| # taz.de -- Jean Ziegler über Hunger in Afrika: „Es gibt genügend Nahrungsm… | |
| > Welweit sind eine Milliarde Menschen schwerst unterernährt. Schuld daran | |
| > sind reiche Staaten und Spekulanten, sagt Soziologe Jean Ziegler. | |
| Bild: Eine Mutter aus dem Südsudan fürchtet um das Leben ihres Babys | |
| taz: Herr Ziegler, Sie sind vor Jahrzehnten berühmt geworden mit einem | |
| Satz: „Ein Kind, das in diesem Moment an Hunger stirbt, wird ermordet.“ Nun | |
| warnen die UN vor der größten Hungerkrise seit ihrem Bestehen. | |
| Jean Ziegler:Damals wie heute gilt: Es gibt keinen objektiven Mangel an | |
| Nahrungsmittel auf der Welt mehr. Das Problem ist nicht die fehlende | |
| Produktion, sondern der fehlende Zugang und die fehlende Kaufkraft. Das ist | |
| die Ursache für den strukturellen Hunger, das tägliche Massaker, das der | |
| Wirtschaftsordnung der sogenannten unterentwickelten Länder implizit ist. | |
| Was bedeutet das? | |
| Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Afrika ist der | |
| proportional am schwersten geschlagene Kontinent: Jeder Dritte der rund | |
| eine Milliarde Afrikaner ist permanent schwerst unterernährt. Die höchsten | |
| Opferzahlen aber gibt es in Asien: Dort sind über 650 Millionen Menschen | |
| permanent schwerst unterernährt. Insgesamt gilt dies für eine Milliarde | |
| Menschen – jeden siebten auf diesem Planeten. Sie haben deshalb kein | |
| Sexualleben, kein Arbeitsleben, nichts. Diese Menschen sind verzweifelt, | |
| sie haben Angst vor dem nächsten Tag. | |
| Warum ist das so? | |
| Die heutige Landwirtschaft könnte problemlos zwölf Milliarden Menschen | |
| ernähren – also fast das doppelte der aktuellen Weltbevölkerung. Zum | |
| strukturellen Hunger aber kommt noch der konjunkturelle Hunger hinzu. Der | |
| tritt meist in den schwächsten Staaten auf. Es handelt sich um den | |
| plötzlichen Totalzusammenbruch einer Wirtschaft. Die Bauern können weder | |
| säen noch ernten, die Transportwege sind nicht benutzbar, es kommt zu einer | |
| Heuschreckenplage oder Ähnlichem. | |
| Gilt das auch für Ostafrika, wo die Lage gerade zu eskalieren droht? | |
| Die aktuelle Hungersnot in Ostafrika ist im Südsudan, in Somalia, im Norden | |
| Kenias und dem Jemen besonders akut. In diesen Tagen sind dort 23 Millionen | |
| Menschen unmittelbar vom Hungertod bedroht. Sie leiden nicht nur an Hunger, | |
| sie haben auch oft keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Dazu kommt, dass | |
| Südsomalia und der Südsudan von einer fürchterlichen Choleraepidemie | |
| heimgesucht werden. | |
| Warum können die internationalen Hilfsorganisationen nichts dagegen tun? | |
| Das Welternährungsprogramm (WFP) ist praktisch gelähmt. Ich war acht Jahre | |
| lang Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung; ich kenne die | |
| sogenannten Pledging-Konferenzen … | |
| … die Geberkonferenzen … | |
| … in- und auswendig. Sie finden entweder in Rom statt, wo die FAO ihren | |
| Sitz hat, oder in Genf. Dabei erklären die Verantwortlichen des WFP die | |
| Situation und verkünden, welche Hilfeleistungen in welchen Ländern | |
| gebraucht werden. Die Industriestaaten sagen dann, wie viel sie geben | |
| wollen. Auf der Konferenz vom 23. März hat das WFP vier Milliarden Dollar | |
| für die Zeit bis September 2017 gefordert. Dies sei die minimale Summe, die | |
| für den Abwurf der Hilfsgüter mit Fallschirmen sowie für die Lieferung mit | |
| Lastwagen gebraucht würde. Bekommen hat es aber nur 262 Millionen Dollar. | |
| Das Todesurteil für Millionen von Menschen ist also am 23. März gefallen. | |
| Und was letztendlich davon bezahlt wird, ist noch eine andere Frage – | |
| meistens reduziert sich der Betrag dann noch weiter. | |
| Warum gibt der Westen nicht mehr Geld? | |
| Die Geberstaaten geben vor, eigene Probleme zu haben, und sagen, dass sie | |
| nicht mehr bezahlen können oder wollen. Der zweite Grund ist, dass die | |
| Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel, also Mais, Reis und Getreide, die | |
| zusammen drei Viertel der weltweit konsumierten Nahrung abdecken, in den | |
| letzten Monaten explodiert sind. Ein Grund dafür sind die | |
| Börsenspekulationen mit Lebensmitteln. Ich hatte schon eine Reihe von | |
| Gerichtsprozessen am Hals, weil ich diese Dinge wiederholt angeprangert | |
| habe. Ich sage es dennoch wieder: Hedgefonds, große Banken, darunter auch | |
| die Deutsche Bank, machen astronomische Profite mit der Börsenspekulation | |
| auf Grundnahrungsmittel. Diese Börsenspekulationen sind legal. Aber wenn | |
| die Preise hoch sind, kann das WFP nicht genügend Vorräte kaufen. Das wäre | |
| aber dringend notwendig, denn die UNO produziert ja nichts. Sie | |
| transportiert die Güter lediglich zu den Opfern. | |
| Es heißt oft, der eigentliche Grund für die Hungerkatastrophen heute seien | |
| Kriege. | |
| Wir erleben in der Tat den fürchterlichen Aggressionskrieg von | |
| Saudi-Arabien gegen den Jemen, außerdem herrscht im jüngsten | |
| UNO-Mitgliedstaat Südsudan Krieg zwischen den Nuer und den Dinka. Die | |
| Vetomächte lähmen die Handlungsmöglichkeiten der UN in den verschiedenen | |
| Kriegsgebieten total. Es gibt deshalb keinen multilateralen | |
| Blauhelm-Einsatz mit einem starken Mandat im Südsudan. Außerdem konnte | |
| nicht durchgesetzt werden, dass ein humanitärer Korridor oder eine | |
| Flugverbotszone über Wohngebieten eingerichtet wird. Grund dafür ist das | |
| chinesische Veto – 11 Prozent des von China importierten Erdöls kommt aus | |
| dem Sudan. Im Jemen wiederum verhindert das angedrohte US-amerikanische | |
| Veto, dass Flugverbotszonen eingerichtet werden. Saudi-Arabien führt dort | |
| einen fürchterlichen Vernichtungskrieg gegen die schiitische | |
| Zivilbevölkerung. Wegen des US-Vetos ist eine Präsenz der UN auch hier | |
| ausgeschlossen. | |
| Wie kann die Zivilgesellschaft die reichen Staaten davon überzeugen, ihrer | |
| humanitärer Verpflichtung nachzukommen? | |
| Die Zivilgesellschaft, die aus all den vielfältigen Bewegungen | |
| zusammengesetzt ist, aus den Kirchen, den Gewerkschaften und den NGOs, die | |
| an ganz verschiedenen Fronten gegen die kannibalische Weltordnung und gegen | |
| die Staatsraison Widerstand leisten – diese Zivilgesellschaft ist das neue | |
| historische Subjekt. Sie ist die Hoffnungsträgerin. Ich bin der andere, der | |
| andere ist ich – diese einfache Feststellung ist der Motor des | |
| zivilgesellschaftlichen Aufstandes. | |
| Und gegen wen müsste der sich richten? | |
| Es geht nur am Rande um die Staatschefs. Nach Zahlen der Weltbank vom | |
| letzten Jahr haben die 500 größten transnationalen Privatkonzerne mehr als | |
| die Hälfte aller auf der Welt in einem Jahr produzierten Reichtümer | |
| kontrolliert. Diese Konzerne entschwinden jeglicher sozialstaatlicher, | |
| gewerkschaftlicher oder parlamentarischer Kontrolle. Sie können zwar auch | |
| sehr viel – beispielsweise beherrschen sie den | |
| wissenschaftlich-technologischen Fortschritt. Aber sie haben nur ein | |
| einziges Aktionsprinzip und eine einzige Strategie: Profitmaximierung in | |
| möglichst kurzer Zeit. Diese Konzerne haben heute eine Macht, wie sie nie | |
| ein Kaiser, nie ein König zuvor auf diesem Planeten gehabt hat; sie sind | |
| stärker als alle Staaten. Es handelt sich um ganz schmale Oligarchien, die | |
| unglaublich mächtig sind. Doch ihnen gegenüber gibt es nun ein neues | |
| historisches Subjekt, nämlich die planetarische Zivilgesellschaft. Sie wird | |
| auch beim G-20-Gipfel im Juli in Hamburg präsent sein. Ich selbst werde | |
| auch kommen und sprechen. Hamburg ist der Ort, an dem der Widerstand | |
| formiert wird. | |
| 19 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Dieter Alexander Behr | |
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