# taz.de -- Beratungsstelle für Beziehungsgewalt überlastet: Keine Zeit unter… | |
> Die Beratungsstelle Neue Wege hilft Männern und Frauen in gewalttätigen | |
> Beziehungen. Das Team kommt mit der Arbeit kaum noch hinterher | |
Bild: An wen wendet man sich bei häuslicher Gewalt, wenn die Beratungsstelle v… | |
BREMEN taz | Ein Donnerstagvormittag in der Beratungsstelle „Neue Wege – | |
Wege aus der Beziehungsgewalt“. Helle Räume mit hohen Decken im Kontorhaus | |
in der Rembertistraße. Das Telefon klingelt fast ununterbrochen. Susanne | |
Bänfer geht nicht ran, auch ihre Kollegin Sahhanim Görgü-Philipp und ihr | |
Kollege Ralf Hillebrandt-Tasmin bleiben sitzen. So wie immer, wenn sie sich | |
in einem Gespräch befinden. Oder außer Haus sind, wie Susanne Bänfer | |
vergangene Woche. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern hatte sich gemeldet. | |
Sie brauchte dringend Hilfe, konnte aber nicht in die Innenstadt kommen. | |
Also blieb das Telefon wieder einmal unbewacht. | |
Anderthalb Stellen haben die drei, die beim Trägerverein, der Reisenden | |
Werkschule Scholen angestellt sind, zusammen. Viel zu wenig, um verlässlich | |
erreichbar zu sein. „Dabei müssten wir eigentlich jedes Mal rangehen | |
können“, sagt Bänfer, „unser Klientel ruft an, wenn es brennt und sie | |
dringend jemand sprechen müssen.“ Nicht selten sei das spätabends oder | |
nachts. Zwar laufe ein Anrufbeantworter, aber nur diejenigen, die bereits | |
zur Beratung da waren, würden auch eine Rückrufbitte draufsprechen, erzählt | |
die Therapeutin. | |
So wissen die drei BeraterInnen, dass sie immer wieder Menschen nicht | |
helfen können, die sich endlich ein Herz gefasst haben und etwas an ihrer | |
Situation ändern wollen. Meistens melden sich Frauen, denen ihre Partner | |
Gewalt antun, selten Männer, die selbst Täter sind. | |
Das sei schwer auszuhalten, sagen alle drei, weil sie wissen, dass ihre | |
Arbeit weitere Gewalt verhindern kann. Entweder weil sich die Opfer aus der | |
Beziehung lösen – in fast der Hälfte aller Fälle trennen sich die Frauen �… | |
oder weil das Paar tatsächlich einen „neuen Weg“ gefunden hat, | |
Auseinandersetzungen ohne Gewalt zu führen. Allerdings würden sich von | |
denen, die zusammenbleiben, auch noch einmal vier Fünftel trennen, erzählt | |
Bänfer, die seit 2014 in der Beratungsstelle arbeitet. | |
Weil sie so viel zu tun haben, können Bänfer und ihre KollegInnen fast nur | |
noch Krisenintervention betreiben. Sind die Frau und vielleicht ihre Kinder | |
akut gefährdet? Reicht es, wenn die Polizei den Täter aus der Wohnung weist | |
oder muss die Frau in ein Frauenhaus? Selten sind die Situationen | |
allerdings so eindeutig, zumal die Frauen immer die Hoffnung hätten, dass | |
sich noch etwas ändert, sagt Bänfer. Was diese in solchen Fällen brauchen: | |
Das zu klären ist die eigentliche Beratungsarbeit – für die aber kaum noch | |
Zeit ist, weil sonst andere Betroffene keinen Termin bekommen würden. | |
Daher versuchen Bänfer und ihre KollegInnen ihre Klienten so schnell wie | |
möglich weiter zu vermitteln, an niedergelassene TherapeutInnen, manche | |
auch an PsychiaterInnen, wenn jemand psychisch erkrankt ist. Bei den | |
Männern, erzählt der Psychologe Ralf Hillebrandt-Tasmin, gebe es häufig so | |
einen Moment in der Beratung, in dem es bei ihnen Klick mache und sie sich | |
eingestehen, dass sie mit ihrer Gewalttätigkeit ein Problem haben. Und | |
nicht, wie es viele lange behaupten, ihre Frau dafür verantwortlich ist, | |
die sie provoziere. | |
77 Männer haben sich im vergangenen Jahr an die Beratungsstelle gewandt, 55 | |
