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# taz.de -- Debatte Zukunft Europas: Die drei Großbaustellen der EU
> Der Brexit-Schock zeigt: So wie sie ist, kann und darf die EU nicht
> bleiben. Die Union muss sich aus ihrer Blockade befreien.
Bild: Wird es aufwärts oder abwärts gehen?
Der Unmut über die Abläufe in der Europäischen Union ist berechtigt. In
ihrer gegenwärtigen Gestalt behindert die EU allzu oft die Politik ihrer
Mitglieder und wird ihrerseits von diesen blockiert. Die EU kann und darf
nicht bleiben, wie sie ist.
Dass der Brexit-Schock eine neue EU-Reformdebatte angestoßen hat, ist
erfreulich. Aber leider nehmen ihre Teilnehmer fast ausschließlich
Extrempositionen ein. Auf der einen Seite stehen jene, die jede in der EU
vorgefundene Friktion mit dem Ruf nach mehr Kompetenzen für Brüssel
beantworten und den europäischen Bundesstaat lieber heute als morgen
ausrufen wollen.
Dass dies von den Bevölkerungen bis auf weiteres nicht gewünscht wird und
es ohne sie nicht geht – ist das, liebe Integrationisten, wirklich so
schwer zu erkennen? Von der anderen Seite hört man Forderungen nach einem
Zurück zur nationalen Vollsouveränität – als gäbe es keinen transnational…
Steuerungsbedarf und keinen korrespondierenden Bedarf nach politischen
Strukturen jenseits des Nationalstaats.
## Technokratischer Modus
Ideologisch motivierte Rufe nach „mehr“ oder „weniger“ Europa helfen de…
und ihren Mitgliedern nicht aus der Misere. Auch eine reformierte EU wird
bis auf weiteres in der Grauzone zwischen internationaler Organisation und
Bundesstaat verharren. Innerhalb dieser Zone gilt es, nach flexibleren
institutionellen Strukturen zu suchen, die die Kapazität gemeinsamen
politischen Handelns auf europäischer Ebene erweitern, gleichzeitig aber
die demokratische Autonomie der Mitgliedstaaten dort schützen, wo
einheitliche europäische Lösungen destruktiv auf die Gegebenheiten
einzelner Länder wirken.
Hierzu ist dreierlei notwendig: Die Ent-Konstitutionalisierung der
europäischen Wirtschaftsverfassung, die Befreiung der europäischen
Gesetzgebung aus ihrer Blockadeanfälligkeit und eine ehrliche Überprüfung
der Zwangsjacke mit dem Namen Euro.
Was hat es mit der Ent-Konstitutionalisierung auf sich? Ein erheblicher
Teil des europäischen Regierens vollzieht sich in einem entpolitisierten,
technokratischen Modus. Gemeint ist hier die seit Jahrzehnten vom
Europäischen Gerichtshof (EuGH) ohne Mitwirkung der Politik betriebene
Fortbildung des europäischen Rechts.
Insbesondere hat der EuGH die europäischen Grundfreiheiten – das sind die
Regeln zur freien Bewegung von Waren, Dienstleistungen, Personen und
Kapital auf dem Binnenmarkt – und das europäische Wettbewerbsrecht mit
immer umfassenderen Bedeutungen aufgeladen. Damit schneidet die EU tief in
die Wirtschafts- und Sozialordnungen ihrer Mitglieder, ohne dass diese
einschreiten könnten.
Solange die EU nicht in der Lage ist, Institutionen wie
Sozialversicherungen, Flächentarifverträge oder die
Arbeitnehmermitbestimmung auf europäischer Ebene zu garantieren, müssen sie
auf mitgliedstaatlicher Ebene vor illegitimen Übergriffen des Europarechts
geschützt werden. Aber wie?
## Heterogenität rechtfertigt Abstriche beim Europarecht
Einen interessanten Vorschlag hat der Verfassungsrechtler Dieter Grimm
jüngst in seinem lesenswerten Buch „Europa ja – aber welches?“
unterbreitet. Er plädiert dafür, die Grundfreiheiten vom europäischen
Primärrecht (das sind die Verträge) in das Sekundärrecht (die europäischen
Richtlinien und Verordnungen) zu verweisen.
Das hätte den Vorteil, dass Eingriffe des EuGH künftig leichter vom
europäischen Gesetzgeber korrigiert werden könnten. Denkbar wäre zudem, den
normativen Gehalt der Grundfreiheiten dahingehend zu präzisieren, dass sie
einen diskriminierungsfreien transnationalen Zugang zu den Märkten anderer
EU-Mitglieder garantieren, aber keine darüber hinausgehenden
Liberalisierungsgebote mehr enthalten.
Bei dem zweiten Reformpfeiler geht es um die europäische Gesetzgebung, die
höchst anfällig für Blockaden ist. Würde man, so hat der
Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf jüngst vorgeschlagen, den
Mitgliedstaaten mehr Rechte auf Opt-outs bei europäischen Richtlinien und
Verordnungen zugestehen, dann könnte man im Gegenzug mutige Schritte in
Richtung einfacher Mehrheitsentscheidungen bei deren Verabschiedung gehen.
Auf diese Weise wäre die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt, ohne den
berechtigten Autonomieschutz zu ignorieren.
Allgemein wird man zu der Einsicht gelangen müssen, dass die EU ein Ausmaß
an Heterogenität erreicht hat, das gewisse Abstriche bei der einheitlichen
Geltung des Europarechts rechtfertigt. Über solche Lösungen hinaus wären
die Möglichkeiten kleinräumiger Integrationsschritte in Bereichen
durchzudenken, wo EU-weite Einheitlichkeit weder durchsetzbar noch
wünschenswert erscheint. Würde sich etwa eine aus Frankreich, Deutschland,
Italien und Belgien bestehende Gruppe entschließen, ihre Kapitalbesteuerung
zu harmonisieren, dann verdiente das zweifellos Unterstützung.
## Realitäten anerkennen
Die dritte Baustelle ist die Währungsunion. Seit ihrer Gründung haben sich
im Euroraum reale Auf- und Abwertungsbedarfe aufaddiert, die sich im Euro
nicht mehr durch interne De- und Reflationierungen abarbeiten lassen. Ein
Währungsregime, das nominale Wechselkursanpassungen ermöglicht, wäre dem
heterogenen Euroraum angemessener.
Weder freilich wird Deutschland die Auflösung des Euros betreiben noch
sollte es andere Länder aus dem Euro drängen. Aber künftige Krisen könnten
ebenso wie grausige Wahlergebnisse in einzelnen Ländern Realitäten
schaffen. Man sollte mit der Errichtung eines Auffangbeckens für Länder
beginnen, die den Euro verlassen wollen. Zu diesem Zweck könnte der
sogenannte Wechselkursmechanismus II reaktiviert werden.
Würde dann beispielsweise Griechenland den Euro verlassen, würde die EZB
mittels Interventionen am Devisenmarkt dafür sorgen, dass die Drachme nicht
ins Bodenlose fällt.
Gegenüber Großbritannien wird die Brexit-Debatte mit einiger Häme geführt.
Die Frage, was mit Großbritannien nicht stimmt, überstrahlt allzu oft die
Frage, was in der EU schiefgelaufen ist. Die EU muss sich aus ihren
Blockaden befreien und gleichzeitig die demokratischen Abläufe auf Ebene
der Mitgliedstaaten mehr respektieren als in der Vergangenheit.
11 Sep 2016
## AUTOREN
Martin Höpner
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Schwerpunkt Brexit
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Eurozone
Serie „Zukunft Europas“
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