# taz.de -- Debatte Steinmeiers Europa-Visionen: Anrührend und deprimierend zu… | |
> Der deutsche Außenminister hat seine Europa-Visionen in einem Buch | |
> dargelegt. Seine Bemühungen sind alle Achtung wert, aber nicht | |
> befriedigend. | |
Bild: Mal nicht leise und diplomatisch: Frank-Walter Steinmeier hat ein Buch ü… | |
Der deutsche Außenminister meldet sich zu Wort. Und er tut das nicht leise | |
und diplomatisch, wie die Öffentlichkeit es von ihm gewöhnt ist, sondern | |
mit einem Text, der kaum anders denn als Aufschrei zu bezeichnen ist. | |
„Europa ist die Lösung“ ist der Titel eines Buches von Frank-Walter | |
Steinmeier, das am 19. September erscheint und [1][das jetzt von der FAZ in | |
Teilen vorab veröffentlicht wurde]. Das Manuskript ist anrührend und | |
deprimierend zugleich. Anrührend, weil intellektuelle Redlichkeit immer | |
entwaffnet. Und deprimierend, weil der Band deutliche Hinweise darauf | |
liefert, wie ahnungslos zumindest Teile der politischen Eliten in Europa | |
hinsichtlich der Stimmung an der Basis sind. | |
Intellektuelle Redlichkeit? Manchen fällt als erste Reaktion auf den Text | |
die Frage ein, was Steinmeier denn wohl werden wolle. Bundespräsident, | |
SPD-Kanzlerkandidat, Präsident der EU-Kommission? Das sagt einiges über den | |
Zynismus aus, mit dem inzwischen jede Äußerung eines Politikers auf | |
verborgene Motive hin untersucht wird. Es ist jedoch manchmal nützlicher – | |
und mindestens ebenso aufschlussreich –, ein Manuskript als das zu | |
betrachten, was es zunächst einmal ist: nämlich eine Meinungsäußerung. Und | |
es gibt nichts, was dafür spricht, dass Frank-Walter Steinmeier bei der | |
Veröffentlichung weitergehende Ziele verfolgen würde. | |
## Realität statt Pathos | |
Europa steckt in der Krise, und Steinmeier benennt die Ursachen dafür in | |
einer schnörkellosen, klaren Sprache. Während für ihn der „fortschreitende | |
Ausbau der europäischen Integration geradezu alternativlos“ sei, müsse er | |
anerkennen, „dass eine wachsende Zahl von Menschen“ das anders sehe. Er | |
stellt dazu fest: „Ohne überzeugte Menschen ist aber kein Europa zu bauen, | |
so wenig wie ein Staat ohne Volk.“ Es nutze „wenig bis gar nichts“, der | |
wachsenden Europa-Skepsis der Menschen „mit einem stolzen Pathos der | |
europäischen Eliten“ zu begegnen. „Die Menschen wollen nicht hören, sonde… | |
sie wollen in der Realität sehen, dass Europa die Lösung ihrer Probleme | |
ist.“ | |
Stimmt. Und dann behauptet Frank-Walter Steinmeier: „Dies liegt auch | |
deshalb auf der Hand, weil es das Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik | |
ist, auf dem die Bürger seit Jahren mehr gemeinsames europäisches Handeln | |
einfordern.“ | |
Wirklich? Aus welchen Quellen speist sich diese erstaunliche Behauptung? | |
Glaubt Steinmeier ernsthaft, dass die europäische Krise dadurch gelöst | |
werden kann, dass „gemeinsame militärische Fähigkeiten“ entwickelt werden? | |
Diese Unterstellung ist, zugegeben, eine polemische Verkürzung der | |
Forderungen, die der SPD-Politiker stellt. Zu denen ja auch gehört, dass | |
Europa den „entgrenzten Märkten und globalisierten Konzernen“ klare Grenzen | |
aufzeigen und sein „Wohlstandsversprechen“ wieder einlösen müsse, um seine | |
Legitimität zurückzugewinnen. | |
Alles wahr, alles überfällig. Aber wie kann es sein, dass ein deutscher | |
Sozialdemokrat einen Brandtext zu Europa verfasst, in dem keine Rede ist | |
von dem dramatischen Demokratiedefizit in der EU? In der es keine | |
