# taz.de -- R2G in Thüringen: Regeln für eine glückliche Beziehung | |
> In Thüringen regieren SPD, Linke und Grüne seit zwei Jahren. Die | |
> PolitikerInnen sind selbst erstaunt, wie gut es klappt. Geht das auch im | |
> Bund? | |
Bild: Keine Zwangsheirat: Thüringens Ministerpräsident und seine Stellvertret… | |
Die nächste Bundesregierung bilden SPD, Linkspartei und Grüne? Der Gedanke | |
ist nicht mehr so abwegig, seit die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Martin | |
Schulz in Umfragen zulegt. Die Frage, ob die drei Parteien tatsächlich | |
zusammenkommen, ist jedoch wie ein Blick in eine Glaskugel. | |
In Thüringen gibt es zumindest einen Glaskubus, den man befragen kann. In | |
dem Bau sitzen die Volksvertreter des Bundeslandes, von der AfD bis zur | |
Linkspartei. Letztere bilden mit Grünen und SPD eine knappe Mehrheit. Seit | |
zwei Jahren regieren sie Thüringen. Eine Blaupause für den Bund? | |
Frage an die Partner: Wie läuft es denn? | |
„Eigentlich wirklich sehr gut.“ Sagt Astrid Rothe-Beinlich ins Telefon. Die | |
Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen verlässt ihren Platz im | |
Parlament nur ungern. Die hauchdünne rot-rot-grüne Mehrheit muss ständig | |
bewacht und gesichert werden. | |
„Viel besser als erwartet, alle sind gelöst und relaxt.“ Matthias Hey, | |
Fraktionsvorsitzender der SPD, steht vor dem Plenarsaal und offeriert | |
Nougat der Marke Viba aus dem thüringischen Schmalkalden. Er hat immer ein | |
Tütchen dabei, denn Nougat spielt laut Hey in Thüringen eine ganz wichtige | |
Rolle für die Parteibeziehungen. | |
„Erstaunlich gut“, sagt auch Susanne Hennig-Wellsow, Fraktionsvorsitzende | |
der Linken. Die Antworten sind sich verblüffend ähnlich in ihrer, ja, | |
Verblüffung. | |
## Früh Vertrauen aufbauen | |
Auch wenn Grüne, Linke und SPDler zuversichtlich applaudierten, als Bodo | |
Ramelow zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, waren sie keineswegs sicher, | |
dass er sich lange hält. Zu knapp schien die Mehrheit im Landtag mit einer | |
Stimme, zu ungewohnt die neuen Verhältnisse. 24 Jahre lang hatten die | |
Christdemokraten die Geschäfte geführt und die Verwaltungen bis in die | |
Archivkeller mit Getreuen besetzt. | |
Das Thüringer Experiment begann nach der Landtagswahl 2009. Damals hatten | |
SPD und Linke zusammen eine Mehrheit und sondierten, ob sie sie nutzen | |
sollten. Doch die SPD entschied sich für die CDU – und verlor mit jedem | |
Jahr an Selbstvertrauen. „Das war eine zerrüttete Ehe“, sagt Hey heute. | |
2011 stieß Hey zu den Treffen von SPDlern mit Grünen und Linken. Nach | |
Landtagssitzungen traf man sich in der Pizzeria oder am Wochenende auf der | |
Datsche. Es ging darum, was zusammen gehen könnte. „Am Wahlabend waren wir | |
auf alles vorbereitet. Auf Opposition sowieso, aber auch darauf, regieren | |
zu können“, sagt Hennig-Wellsow von der Linkspartei. | |
Beziehungsregel Nummer 1 heißt also: früh Vertrauen aufbauen. | |
Auch im Bundestag gibt es solche Treffen seit einigen Jahren. Ernst | |
genommen wurde der sogenannte Trialog erst, als im Oktober der damalige | |
SPD-Parteichef Sigmar Gabriel medienöffentlich dazu stieß. | |
## Die Beziehung pflegen | |
Die Großwetterlage im Bund ist eine ähnliche wie vor zwei Jahren in | |
Thüringen – eine zerschrammte SPD, die rauswill aus der Großen Koalition, | |
und Grüne und Linke, die endlich auch mal regieren wollen. Allerdings ist | |
das Misstrauen in Berlin ein halbes Jahr vor der Wahl größer als zum | |
gleichen Zeitpunkt in Thüringen. | |
Die gebürtige Thüringerin Katrin Göring-Eckardt gilt als eine der | |
Architektinnen der Erfurter Koalition und kann sich einen Berliner Aufguss | |
nur schwer vorstellen. „Was mir am meisten Sorgen macht, ist neben der | |
Russland- und Außenpolitik, die Sahra Wagenknecht vertritt, der Versuch, | |
sehr stark in Richtung AfD zu blinken“, sagt sie. | |
Zwischen den Fraktionsvorsitzenden von Linken und Grünen in Erfurt flutscht | |
es sichtlich besser. Hennig-Wellsow macht schon mal einen Ausflug zur | |
Grünen-Fraktion, um etwas auf ihrem Smartphone zu zeigen. Es scheint | |
wahnsinnig lustig zu sein, alle lachen. „Wir verstehen uns sehr gut“, sagt | |
Hennig-Wellsow. „Ohne dass es menschlich stimmt, wird eine Koalition nie | |
funktionieren.“ | |
Die rot-rot-grüne Beziehungsregel Nummer 2 lautet also: die Beziehung | |
pflegen. | |
## Sich aufeinander verlassen können | |
Jeden Dienstag trifft sich Hennig-Wellsow mit Dirk Adams und Matthias Hey, | |
den Fraktionschefs von Grünen und SPD, in der Landtagskantine zum | |
