# taz.de -- Jenseits des Nationalstaats: Ungeheuer aus Kapital | |
> „Die Jetztzeit der Monster“. Eine Tagung am Berliner Haus der Kulturen | |
> der Welt erkundete, was nach den Nationalstaaten kommen könnte. | |
Bild: Ausschnitt des Veranstaltungsplakats von „Die Jetztzeit der Monster –… | |
Die NSU-Morde waren eine Serie monströser Taten. Wenn man ein Beispiel aus | |
Deutschland sucht, um zu demonstrieren, was gegenwärtig aus den Fugen | |
geraten ist, landet man schnell beim „Nationalsozialistischen Untergrund“ | |
und seinem menschenverachtendem Terror. | |
Die NSU-Morde erwähnte auch Bernd M. Scherer, Intendant des Berliner Hauses | |
der Kulturen der Welt, als er am Donnerstag die Tagung „Jetztzeit der | |
Monster“ eröffnete. Deren Titel zitiert den italienischen Philosophen | |
Antonio Gramsci: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht | |
geboren: Es ist die Zeit der Monster.“ | |
Monster, erinnerte Scherer, sind Geschöpfe, die antagonistische | |
Eigenschaften in sich verbinden. Zugleich zeigt sich an ihnen etwas – das | |
Wort leitet sich vom lateinischen „monstrare“ ab –, sie sind Symptome, we… | |
man so möchte. Das Gegenwartssymptom, dem sich die Tagung vornehmlich | |
widmete, war das Nationalstaatensystem, das nach der Pariser | |
Friedenskonferenz 1919 entstand. | |
Wie Katrin Klingan, Leiterin des Bereichs Literatur, Gesellschaft, | |
Wissenschaft am HKW und eine der drei Kuratorinnen der Tagung, in ihrer | |
Einleitung ankündigte, war eines der Ziele von „Die Jetztzeit der Monster“, | |
einen „Denkraum“ jenseits des nationalstaatlichen Rahmens zu schaffen. Dazu | |
gehörte zunächst einmal zu analysieren, wie das Nationalstaatensystem | |
andere politische Konzepte ablöste. | |
Am Donnerstag hatte etwa der indische Rechtswissenschaftler Lawrence Liang | |
Gelegenheit, auf den Tag genau an ein Ereignis von vor 70 Jahren zu | |
erinnern, die Asian Relations Conference, die am 23. März 1947 in Neu-Delhi | |
begann, mit Jawaharlal Nehru, dem Premierminister der indischen | |
Übergangsregierung, als Gastgeber. | |
## Nationalismus und Migration | |
Die Konferenz, auf der Unabhängigkeitsbewegungen des asiatischen Raums | |
zusammenkamen, widmete sich vornehmlich den Fragen des Nationalismus und | |
der Migration. Nehru betrachtete den Nationalismus als Reaktion auf den | |
Kolonialismus, der die Staaten im asiatischen Raum zunehmend isoliert habe. | |
Migration hatte dort bis 1947 zu starken ethnischen Konflikten geführt. Vor | |
allem in Indien, mit der Folge, dass Indien bei seiner Unabhängigkeit von | |
der britischen Krone im August 1947, wenige Monate nach der Konferenz, in | |
Indien und Pakistan aufgespalten wurde. | |
Eine ähnliche Verknüpfung von Nationalismus und Migration konstatierte der | |
Historiker Cemil Aydin von der University of North Carolina. Aydin schlug | |
gleich eingangs einen Bogen zur Gegenwart: Die gefährlichen Reisen | |
syrischer Geflüchteter über das Mittelmeer heute habe es in ähnlicher Form | |
schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben, als in der Folge des | |
Griechisch-Türkischen Krieges Millionen von Griechen und Türken zwischen | |
1922 und 1926 das Mittelmeer in beiderlei Richtungen überquerten. | |
Aydin zeichnete die Verwerfungen nach, die den Prozess begleiteten, in dem | |
das Osmanische Reich durch ein Nationalstaatensystem panislamischer Art | |
abgelöst wurde, in dessen Verlauf einerseits Massaker, wie das 1915 an den | |
Armeniern verübte, im Namen des Nationalismus gerechtfertigt wurden und | |
andererseits die Idee aufkam, dass Europa kein Ort für Muslime sei, weshalb | |
die in Griechenland lebenden Türken schließlich des Landes verwiesen | |
wurden. | |
## Eine heute undenkbare Entscheidung | |
Der Polarforscher und spätere Diplomat Fridtjof Nansen, so Aydin, sei | |
maßgeblich für die ethnische Trennung von Türken und Griechen | |
verantwortlich gewesen, als er im Auftrag des Völkerbunds nach dem | |
Griechisch-Türkischen Krieg in Konstantinopel über die Rückführung | |
griechischer Flüchtlinge verhandelte. Für seinen Einsatz erhielt er 1922 | |
den Friedensnobelpreis – eine heute undenkbare Entscheidung, so Aydin. | |
Da widersprach ihm tags darauf der portugiesische Soziologe Boaventura de | |
Sous Santos im Gespräch mit der syrischen Journalistin und Bürgerrechtlerin | |
Samar Yazbek. Vom Friedensnobelpreis für Nansen zog er eine Parallele zur | |
Ehrung Barack Obamas mit dieser Auszeichnung und dessen Drohneneinsätzen im | |
Rahmen des Kriegs gegen den Terror. Allerdings ließ de Sous Santos | |
zugunsten seiner Pointe unerwähnt, dass Obama den Preis weniger als ein | |
Jahr nach seiner Amtseinführung erhielt und keinesfalls für die | |
Drohneneinsätze. | |
Überhaupt schien es de Sous Santos mit der Prägnanz seiner Analysen nicht | |
sonderlich genau zu nehmen. Das Monster unserer Zeit habe drei Köpfe, | |
stellte er Yazbek gegenüber klar: Kapitalismus, Kolonialismus und | |
Patriarchat. Auf ihre konkreten Fragen zur Lage in Syrien und was das für | |
die Situation der Menschenrechte bedeute, hatte er hingegen wenig | |
Erhellendes zu sagen, trotz der insistierenden Nachfragen Yazbeks. So | |
blieben die Monster im Raum. Für einen Ausblick auf das, was auf sie folgen | |
könnte, ließen sie anscheinend keinen Platz. | |
27 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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