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# taz.de -- Kreisgebietsreform in Brandenburg: Der Sturm auf das Schloss
> Die rot-rote Landesregierung will die Zahl der Landkreise verringern.
> Fusionen zeigen: Mit der räumlichen Distanz wächst auch die politische.
Bild: Mit der Ziffer 2 in der Hand: Hans Lange
Potsdam/Premslin/Nossentiner Hütte taz | „Wie heißt es? Eine Idee wird zur
materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ Über Hans Langes
Gesicht huscht ein Lächeln. „Aber so weit ist es noch nicht“, besinnt sich
der 66-Jährige und kassiert die Prophezeiung gleich wieder ein. Eine Stunde
schon hat Hans Lange, Landrat der Prignitz a. D., gegen die Landesregierung
angeredet, mit ihren Plänen, das Land neu zuzuschneiden, er hat Papiere
ausgebreitet, nebenbei den Bollerofen gefüttert, dass die Funken stoben,
und sich wieder ins Sofa fallen lassen. Und dann zitiert er, der
Christdemokrat, der sich eigentlich von den Zehn Geboten leiten lässt, wie
die Regionalzeitung weiß, Karl Marx. Keine schlechte Idee, der SPD und der
Linkspartei der Potsdamer Koalition mit dem Revolutionär aus Trier zu
drohen.
Es stürmt in der Prignitz im äußersten Nordwesten Brandenburgs. Wolkenberge
fegen über Langes Kopf hinweg und zerzausen ihm doch nicht das Haar, gerade
so, als stünde Lange im Auge des Orkans. Dabei hat er in das Dach seines
Eigenheimes bloß einen Wintergarten gesetzt, eine verglaste Spitze mit
Fernseher und Holzofen. Hier werden die Gedanken von ganz allein weit, groß
und unbotmäßig. Lange ist Kopf der Volksinitiative „Bürgernähe erhalten �…
Kreisreform stoppen“ und damit ihr Rädelsführer.
Einen entscheidenden Teil der „Massen“ hat Lange schon um sich geschart.
129.464 Brandenburgerinnen und Brandenburger haben mit ihrer Unterschrift
gegen die Landesregierung aufbegehrt, die Brandenburg neu zuschneiden will.
Unter dem Slogan „bürgernah, effektiv und zukunftsfest“ will die rot-rote
Koalition Landkreise verschmelzen, drei kreisfreie Städte Kreisen zuordnen
und neue Kreisstädte bestimmen. Kurzum – ein neues Brandenburg soll her. An
dem alten mit seinen 14 Kreisen scheint die Regierung von Ministerpräsident
Dietmar Woidke (SPD) keine Freude mehr zu haben.
Ein Leitbild soll der Vision Schwung verleihen, Worte wie
„Neustrukturierung“, „Leistungsfähigkeit“ und „kommunale Selbstverwa…
signalisieren Dynamik. Der SPD-Innenminister lockt mit Geld und der
Aussicht, dass die Kreistage mehr zu entscheiden hätten. Dass es weniger
Kreistagsmitglieder geben wird, die entscheiden könnten, behält er für
sich. Brandenburg soll schließlich das nachholen, was Sachsen,
Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern schon hinter sich haben.
Insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern sind manche Landkreise seitdem
größer als anderswo Bundesländer. Da kommen schon 100 Kilometer und mehr
für eine Fahrt in die nächste Kreisstadt zusammen.
## Bürgernah, effektiv und noch irgend etwas
„Bürgernah, effektiv …“ Lange blickt in die Wolken. „Da war doch noch …
Dann macht er eine wegwerfende Handbewegung. Nicht alles lässt sich so
hübsch in PR-Watte packen wie die Werbung aus Potsdam. „Was ist das
Problem? Erstens: eine große Strukturschwäche. Zweitens: die Demografie.
Drittens: die Verwaltung.“ Es fehlt an Einwohnern, es fehlt an Steuern, und
die Verwaltung kostet zu viel.