von ihnen waren auch persönlich dort. Im Jahr 2013 waren es hingegen nur | |
18. Auch bei den Frauen gab es eine deutliche Zunahme an Kontakten, wenn | |
auch diese nicht ganz so drastisch ausfiel wie bei den Männern. 73 Frauen | |
wurden vor vier Jahren beraten, 121 im Jahr 2016. Dabei geschah die | |
deutlichste Steigerung im Jahr 2015. | |
Seitdem nämlich ist die Beratungsstelle auch erste Anlaufstelle für die | |
Polizei, wenn diese zu Fällen häuslicher Gewalt gerufen wurde. Anders als | |
in Bremerhaven darf sie in Bremen allerdings aus Datenschutzgründen keine | |
Personalien an die Beratungsstelle weitergeben. Deshalb bittet die Bremer | |
Polizei die Betroffenen um eine Einverständniserklärung. Wie erfolgreich | |
dieses Vorgehen ist, will die Polizei jetzt auswerten. Im Juni will die | |
Sozialsenatorin die Ergebnisse vorstellen. Aus Sicht des Neue-Wege-Teams | |
ist der Versuch allerdings gescheitert – weil nur in 20 Fällen Personen die | |
nötige Einverständniserklärung unterschrieben hatten. „In so einer | |
desolaten Lage funktioniert das nicht, da haben die andere Sorgen“, sagt | |
Bänfer. | |
Als sehr erfolgreich bewertet das Team aber die Zusammenarbeit mit der | |
Polizei insgesamt, die sich in den vergangen zwei Jahren intensiviert habe. | |
„Wir haben zwei Mal im Jahr die Polizeianwärter hier“, sagt | |
Hillebrandt-Tasmin, „die kennen uns jetzt.“ Auch die meisten Dienststellen | |
würden regelmäßig PolizistInnen zur Fortbildung schicken. Sie wüssten | |
jetzt, wie komplex das Thema sei, dass es nicht damit getan sei, Frauen zu | |
sagen: „Dann verlassen Sie ihn doch endlich.“ Zudem seien alle BeamtInnen | |
angehalten, bei Einsätzen einen Flyer von Neue Wege auszuhändigen. „Wir | |
wissen, dass die Polizei nicht nur den Flyer übergibt, sondern etwas dazu | |
sagen kann, warum es gut ist, sich bei uns zu melden“, sagt | |
Hillebrandt-Tasmin | |
Gut funktioniere auch die Zusammenarbeit mit Jugend- und Sozialämtern sowie | |
den Erziehungsberatungsstellen. Die Gerichte hingegen würden Neue Wege | |
ignorieren, kritisieren die drei, dabei könnten sie Täter sogar | |
verpflichten, die Beratungsstelle aufzusuchen. | |
Doch je bekannter das Angebot wird, desto mehr Anrufe bekommt die | |
Beratungsstelle auch. „Wir graben uns mit unserer Netzwerkarbeit selbst das | |
Wasser ab“, sagt Hillebrandt-Tasmin. | |
Deshalb hat das Team angekündigt, die Arbeit zum 31. März 2018 | |
niederzulegen, wenn sich an der Situation nichts verbessert. „Uns geht es | |
nicht darum, unsere Stellen aufzustocken, wir haben genug anderes zu tun“, | |
sagt Susanne Bänfer, „wir wollen, dass der Senat ein Gesamtkonzept auflegt, | |
was er gegen häusliche Gewalt tun will.“ Dazu müsste gehören, auch Schulen | |
und Kindertagesstätten zu sensibilisieren, mit ÄrztInnen, Psychiatrien und | |
Gerichten zusammenzuarbeiten. | |
Andere Städte seien da sehr viel weiter als Bremen, sagt | |
Hillebrandt-Tasmin, in Bremen gebe es bisher nur viele Papiere zu dem | |
Thema, aber wenig konkretes. „Häusliche Gewalt ist ein Alltagsproblem“, | |
sagt Susanne Bänfer, „aber sie wird behandelt wie ein Randphänomen.“ | |
Auf Nachfrage der taz sagte am Dienstag die Sozialsenatorin Anja Stahmann | |
(Die Grünen): „Ich kenne die Situation der Beratungsstelle und teile die | |
Auffassung, dass die finanziellen Mittel nicht ausreichen.“ In den | |
Haushaltsberatungen im Herbst werde sie sich dafür einsetzen, die | |
Beratungsstelle ab dem kommenden Jahr finanziell besser auszustatten. | |
26 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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