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# taz.de -- Verfolgung von Kurden: Auf der Todesliste
> Reicht der Arm des türkischen Geheimdienstes bis nach Deutschland? Der
> kurdische Funktionär Yüksel Koc erhielt mehrfach Morddrohungen.
Bild: Kurdenprotest in Berlin. Auf der Fahne ist der inhaftierte PKK-Führer Ab…
Dass er auf der Todesliste steht, weiß Yüksel Koc seit acht Monaten.
Erfahren hat es Koc, einer der höchsten Kurdenfunktionäre Europas,
ausgerechnet vom Feind: einem türkischen Nationalisten, der in Deutschland
für den türkischen Geheimdienst MIT arbeitet. Im April kam er in Bremen zu
ihm. „Es gibt neun Ziele, eines davon bist du“, habe der Mann ihm gesagt,
weil er Skrupel bekam. „Ziele“, das heißt: der verbotenen PKK nahestehende
Kurdenführer, die getötet werden sollen.
„Mir geht es gut“, sagt Yücel Koc am Mittwoch. Bislang ist er entkommen. 52
Jahre ist er alt, Lagerist in Bremen war er bis zum Sommer, dann konnte er
nicht länger arbeiten, musste sich verstecken. Seither wechselt er ständig
seinen Aufenthaltsort, bekommt SMS, in denen Botschaften stehen wie: „Du
hast nicht mehr viel Zeit“ oder „Wir werden dich immer verfolgen, bis wir
dich haben“.
Am letzten Donnerstag nun nahmen Fahnder des BKA im Auftrag des
Generalbundesanwalts in Hamburg den 31-jährigen Mehmet Fatih S. fest –
wegen des „dringenden Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit“.
S. soll für den MIT Kurden wie Yücel Koc ausgespäht haben, als Teil eines
Mordkommandos.
Lange hatte Koc an der Basis der legalen Kurdenorganisationen gearbeitet.
Er lebte mit seiner Familie in einer kleinen Wohnung nahe des Weserufers in
Bremen. Neben seinem Lagerjob war er Vorsitzender des lokalen Kurdenvereins
Birati. Die Behörden halten den für PKK-nah, verboten war er nicht. Jedes
Mal, wenn in Bremen Kurden Schwierigkeiten bekamen, war es Koc, der Anwälte
vermittelte, Pressearbeit machte. Vor einigen Jahren dann stieg er auf:
2011 wurde er zum Vorsitzenden des bundesweiten Kurden-Dachverbandes
Yek-Kom, 2016 Vize-Vorsitzender des europäischen Kurden-Verbandes KCD-E.
## Erst einmal geschah gar nichts
Als er von den Mordplänen erfuhr, schrieb er an das Bremer
Landeskriminalamt und Innensenator Ulrich Mäurer (SPD). Die Polizei wollte
wissen, woher seine Informationen stammten. Mehr geschah nicht, sagt Koc.
Polizei und Innenbehörde wollen dazu nichts sagen, nur der
Generalbundesanwalt in Karlsruhe „spricht zu der Sache“, heißt es. Doch
dort ist am Mittwoch nichts zu erfahren.
„Ich weiß, dass der türkische Staat solche Methoden gegen Kurden und
oppositionelle Menschen anwendet“, sagt Koc der taz. In der Türkei seien
viele Intellektuelle und Politiker ermordet worden. „Die AKP versucht
jetzt, die gleichen Methoden in Deutschland anzuwenden. Seit dem Putsch
gehen sie immer offensiver gegen Gegner im Exil vor.“ Offen habe die Türkei
Europa gedroht: „Wenn ihr nichts gegen die PKKler bei euch macht, machen
wir was.“
Seine Arbeit setzte Koc fort, er besuchte zum Beispiel die Konferenz der
irakischen Jesidinnen in Räumen der katholischen Kirche in Berlin. Hat die
Polizei ihm Personenschutz angeboten? „Nein“, sagt Koc. So muss er sich
dauernd neue Aufenthaltsorte suchen, im Juli kündigte er nach über zehn
Jahren seinen Job bei DHL.
Im September dann bekam er den zweiten Hinweis: Die Frau des nun
festgenommenen Mehmet Fatih S. hatte bei diesem Unterlagen gefunden, die
die Mordpläne offenbarten. Demnach hatten S. und seine Komplizen unter
anderem erwogen, Koc mitten auf einer Demonstration zu töten. Außer Koc
wurde noch der kurdische Funktionär Remzi Kartal, der in Belgien lebt,
namentlich in den Papieren genannt.
## Endlich im Zeugenschutzprogramm
Über den Redakteur einer kurdischen Zeitung meldete die Frau sich bei Koc.
Sie übergab ihm die Unterlagen, die ihren Mann belasteten. Koc kannte
diesen: 2014 hatte Mehmet Fatih S. sich Koc gegenüber als Journalist
ausgegeben und interviewt. Als Journalist des kurdischen Fernsehsenders
Denge TV war S. schon seit Jahren als Spitzel auf die Kurdenszene in
Norddeutschland angesetzt, so berichtet es nun der Bremer Weser-Kurier.