Warum sollten größere Landkreise daran etwas ändern? Lässt sich ein Leiden
lindern, wenn sich zwei Gebrechliche zusammentun? Sollte man nicht die
Kreise, so wie sie sind, „zukunftsfest“ machen? Lange sieht den Landkreis
Prignitz auf einem guten Weg. Die Einwohnerzahl wachse seit mehreren Jahren
wieder, der Schuldenstand nehme deutlich ab. Und er lobt die flache
zweistufige Hierarchie der Verwaltung. Die neuen Kreisverwaltungen müssten
dreistufig organisiert sein, dezentral.
Die Mitarbeiter wären mehr auf der Straße und weniger im Büro – auf Kosten
der Kreisverwaltung. Es sei denn, man könnte fliegen, wie dieser Vogel da
oben. Ist das der rote Adler? Nein, Lange schüttelt den Kopf, es ist nicht
das brandenburgische Wappentier. Ein Kranich segelt über das Glasdach
hinweg. Flöge er nach Potsdam, könnte er Langes Anklage mitnehmen. Wäre
aber nicht nötig. Lange ist selbst oft in der alten preußischen Residenz.
## Preußens Gloria
Jetzt, wo das Potsdamer Stadtschloss, in dem der Landtag zusammentritt, so
schön in Altrosa über der Havel aufragt, scheint auch wieder ein bisschen
von der alten preußischen Gloria zurück, und das liegt nicht nur an dem
Blattgold und der herrschaftlichen Auffahrt. Seit 27 Jahren stellt die SPD
den Regierungschef. Das prägt ein Land. Kein Wunder, dass die
Volksinitiative die Idee von CDU, FDP und Freien Wählern ist. Es hat etwas
von außerparlamentarischer Opposition.
Im Februar ist Lange mit seinen Getreuen in das Schloss einmarschiert wie
die Matrosen ins Winterpalais. Sie hatten allerdings nur Kartons unterm
Arm. Landtagspräsidentin Britta Stark von der SPD begrüßte die Abordnung
mit herbem Lächeln und nahm die Listen mit den 129.464 Unterschriften im
Empfang. Dabei hätten 20.000 den formalen Vorgaben genügt. Die SPD stand
offenbar so unter Schock, dass sie Zweifel säte an der Rechtmäßigkeit der
Initiative und Juristen vorschickte, diese zu prüfen. Alles rechtmäßig,
beschied der Parlamentarische Beratungsdienst des Landtags Anfang März.
Zweifel bestehen eher an der Sinnhaftigkeit der Reform und der neuen
Verwaltung. „Es geht ja nicht nur um Verwaltung, es geht auch um das
Ehrenamt“, erinnerte Hans Lange bei der Übergabe im Landtag. Wer soll, wer
kann Verwaltung dann noch kontrollieren? Der Kreistag? Allein die Vorlagen
zur Reform, die Kreistagsmitglied Lange durcharbeiten musste, türmen sich
zu über 800 Seiten. Und dann hat sich Lange, ursprünglich Technischer
Leiter in einer LPG, zu einer Gefühlswallung hinreißen lassen. „Wenn sich
Demokratie und Betroffenheit paaren, kommt was Gutes dabei heraus!“, rief
er ins Foyer. Es gab dafür kurzen, heftigen Applaus.
## Nächste Station Volksentscheid
Am 30. März wird Lange wieder nach Potsdam fahren. Dann muss ihn der
Innenausschuss in öffentlicher Sitzung anhören. Dieses Recht hat sich die
Initiative mit ihren Unterschriften erkämpft. Danach stimmt der Landtag
ab. Bleibt der mit rot-roter Mehrheit bei seiner Haltung, startet das
Volksbegehren. Binnen sechs Monaten müssen die Fusionsgegner 60.000
Unterschriften sammeln, diesmal nicht auf der Straße und beim Bäcker,
sondern in Ämtern – das Volksbegehren. Wird auch das vom Landtag
abgeschmettert, kommt es zum Volksentscheid. Bei einer Umfrage im Dezember
2016 haben sich 69Prozent gegen die Kreisreform ausgesprochen.
