamt. Die | |
„administrative Gewalt“ stülpt sich über die Idee der kommunalen | |
Selbstverwaltung. Je größer und je zentraler die Verwaltung, desto | |
mächtiger sind die, die darin arbeiten. | |
In der DDR wurde dieser Zustand als „demokratischer Zentralismus“ | |
verherrlicht. Verwaltung hieß schlicht „Staatsapparat“ – eine Maschine, … | |
ganz ohne Kontrolle auskam. Kommt nicht wieder? Von wegen. An | |
maschinengeschriebene Briefe vom Amt ohne jede Unterschrift haben sich die | |
Menschen schon gewöhnt. Man kann die Verwaltung auch ganz vom Computer | |
erledigen lassen. Dann entscheiden Algorithmen über den Bauantrag. | |
Wo sich der Staat aus der Fläche zurückzieht, bleibt Raum. Es ist kein | |
Zufall, dass die AfD bei der letzten Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern | |
fast 21 Prozent geholt hat. Und dass in abgelegenen Dörfern Menschen | |
plötzlich eine Reichsgrenze um ihren Hof ziehen, weil sie glauben, eine | |
anonyme Macht bedrohe sie, sollte dann auch keinen mehr wundern. Die | |
kommunale Selbstverwaltung ist das Fundament der Demokratie, man sollte es | |
pflegen. Und die Kreise spielen dabei eine wichtige Rolle. | |
(Thomas Gerlach) | |
1 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Jürn Kruse | |
Thomas Gerlach | |
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