Koc wandte sich erneut an die Behörden, diesmal mit Hilfe der Vorsitzenden
der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft, Cansu Özdemir. Sie
sprachen mit der Innenbehörde, der Polizeiführung. Die reagierte endlich.
Ende September holte die Polizei S.s Frau aus ihrer Wohnung in Bremen ab.
Sie kam in ein Zeugenschutzprogramm. Koc erhielt erneut Nachrichten auf
sein Telefon: „Du bist nur noch einmal davongekommen, weil diese Hure dich
verraten hat.“
Laut Koc gab es nicht nur eines, sondern drei Kommandos, die in Deutschland
Kurden töten sollten. Die Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen wollte von der
Bundesregierung Näheres darüber wissen, was der türkische Geheimdienst in
Deutschland treibt. Am 19. Dezember beantwortete das Bundesinnenministerium
ihre Fragen allerdings recht schmallippig.
Wie viele offizielle Mitarbeiter der MIT in Deutschland habe, könne man
Dağdelen „aus Gründen des Staatswohls“ nicht sagen, nicht mal, wenn man s…
zur Geheimhaltung verpflichten würde, schreibt das Ministerium. Die Türkei
würde dies „als Störung der wechselseitigen Vertrauensgrundlage“ werten.
Die kursierende Zahl von 800 haupt- und 6.000 nebenamtlichen MIT-Agenten in
Deutschland könne das Ministerium deshalb nicht bestätigen. Sehr wohl aber
sei zu beobachten, dass der MIT seit dem Putschversuch im Juli seine
Aktivitäten „ausgeweitet und intensiviert“ habe.
## Tiefes Misstrauen
PKK-nahe Organisationen wie die, in denen Koc aktiv ist, werden in
Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet. Insofern stellt sich die
Frage, welche Informationen MIT und BND austauschen, ob der MIT auf diesem
Wege auch Informationen über Menschen wie Koc erhält. Auf eine Frage
Dağdelens zum Umfang der deutsch-türkischen Geheimdienstkooperatiion heißt
es: keine Auskunft. Ansonsten sei ein „Rückgang der
Kooperationsbereitschaft“ anderer Geheimdienste zu befürchten, der
„nachteilig für die Bundesrepublik wäre“.
Auf Dağdelens Frage, ob angesichts der Lage in der Türkei der MIT ein
legitimer Partner für den BND bleiben kann, antwortet die Regierung nur,
dies werde „im Einzelfall jeweils anlassbezogen geprüft“.
Dağdalen sagt dazu: „Die Bundesregierung gefährdet die Sicherheit der
Menschen in Deutschland, weil sie immer noch nicht bereit ist, dem
Erdoğan-Netzwerk das Handwerk zu legen.“ Die Bundesregierung müsse sich
über die Generalbundesanwaltschaft dafür einsetzen, dass die Verfahren
gegen türkische Agenten nicht wieder eingestellt werden. Sie fordert die
Ausweisung aller Agenten der türkischen Geheimdienste inklusive der Imame
der AKP-treuen Ditib-Gemeinden, die „für den türkischen Geheimdienst in
Deutschland Menschen bespitzeln“.
Das Misstrauen der Kurden sitzt tief. Dazu hat auch ein Vorfall in
Frankreich beigetragen: Vor fast vier Jahren, am 9. Januar 2013, waren in
Paris die PKK-Mitgründerin Sakine Cansız sowie die Funktionärinnen Fidan
Doğan und Leyla Şaylemez erschossen worden. Später tauchten im Internet
Mitschnitte von Gesprächen auf, die belegen sollten, dass der schwerkranke
Tatverdächtige Ömer Güney im Auftrag des türkischen Geheimdienstes MIT
gehandelt haben soll. Entsprechende Belege sollen auch in den
Untersuchungsakten der französischen Justiz zu finden sein. Doch die
verschob die Prozesseröffnung immer wieder – bis Günay am Montag starb.
„Der Verdacht einer Liquidierung von Güney, um die Hintergründe des Mordes
im Dunkeln zu lassen, liegt im Raum“, kommentiert das Kurdische Zentrum für
Öffentlichkeitsarbeit in Frankfurt.
Koc ist über die Festnahme in Hamburg zufrieden. „Spät, aber immerhin“,
sagt er. „Ich möchte vom Generalbundesanwalt erfahren: Wer war der
Auftraggeber?“ Für Koc ist das klar. „Höchstwahrscheinlich der türkische
Staat. Das schlimmste Signal an diesen wäre, die mutmaßlichen Agenten am
Ende wieder freizulassen. „Juristisch und politisch“ solle Deutschland sich
gegen die MIT-Machenschaften stellen“, sagt Koc. Politisch heiße: „Keine
geheimdienstliche, polizeiliche und militärische Zusammenarbeit.“
Mitarbeit: Katharina Schipkowski
22 Dec 2016
## AUTOREN
Christian Jakob
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Türkischer Geheimdienst MIT
Verfolgung
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Yüksel Koc
Türkei
Islam
Ditib
Schwerpunkt Türkei
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Sevim Dagdelen
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