| # taz.de -- Türkische Diaspora in Deutschland: Die Namenlosen von küçük Ist… | |
| > Deutschland ist eine Erdoğan-Bastion. Die einen schwärmen für ihn, | |
| > kritische Stimmen verstummen. Ein Stimmungsbild aus Berlin. | |
| Bild: Viele Türken folgten dem Aufruf des türkischen Präsidenten, gegen den … | |
| Berlin taz | Ein grauer Donnerstag im August vor der Şehitlik-Moschee in | |
| Berlin-Neukölln. Ein Sarg wird durch den Nieselregen getragen. „Wir sind | |
| aus Respekt gekommen“, sagt Yasin Rüzgar. | |
| „Tayyip“, er nennt Erdoğan stets beim Vornamen, „hat uns endlich wieder | |
| Kraft gegeben. Uns hier in Deutschland nennt er seine Kinder. Er hat uns | |
| nicht vergessen.“ Hinter Yasin Rüzgars Bart versteckt sich ein knochiges | |
| Gesicht mit einer großen Nase. Die Gemeinde, die Deutschtürken, hier ist er | |
| zu Hause. Berlin, sie nennen es küçük İstanbul, das kleine Istanbul. | |
| Eine Bekannte der Familie ist gestorben. Krebs. Der junge Mann und seine | |
| Angehörigen verweilen noch in der Menschentraube vor der Moschee. Man nickt | |
| sich zu, eine Frau bricht lautstark in Tränen aus. | |
| ## Gülen-Anhänger unerwünscht | |
| Die Religion spendet hier Trost. Doch nicht alle sind heute willkommen. An | |
| der Şehitlik-Moschee hing noch vor einigen Tagen ein Zettel am schwarzen | |
| Brett: „Gülen-Anhänger unerwünscht“. Viele Trauergäste gehören zu den | |
| Unterstützern des türkischen Staatspräsidenten, der seinen einstigen | |
| Verbündeten Fethulah Gülen für den Putsch vom 15. Juli verantwortlich | |
| macht. Betreiber des Gotteshauses wiederum ist die Türkisch-Islamische | |
| Union der Anstalt für Religion (DİTİB), die der türkischen Regierung | |
| untersteht. | |
| Auch Yasin Rüzgar hat wie 340.000 Türken in Deutschland im vergangenen Jahr | |
| für die Regierungspartei AKP gestimmt. 1,5 Millionen der 3 Millionen hier | |
| lebenden Türkeistämmigen waren wahlberechtigt. Aufgrund der niedrigen | |
| Wahlbeteiligung bedeutete dies, dass fast 60 Prozent der abgegebenen | |
| Stimmen an die AKP gingen. In keinem Land auf der Welt gab es mehr Prozente | |
| für die türkische Regierungspartei als hierzulande. Deutschland, eine | |
| Bastion Erdoğans. | |
| ## Die ehemalige Betriebsrätin | |
| Montag, 14.10 Uhr, am Kottbusser Tor. Fast jeden Tag kommt eine 72-Jährige | |
| in das Café Simitdchi. Roter Lippenstift, kurze Haare, klein, zart. „Ich | |
| habe schon viele Parteien kommen und gehen sehen.“ Seit mehr als 50 Jahren | |
| lebt die gebürtige Istanbulerin in Kreuzberg. Sie gehört zur ersten Gruppe, | |
| die damals als Gastarbeiterinnen nach Berlin kam. Auf ihrem Tablett: zwei | |
| türkische Sesamkringel und ein Çay. „Ich hab genug von der Politik“, sie | |
| lächelt. Betriebsrätin war sie. Als Benno Ohnesorg erschossen wurde, da war | |
| sie dabei. „Auf Pferden kam die Polizei. Kann man sich nicht vorstellen.“ | |
| Jetzt will sie etwas Ruhe. | |
| Die Alt-68erin gehört zu den 2,6 Millionen Türkeistämmigen, die im Herbst | |
| vergangenen Jahres nicht ihre Stimme der AKP gegeben haben. | |
| Der psychologische Druck auf die Opposition hat längst auch Berlin | |
| erreicht. In der türkischen Community wurde per WhatsApp eine Liste | |
| verschickt, auf der Geschäfte stehen, die angeblich mit Gülen in | |
| Zusammenhang stehen und die man deshalb boykottieren solle. Die Frau, auf | |
| die die Kettennachricht zurückgeführt wird, soll Kontakt zur türkischen | |
| Regierung haben. | |
| Deutschtürken, die sich in der Öffentlichkeit kritisch zur Regierung | |
| äußern, bangen um ihre Familien in der Türkei. Viele bekommen täglich | |
| Hassnachrichten und Morddrohungen. Am Telefon redet man nicht mehr über | |
| Politik, weil man Angst vor einer Abhörung hat. | |
| ## Bürger zweiter Klasse | |
| Yasin Rüzgar sitzt auf einer Bank im Park Tempelhof. Er redet gern über | |
