# taz.de -- Debatte Zukunft Europas: Zivilisiert den Euro! | |
> Das Euro-Regime polarisiert und spaltet. Statt Austerität müssen die | |
> Hauptprofiteure des Marktes für den Erhalt des Euro sorgen. | |
Bild: Moneten und Zivilisation – geht das zusammen? | |
Es steht schlecht um Europa, so schlecht wie lange nicht. Die EU hat sich | |
in einem Krisenknäuel verheddert, in dem unterschiedliche Fäden | |
zusammenlaufen. Der Streit über den Umgang mit Flüchtlingen lässt alle | |
Illusionen von gemeinsamen Werten platzen, das Scheitern der | |
Wir-schaffen-das-Politik von Angela Merkel signalisiert eine profunde | |
Hegemoniekrise. Und quer durch Europa werden Demokratie und Toleranz von | |
rechts attackiert. Der Rechtspopulismus, so die offizielle Lesart, | |
avanciert zur größten Bedrohung Europas! | |
Wirklich? Kein klar denkender Beobachter wird die Gefahr des | |
revanchistischen Nationalismus kleinreden. Aber die Krise der EU ist eher | |
Treiber als Folge. Oder wer glaubt, in Europa wäre alles in Butter, wenn | |
der rechte Spuk aus der Welt wäre? | |
Die Frage drängt sich auf, ob die Fokussierung auf den Rechtschauvinismus | |
als Kernproblem Europas nicht der Versuch eines Ablenkungsmanövers der | |
EU-Eliten ist, um an der Fehlkonstruktion des Euro-Regimes nicht rütteln zu | |
müssen? Denn dort liegt eine zentrale Ursache des Übels, über die nicht | |
gerne geredet wird. Und dieses haben nicht verführte Volksmassen, sondern | |
neoliberale Eliten zu verantworten. | |
Der Euro kam zu früh, und er ist falsch konstruiert. Er fügte zusammen, was | |
(noch nicht) zusammen gehörte: Volkswirtschaften mit eklatanten | |
Produktivitätsunterschieden. Und die Austeritäts-Regeln der EU blockieren | |
Versuche, daraus resultierenden Wettbewerbsverzerrungen und | |
Wachstumsbremsen entgegenzutreten. Restriktive Schulden- und Defizitregeln | |
verhindern staatliche Programme, die Nachfrage und Konjunktur stützen. Und | |
der Euro macht Währungsabwertungen unmöglich, um die Wettbewerbsfähigkeit | |
der produktivitätsunterlegenen Länder zu stärken. | |
## Elite ohne austeritätspolitische Scheuklappen | |
Die Folgen sind Stagnation und Polarisierung im Euro-Land. Das reale | |
Bruttoinlandsprodukt der 18 Volkswirtschaften hat 2015, acht Jahre nach der | |
Krise, gerade mal das Vorkrisenniveau von 2007 erreicht. Doch hinter dem | |
Durchschnitt verbirgt sich eine extrem ungleiche Entwicklung. Besonders | |
groß sind die Wertschöpfungslücken in Griechenland, Portugal, Spanien und | |
Italien. Dagegen weisen Länder wie Irland und einige Kernstaaten der | |
Euro-Zone wie Belgien, Deutschland oder Frankreich günstigere | |
Wachstumsraten aus. | |
Was die EU jetzt braucht, ist eine Elite, die ohne austeritätspolitische | |
Scheuklappen Bilanz zieht und aus der Selbstkritik eine neue Erzählung für | |
ein neues Europa entwirft. Eine solche Erzählung muss vieles, vor allem | |
einen Beitrag zur Euro-Rettung leisten. Sie muss der Polarisierung entgegen | |
wirken und die Versöhnung zwischen Eliten und Bevölkerungen befördern, um | |
dem Rechtschauvinismus in Europa die Energiezufuhr abzuschneiden. | |
Einiges davon könnte eine demokratische Wertschöpfungsunion leisten. | |
Wertschöpfungstransfers können die voranschreitende Polarisierung kontern. | |
Sie zielen darauf, aus der Euro-Dividende der Starken den | |