Frühstück. „Die Kellnerinnen wissen schon, was wir nehmen.“ Matthias Hey | |
trinke immer schwarzen Tee der Marke Baroness, Dirk Adams bestelle Rührei | |
und Hennig-Wellsow wechselt zwischen Ei und Müsli. | |
Das führt direkt zu Beziehungsregel Nummer 3: Verlässlichkeit. In Thüringen | |
wissen die drei Parteien Bescheid, was die jeweils anderen denken und | |
planen. | |
In ihrem Koalitionsvertrag haben sich Linke, Grüne und SPD auf Grundsätze | |
der Zusammenarbeit verpflichtet, die über die üblichen Spielregeln für | |
Koalitionen hinausgehen. Dass man nicht gegen den Partner stimmt, versteht | |
sich. Dass man aber vom Antrag bis zur Pressemitteilung alles untereinander | |
abstimmt, ist eher unüblich. | |
Kehrseite der Dreieinigkeit ist, dass es mitunter Jahre dauert, bis aus | |
einer Idee ein Gesetz wird. Und die Koalitionsausschüsse enden manchmal | |
erst um zwei Uhr morgens, weil vor allem die Grünen so viel Redebedarf | |
haben. | |
Wenn es unter der Decke rumort, spielen auch die unterschiedlichen | |
Kräfteverhältnisse eine Rolle – die SPD hat doppelt so viele Sitze wie die | |
Grünen, die Linke knapp fünfmal so viele. | |
## Sich auf Augenhöhe begegnen | |
Mancher Linke oder Sozi ärgert sich, dass die Zwerg-Grünen genau die | |
gleichen Ansprüche stellen wie die beiden größeren Parteien und ihre | |
politischen Anliegen durchdrücken. Die Finanzierung freier Schulen etwa. | |
Doch die vielleicht wichtigste, vierte Beziehungsregel in Thüringen lautet: | |
„Augenhöhe“ herstellen. Dieses Credo ist von ganz oben vorgegeben. | |
Als Bodo Ramelow Ministerpräsident wurde, versuchte er, das mit der | |
Augenhöhe umzusetzen – auf einem Schmierzettel, den er weder kopierte noch | |
aus der Hand gab. Es ging um die Ressortzuschnitte. Mit Grünen und SPD | |
einigte man sich auf eine Verteilung der Ministerien, die nicht den Proporz | |
des Wahlerfolgs widerspiegelt. | |
Ramelow ist ein Geläuterter. „Wir haben es 2009 vergeigt. Wir glaubten, den | |
anderen die Bedingungen diktieren zu können.“ Fünf Jahre später wollte er | |
es besser machen. Er installierte seine Koalitionspartner auch im eigenen | |
Wirkungsbereich. In der Staatskanzlei gibt es jetzt einen Grünen- und einen | |
SPD-Koordinator für Regierungsgeschäfte. | |
Kann denn Martin Schulz auch „Augenhöhe“? Ramelow überlegt. „Mein | |
persönlicher Eindruck: Ja, das kann er.“ | |
Beide kennen sich aus Zeiten, als Schulz Bürgermeister von Würselen war und | |
die Kontakte zur Partnergemeinde Hildburghausen in Südthüringen pflegte. | |
Seine Frau sei begeistert von Schulz’ akzentfreiem Italienisch, berichtet | |
Ramelow und verweist auf biografische Gemeinsamkeiten: Er ist | |
Legastheniker, Schulz hatte in seiner Jugend Alkoholprobleme. Beide leben | |
mit einem Malus, der erdet. | |
## Die Koalition hält | |
Der Ministerpräsident ist zweifelsohne ein Schrittmacher der Thüringer | |
Konstellation. Selbst Oppositionschef Mike Mohring muss erst einmal acht | |
Sekunden überlegen, wie er die Frage, ob Ramelow ein guter | |
Ministerpräsident sei, beantwortet. „Er macht seine Arbeit“, sagt Mohring | |
schließlich. | |
Wenn es um die Politik geht, die Rot-Rot-Grün macht, wird der CDU-Chef | |
angriffslustiger. Die Regierung arbeite zum Teil dramatisch | |
unprofessionell, leiste sich einen Fettnapftritt nach dem anderen und habe | |
in der Bildungspolitik versagt. Tatsächlich erntet die CDU auch Kopfnicken | |
in eher linken Kreisen. | |
„Wir hatten uns mehr erhofft“, sagt Michael Kummer, der Sprecher der | |
lokalen Lehrergewerkschaft GEW. Der Bereich sei unterfinanziert, die | |
Thüringer Lehrer müssten immer mehr Schüler unterrichten, in den | |
Kindergärten sei eine Erzieherin für 16 Kinder zuständig. Die GEW feuert | |
eine Pressemitteilung nach der anderen gegen die rot-rot-grüne | |
Bildungspolitik ab. | |
Rot-Rot-Grün ist zwei Jahre nach dem Start in den Mühen der Ebene | |
angekommen und hat die Mehrheit in Umfragen verloren. Und dabei geht es um | |
Provinzpolitik, man muss nicht über Einsätze der Bundeswehr oder über ein | |
Rettungspaket für Griechenland entscheiden. | |
Also, wie läuft es für Rot-Rot-Grün, Herr Mohring? „Schlecht für | |
Rot-Rot-Grün, gut für uns“, sagt Mohring schnell. Aber er sieht dabei nicht | |
glücklich aus. „Ich bin realistisch genug zu wissen, dass diese Koalition | |
hält. Und wenn es möglich ist, machen sie es wieder. Das gilt für die | |
Länder, das gilt für den Bund.“ | |
4 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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