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# taz.de -- Häusliche Gewalt in Russland: Ein bisschen Prügel schadet nicht
> Die Neufassung eines Gesetzes entkriminalisiert Gewalt im familiären
> Umfeld. Künftig werden Schläger nur noch mit einer Geldstrafe belegt.
Bild: Zweite Lesung des Gesetzes über häusliche Gewalt am MIttwoch in der Duma
Moskau taz | Die Frau flehte die Polizei an, eine Streife zu schicken und
sie vor ihrem Partner zu retten. Sie werde von ihm bedroht, sagte sie am
Telefon. Der Beamte war kurz angebunden: Brächte der Freund sie um, kämen
sie ohnehin, um Fall und Leichnam aufzunehmen, soll er gesagt haben. Die
Tragödie aus der russischen Provinzstadt Orjol machte im vergangenen Herbst
Schlagzeilen. Am Tag nach dem Hilfeschrei war die Frau tot.
Jedes Jahr werden 40.000 Frauen in Russland Opfer von Gewalt im familiären
Umfeld. 9.000 kommen dabei ums Leben, notiert die NGO nasiliu.net (deutsch:
Keine Gewalt) auf ihrer Website. Es sind aber auch Geschichten wie die von
Valeria. Die bekannte Sängerin stand ein jahrelanges Ehe-Martyrium durch,
bevor sie sich an die Öffentlichkeit wagte. Die Angst, von der Gesellschaft
zusätzlich bestraft zu werden, macht selbst vor Reichen keinen Halt.
Wie groß das Problem ist, belegte im letzten Jahr der Erfolg von
Zehntausenden Frauen aus dem postsowjetischen Raum, die sich an einem
Internet Flashmob #Janebojusskasat (#ichhabekeineAngsteszusagen)
beteiligten. Schockierende Schicksale kamen ans Licht. 40 Prozent aller
russischen Gewaltverbrechen finden in der Familie statt. Die meisten
Zahlenangaben sind aber nicht verlässlich, da schätzungsweise nur 10
Prozent der Frauen Gewalt auch bei der Polizei anzeigen.
Zurzeit sorgt eine Gesetzesinitiative für Beachtung, die häusliche Gewalt
entkriminalisiert. Am Mittwoch verhandelte die Duma in zweiter Lesung eine
Novelle, die die Strafbarkeit häuslicher Gewalt abschaffen möchte. Wer
Angehörige verprügelt, wird nur noch mit einer Ordnungsstrafe belangt. Der
Passus „nahestehende Personen“ wurde gestrichen.
## Eine Ordnungswidrigkeit
Früher konnte es passieren, dass ein Schläger bis zu zwei Jahre ins
Gefängnis wanderte. Nun droht eine Höchststrafe von umgerechnet 500 Euro.
Die Straftat wird zur Ordnungswidrigkeit. Zudem können Opfer erst im
Wiederholungsfall vor Gericht ziehen und sind selbst beweispflichtig. Die
Juristin Anna Rivina von nasiliu.net hält das nicht für praktikabel.
Darauf zielt das Gesetz wohl auch ab. Die Initiatorin Jelena Misulina will
traditionelle russische Werte stärken. Dazu gehöre auch die Familie, sagt
sie. Die 61-Jährige pflegt ein patriarchalisches Familienverständnis.
Bereits durch die Gesetzesinitiative gegen vermeintliche
Homosexuellenpropaganda hatte sich die Senatorin als reaktionäre
Speerspitze des Kreml Lorbeeren verdient.
Auch die Menschenrechtsbeauftragte des Kreml, Tatjana Moskalkowa, und
einige andere Frauen unterstützen die Initiative. Die Familie drohe zu
einem rechtsfreien Raum zu werden, fürchten hingegen Beobachter.
Die Frauen verkauften der Öffentlichkeit die Initiative geschickt: Im
letzten Sommer setzte Präsident Wladimir Putin die Strafen für
nichthäusliche Gewalt auf Geldbußen herab, um Gerichte zu entlasten.
## Rückendeckung von der Kirche
Misulina monierte nun, der Grundsatz der Gleichbehandlung sei verletzt.
Rückendeckung erhielt sie von der orthodoxen Kirche, Elternvertretern und
konservativen Politikern: Wer einem Verwandten eine Ohrfeige verabreiche,
erhält zwei Jahre, täte er das bei einem Fremden, bekäme er eine
Ordnungsstrafe, sagte sie.
Dieses Gerechtigkeitsgefälle soll behoben werden. Ohnehin hält sie Prügel
als Erziehungsmethode nicht für falsch: „Das ist Gewalt ohne Schäden für
die Gesundheit.“ Es sei sogar Gewalt ohne Gewalt. Knapp 20 Prozent der
Bürger finden es nach einer Umfrage des VZIOM-Instituts nicht so schlimm,
Kinder oder die Frau „unter gewissen Umständen“ körperlich zu maßregeln.
Gewalt wird von einem großen Teil der Gesellschaft toleriert. Sie stellt
als Ausdruck von Stärke auch einen Wert dar. In Umfragen empfinden Bürger
es als positiv, dass die Welt Russland fürchtet. Angst bedeutet auch
Respekt.
25 Jan 2017
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
## TAGS
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