Würde die CDU anders handeln, wäre sie an der Regierung? In Brandenburg und
Thüringen kämpft sie derzeit entschlossen gegen die Reformen. Auch in
Mecklenburg-Vorpommern war sie strikt dagegen – bis sie als Juniorpartner
in die Regierung eintrat. 2011 hat CDU-Innenminister Lorenz Caffier die
Reform durchgedrückt. „Jede Landesregierung versucht, die Verwaltung
billiger zu machen“, sagt Hartwig Kurth. Ganz gleich ob SPD, Linkspartei
oder CDU den Ministerpräsidenten stellen.
Kurth, 66 Jahre alt, Landwirt mit einer Herde Angusrindern und einem
kleinen Landhandel in seinem Heimatdorf Nossentiner Hütte, ist rühriger
Kommunalpolitiker. Seit 2000 ist er im Kreistag, zunächst im Landkreis
Müritz, ab 2011 im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Kurth war einer
der Köpfe des Widerstands gegen die Kreisfusionen. Genutzt hat es nichts.
## Entfremdete Institutionen
Wie viele Schulden der Landkreis derzeit hat? Kurth kratzt sich am Schädel.
„Müssten so 90 Millionen sein. Wir hatten im Landkreis Müritz 8 Millionen.�…
Aber vielleicht ist das gar nicht das Schlimmste. Kurth sitzt in seiner
Küche. Anderes lässt sich wesentlich schlechter beheben. „Das Schlimmste
ist eigentlich, dass sich in den Köpfen der Menschen der Landkreis sehr
weit entfernt hat“, sagt Kurth. Das Interesse an den Sitzungen ist
verflogen. Besucher kommen höchstens, wenn etwa die Gebührensatzung für die
Musikschule beschlossen wird. „Aber bei der Kreisumlage, die viel
einschneidender ist, ist keine Socke mehr da.“
Die Kreisumlage ist der Beitrag, den jede Gemeinde an den Landkreis
überweisen muss, damit dieser arbeiten kann. Ein ewiges Reizthema. „Wenn es
um die Kreisumlage ging, saßen uns die Bürgermeister im Nacken und haben
genau geguckt, wie die einzelnen Kreistagsmitglieder abgestimmt haben.“
Kurth wird lebhaft. Heute sehe er kaum noch einen Bürgermeister.
## „Sparen Gebietsreformen Geld?“
Wer will, kann das alles in Ruhe nachlesen. Es gibt Studien zu den Folgen
von Gebietsreformen, ihr Fazit ist einhellig. Kurth hat den Überblick auf
dem Tisch ausgebreitet, die Zeitschrift des Städte- und Gemeindetages von
Mecklenburg-Vorpommern. „Das war so richtig Wasser auf meine Mühlen.“ Kurth
wird sarkastisch. „Sparen Gebietsreformen Geld?“, liest er laut aus einer
Studie des Ifo-Instituts. „Nein!“ Das meiste Geld gehe für Sozialleistungen
drauf und richte sich nach der Zahl der Bedürftigen, nicht nach
Quadratkilometern. Auch arbeite die Verwaltung nicht effizienter.
„Das Aufgehen in größere Strukturen bringt eine gewisse Heimatlosigkeit mit
sich“, liest Kurth vor. Das Vertrauen in die Demokratie sinke und „treibe
die Menschen möglicherweise sogar in Richtung populistischer Parteien“.
Kurth hat diesen ganzen Absatz fett mit Kuli angestrichen, wie eine
Offenbarung. Kurth, als Gründer und Chef des Sport- und Freizeitvereins
Nossentiner Hütte eine lokale Größe, trat wegen der Kreisfusion aus der CDU
aus. Im neuen Kreistag saß er für die Freien Wähler. Vor einem Jahr zog er
weiter. Seitdem ist er der Fraktionsvorsitzende der AfD im Kreistag.
21 Mar 2017
## AUTOREN
Thomas Gerlach
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