institutionalisierte Opposition und schon gar keine Gewaltenteilung gibt? | |
Auch das Wort „Subsidiarität“ kommt in dem Manuskript nicht vor. Es ist | |
sperrig, eignet sich nicht für Wahlplakate – ist aber vermutlich der | |
wichtigste Begriff im Zusammenhang mit der Vertrauenskrise der EU. Er | |
besagt, knapp gefasst, dass eine höhere Ebene nur dann eingreift, wenn eine | |
kleinere Einheit dazu nicht in der Lage ist. Das jedoch ist das Gegenteil | |
der europäischen Realität. | |
Die Entscheidung über die Vergabe kommunaler Bauaufträge oder darüber, wo | |
eine Umgehungsstraße verlaufen soll, müsste nicht zwangsläufig in Brüssel | |
getroffen werden. Natürlich hat die EU, wie alle anderen großen | |
Organisationen, sich darum bemüht, immer mehr Kompetenzen zu übernehmen. | |
Jeder bürokratische Apparat hat die Tendenz, sich aufzublähen. Die Folge: | |
Eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern der EU hat den – | |
berechtigten – Eindruck, nicht einmal mehr bei Fragen ein Mitspracherecht | |
zu haben, die ihr unmittelbares Umfeld betreffen. Diese Tatsache dürfte | |
vielen Leuten wichtiger sein als die Entwicklung gemeinsamer militärischer | |
Fähigkeiten innerhalb der EU. | |
Man kann das Prinzip der Subsidiarität wichtig finden oder nicht. Aber es | |
nicht einmal zu thematisieren: das ist ein unverzeihliches Versäumnis. | |
Steinmeier wirkt vor allem dort überzeugend – und verzweifelt –, wo er ein | |
vereintes Europa als Frage von Krieg und Frieden definiert. Und zugleich zu | |
erkennen gibt, dass er weiß, dass dies mehr als 70 Jahre nach Kriegsende | |
nicht mehr als Begründung für vertiefte Integration genügt. | |
## Wirkungsmächtiges Vorbild | |
Der Außenminister hat sich etwas getraut. Er hat seinen Text in einen | |
Zusammenhang mit einer berühmten Rede des damaligen britischen | |
Premierministers Winston Churchill gestellt. Dieser hatte 1946 die | |
europäische Versöhnung gefordert. Zu einem Zeitpunkt, zu dem der Gedanke an | |
Rache vielen Europäern näher lag als die Idee der „Gründung der Vereinigten | |
Staaten von Europa“, für die Churchill eingetreten war. Wenn Steinmeier | |
sich auf eine so wirkungsmächtige Rede bezieht, dann muss er akzeptieren, | |
daran auch gemessen zu werden. | |
Dann ist es nicht unwichtig, wenn ein Manuskript, das gewiss ein „großer | |
Wurf“ sein sollte, den selbst gestellten Anforderungen nicht genügt. Eine | |
„gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ wird niemanden überzeugen, der | |
oder die der Idee der europäischen Integration misstrauisch gegenübersteht. | |
Und sogar erklärte Anhänger der EU haben derzeit andere Sorgen, wie die | |
Diskussion über einen möglichen Ausschluss Ungarns aus der Gemeinschaft | |
beweist. | |
Frank-Walter Steinmeier hat versucht, eine Vision im Hinblick auf die | |
europäische Integration zu entwerfen. Dass er damit gescheitert ist, wäre | |
nicht weiter schlimm – gäbe es denn andere Entwürfe. Steinmeier ist zu kurz | |
gesprungen. Seine Bemühungen sind aller Achtung wert, das Ergebnis | |
befriedigt nicht. | |
Aber könnte sein Text nicht wenigstens eine Debatte in Gang setzen? Wenn | |
dies nicht geschieht, dann zeugt das von öffentlicher Gleichgültigkeit. Was | |
im Hinblick auf Europa schlimmer ist als jeder Irrtum. | |
16 Sep 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/europas-zukunft/frank-walter… | |
## AUTOREN | |
Bettina Gaus | |
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