# taz.de -- Debatte Europas Zukunft: Der bessere Teil einer Lösung | |
> Europa wird häufig zum Sündenbock erklärt. Eine Rückkehr zu den | |
> Nationalstaaten löst aber keines der zahlreichen Probleme. | |
Bild: Was ist los in Europa? | |
In ihrem Kern ist die aktuelle Auseinandersetzung um Europa ein Streit über | |
den Wert der offenen Gesellschaft. Denn die als Krisen beschriebenen | |
Herausforderungen der vergangenen Jahre – vom Zusammenbruch vieler | |
Volkswirtschaften über die Eurokrise, die Flüchtlingsmigration oder die | |
Infragestellung der klassischen Parteien bis hin zum Brexit – werden oft | |
mit den Gefahren der offenen Gesellschaft gleichgesetzt. Die Botschaft | |
lautet: Im Nationalstaat war alles besser. Und Europa ist nun einmal das | |
griffigste Symbol für Regieren jenseits des Nationalstaats. Und damit ist | |
Europa auch der ideale Sündenbock für alles, was schiefläuft. | |
Richtig ist: Europa steht für die offene Gesellschaft. Aber fundamental | |
falsch ist, dass eine Abkehr von Europa zu einer einfacheren Lösung der | |
Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts führen würde. Ich würde sogar | |
noch weiter gehen: Für mich ist Europa nicht Teil des Problems, sondern | |
Teil der Lösung. Denn wer eine offene Gesellschaft will, der muss die Frage | |
beantworten, wie sich offene Grenzen, der freie Austausch von Ideen, von | |
Waren, Dienstleistungen, Daten, Kapital, Kulturen und Werten vertragen mit | |
der Idee, dass demokratische Gesellschaften ihre legitimatorische Kraft vor | |
allem im engen Umfeld geografisch begrenzter Politik entfalten. | |
## Globale Herausforderungen | |
Demokratie ist lokal oder national. Aber die Herausforderungen sind global | |
und sie werden es bleiben. Daran kann eine Schließung der | |
deutsch-österreichischen Grenze ebenso wenig ändern wie die Rückkehr | |
Griechenlands zur Drachme. Die Rückkehr zum Nationalstaat verlagert die | |
Probleme nur, sie löst sie nicht. Die Europäische Union ist dagegen das | |
innovativste und bisher beste Bindeglied zwischen den Herausforderungen | |
einer entgrenzten Welt und den Anforderungen unserer europäischen Werte, | |
Demokratien und solidarischen Wohlfahrtsstaaten. | |
Was Europa jetzt tun muss, ist offensichtlich: Europa muss diese | |
Bindegliedfunktion jetzt noch besser wahrnehmen. Doch nicht nur Europa ist | |
in der Pflicht, sondern auch die Nationalstaaten sind es. Denn Europa kann | |
nur dort effektiv agieren, wo die Nationalstaaten dies zulassen. Und | |
aktuell verhalten sich die Nationalstaaten Europa gegenüber eher | |
destruktiv: Für ungelöste Probleme macht die nationale Politik Europa | |
verantwortlich. Aber die Kompetenzen zur Problemlösung werden auf | |
nationaler Ebene gehalten. Diesen Widerspruch gilt es aufzulösen. Dazu drei | |
Beispiele. | |
Erstens: Die europäische Wirtschaft krankt an viel zu geringem Wachstum und | |
blickt auf ein verlorenes Jahrzehnt. Erst in diesem Jahr hat die | |
Wirtschaftskraft des Euroraums wieder den Wert von 2008 erreicht. Und das | |
nur im Durchschnitt: In viele Ländern liegen die wirtschaftspolitischen | |
Zielgrößen immer noch weit unter ihren Niveaus der Vorkrisenzeit. | |
Schuldenstände sind überall in Europa zu hoch, Investitionen zu gering. Was | |
muss geschehen? Aus meiner Sicht kann das Zusammenspiel zwischen | |
europäischer und nationaler Ebene in der Wirtschaftspolitik deutlich | |