Wertschöpfungsaufbau der Schwächeren zu unterstützen. Sie sind der Preis | |
für den Erhalt des Euro. | |
## Demokratisierte Verteilungsströme | |
Die Euro-Dividende entsteht etwa in Volkswirtschaften, die im Binnenmarkt | |
dauerhafte Exportüberschüsse erzielen. In Deutschland zählen aber auch die | |
Windfall-Profits dazu, die dem Fiskus bei der Refinanzierung der | |
Staatsschulden zufließen. Deutsche Staatsanleihen gelten seit der | |
Euro-Krise als besonders sicher, der Staat muss sie kaum verzinsen. Durch | |
diesen sogenannten Save-Haven-Effekt konnte der deutsche Fiskus zwischen | |
2010 und Mitte 2015 etwa 100 Milliarden Euro einsparen. | |
Aus diesen Quellen Transfers zu schöpfen, würde in den Geberländern wohl | |
auf Widerstand stoßen. Doch Märkte müssen politisch konstituiert und durch | |
korrigierende Interventionen funktionsfähig gehalten werden. Was spricht | |
dagegen, die Hauptprofiteure mit einer Markterhaltungsabgabe an den Kosten | |
zu beteiligen? | |
Sollen solche Verteilungsströme nicht zu neuen Abhängigkeitsverhältnissen | |
führen, müssen sie jedoch von Beginn an demokratisch zivilisiert werden. | |
Auf horizontaler Ebene müssen Rechte und Pflichten von Geber- und | |
Nehmerstaaten fair und verbindlich fixiert werden. Es ginge nicht zuletzt | |
darum, die deutsche Hegemonie in Fiskal- und Geldpolitik abzubauen und | |
demokratischere Entscheidungsverfahren zu etablieren. Vor allem die | |
Bevölkerungen in den Zielgebieten des Wertschöpfungsaufbaus müssen mehr | |
partizipieren können. Ihre sozialen und ökologischen Interessen müssen in | |
regionalen Entwicklungsplänen berücksichtigt werden. | |
## Für einen Schuldenschnitt | |
Zugleich muss der Wertschöpfungstransfer in ein neues Fiskalregime | |
eingebettet werden. Dazu gehört ein Schuldenschnitt in den Defizitländern, | |
damit die Finanzmittel nicht direkt an die Banken weitergereicht werden | |
müssen. Notwendig ist auch ein neuer Wachstums- und Stabilitätspakt und die | |
Beendigung des Fiskalpaktes, um den Ländern neue Investitionen zu | |
ermöglichen. Und die legitimationsschwache EZB müsste in einen | |
demokratiefähigen Wirtschaftsakteur verwandelt werden. | |
Ohne die Überbrückung der Distanz zwischen Bevölkerung und Eliten wird | |
jedoch auch die demokratische Wertschöpfungsunion nicht akzeptiert werden. | |
Die Eliten müssen lernen: Nicht jedes Zugehen auf unklar artikulierte, aber | |
tief verwurzelte Europaskepsis einer durch Migration, Arbeitslosigkeit und | |
Deprivationsängste verunsicherten Bevölkerung hat den Schlag mit der | |
Populismuskeule verdient. Gefragt ist demokratische Sensibilität und ein | |
Politikstil, der den Glauben an die Demokratisierbarkeit Europas | |
zurückbringt. | |
Doch klar ist auch: Elitelernen ersetzt nicht Bürgerbewegung. Die Proteste, | |
aus denen Formationen wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien | |
hervorgingen, bieten Anknüpfungspunkte für eine zivilgesellschaftliche | |
Bewegung gegen Austerität. Sie brauchen ergänzende Bewegungen in den | |
EU-Kernstaaten. Und sie müssen reale Wege der Einflussnahme auf politische | |
Entscheidungen eröffnen. Anders dürfte sich die Frustration über | |
neoliberales Eliteversagen nicht demokratieverträglich kanalisieren lassen. | |
21 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Hans-Jürgen Urban | |
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