verbessert werden. Dafür notwendig sind nationale Reformen zur Erhöhung des | |
Produktionspotenzials, ein europäischer Investitionsimpuls, der nicht auf | |
die Schuldenstände der einzelnen Nationalstaaten schlägt, sowie ein viel | |
transparenterer Mechanismus zur Legitimation von europäischen Vorgaben an | |
die nationalen Wirtschaftspolitiken. | |
Im Bericht einer paneuropäischen Arbeitsgruppe, die die Bertelsmann | |
Stiftung und die beiden Jacques Delors Institute in Berlin und Paris | |
zusammengebracht hat und der diese Woche vorgestellt worden ist, fordern | |
wir eine Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus, ein Paket aus | |
Reformen und Investitionen sowie eine viel stärkere Einbindung nationaler | |
Parlamente in europäische Entscheidungsprozesse. Überzeugte | |
Europaföderalisten mögen in einer Stärkung des intergouvernementalen | |
Europas eine Bedrohung des paneuropäischen Gedankens sehen. Wir halten das | |
Bessere hier für den Feind des Guten. | |
Zweitens: Die Flüchtlingsmigration ist keine im engeren Sinne europäische | |
Herausforderung, sondern ein globales Problem, das seinen Ursprung in der | |
politischen Krise im Nahen und Mittleren Osten hat. Wer Europa dafür | |
verantwortlich macht, dass eine Million asylsuchender Menschen nach | |
Deutschland kommen, verkennt das Problem. Und wer Europa auffordert, eine | |
Lösung anzubieten, der sollte Europa auch die Instrumente in die Hand | |
geben, um auf die Flüchtlingsmigration zu reagieren. | |
## Notwendige Kompetenzen | |
Europa braucht einen gemeinsamen Asylstatus, eine gemeinsame Asylbehörde, | |
eine effektive Kontrolle der Außengrenzen und einen finanziellen | |
Solidaritätsmechanismus, um Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren. Nur | |
wollen die Nationalstaaten Europa diese Kompetenzen nicht übertragen. | |
Stattdessen fordern sie die Schließung nationaler Grenzen und verlagern das | |
Problem damit in ihre Nachbarstaaten. | |
Drittens: Die Herausforderungen der Digitalisierung kann kein Nationalstaat | |
allein lösen. Anstatt auf dem europäischen Kontinent einen Flickenteppich | |
aus unterschiedlichen Datenschutzlogiken aufzubauen oder die Illusion | |
aufrechtzuerhalten, der Nationalstaat könne die Wertschöpfungskette auch | |
noch in einer vollständig digitalisierten Wirtschaft kontrollieren, sollte | |
Europa regionale Lösungen anbieten. Auch in diesem Bereich sind es die | |
Nationalstaaten, die bessere europäische Lösungen eher verhindern als | |
befördern. Dass Europa nur eine Datenschutzgrundverordnung hat, die in 28 | |
unterschiedliche nationale Regelwerke übertragen wird, spricht für sich | |
selbst. So kann in Europa kein großer Markt für die Digitalwirtschaft | |
wachsen. | |
Europa ist das Bindeglied zwischen dem Nationalstaat und der | |
Globalisierung. Wer die offene Gesellschaft will, sollte Europa stärken. | |
Und Europa stärken, das heißt nicht, das ganze EU-Projekt noch einmal neu | |
aufzusetzen, sondern die kleinen, aber wichtigen pragmatischen Schritte zu | |
gehen. Den großen Wurf, der alles noch einmal ganz neu und viel besser | |
macht, wollen in der Regel nur theorieverliebte Wissenschaftler – und | |
Populisten. Er würde Europa und Deutschland mehr schaden als nützen. | |
26 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Henrik Enderlein | |
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