| Politik. Swipt er auf seinem Handy nach links, finden sich Meldungen von | |
| Spiegel Online und Welt. Und er liest Bücher von Jürgen Todenhöfer. „Bürg… | |
| zweiter Klasse bin ich hier.“ Bei Vorstellungsgesprächen habe er immer | |
| Absagen bekommen. In seiner Klasse saßen ausschließlich Deutschtürken. | |
| Yasin Rüzgar besitzt die doppelte Staatsbürgerschaft. Er ist in Berlin | |
| geboren. Am Tag des islamistischen Anschlages in Würzburg saß er neben | |
| einem vollbärtigen Palästinenser in der U-Bahn. Einige wechselten die | |
| Plätze. „Angst haben sie vor uns.“ Der „Islamische Staat“ ist der | |
| Antiislam, sagt Yasin Rüzgar. | |
| ## Der Geheimdienst hört mit | |
| Freitag, 11.30 Uhr, in einem Kiosk in Kreuzberg. „Fragen nach Erdoğan | |
| machen uns Probleme. Der türkische Geheimdienst ist hier unterwegs.“ Der | |
| Besitzer ist kurdischer Abstammung. Er will sich nicht äußern. Kein Name. | |
| Deutsche Freunde hatte Yasin Rüzgar noch nie. Er habe sich immer fremd | |
| gefühlt in dem Land, in dem er aufgewachsen ist. In der U-Bahn klatscht er | |
| im Vorbeigehen Freunden die Hände, in seinem Kiez kennt er alle. Und nach | |
| drei Jahren in Ankara ist er freiwillig aus der Türkei zurück nach Berlin | |
| gekommen. Aber Deutscher? Ist er nicht, wie er sagt. | |
| „Mit Hubschraubern haben sie auf uns geschossen“, sagt er. „Wir“, damit | |
| meint er die Millionen Türken, die sich am 15. Juli auf den Straßen der | |
| Türkei dem Militär entgegengestellt haben. Der Student saß in der Nacht des | |
| gescheiterten Putschs in Berlin vor dem Fernseher. Auf seinem iPhone zeigt | |
| er Videos von der Horrornacht. Auch Erdoğan spricht: „Meine Schwestern, | |
| meine Brüder“. – „Wie er liest. Ich kriege Gänsehaut“, schwärmt Yasin | |
| Rüzgar. Ein Teil seiner Familie lebt in Ankara. Ein Bekannter ist in der | |
| Nacht niedergeschossen worden. In den Stunden des Putschs starben 172 | |
| Zivilisten, 63 Polizisten und fünf Soldaten. Für Yasin Rüzgar sind sie | |
| Märtyrer. | |
| ## „Wir sind Arbeiter“ | |
| „Die deutschen Medien sprechen von den Verhaftungen. Wenn sich das | |
| türkische Volk gegen eine Militärdiktatur wehrt, dann wurde die Demokratie | |
| doch gerettet.“ Die deutsche Politik findet er heuchlerisch. | |
| Montag, 16.30 Uhr, in Kreuzberg. Fünf Rentner versammeln sich wie jeden Tag | |
| zum Spielen. „Okey“ heißt ihr Spiel, eine Art Rommé mit Steinen. Von den | |
| fünf Tischen im glanzlosen Teppichcafé ist nur einer besetzt. Hinterm | |
| Tresen stehen zwei Frauen. An der Wand hängen Bilder von anatolischen | |
| Dörfern. Der Aschenbecher ist fast leer. Die Männer lachen viel beim | |
| Spielen. „Mit Erdoğan haben wir nichts zu tun“, sagt einer. Auch sie wollen | |
| ihre Namen nicht nennen. „Wir sind Arbeiter.“ | |
| Yasin Rüzgar hat Wut im Bauch. Gegen die Deutschen, die ihn nie ernst | |
| nehmen würden, gegen die Schule, in die er ging, und auch gegen die | |
| Gülenisten, denen er selbst einst folgte: „Das ist eine Sekte. Schlimmer | |
| als die Salafisten.“ Seine Stimme zittert euphorisch. | |
| ## Aufstieg durch Bildung | |
| Drei Jahre blieb Yasin Rüzgar in Ankara, um sein Abitur zu machen. Als er | |
| noch das Robert-Koch-Gymnasium in Berlin besuchte, nahm er auch die | |
| Nachhilfe der Gülen-Bewegung in Anspruch. | |
| Yasin Rüzgar gehört zur dritten Generation. Sein Großvater kam Anfang der | |
| 70er Jahre aus dem Dorf Danacı nahe Ankara nach Deutschland, schuftete im | |
| Trockenbau. Yasin Rüzgars Vater ist Baggerfahrer, seine Mutter arbeitet bei | |
| der AWO und hilft dort Flüchtlingen. Eine fleißige Arbeiterfamilie mit | |
| einem Sohn, der es zum Studium der Wirtschaftsinformatik gebracht hat. | |
| „Aufstieg durch Bildung“ verspricht die Hizmet-Bewegung, wie sich die | |
| Gülen-Anhänger auch nennen. „Fetto, der Fette“ nennt Rüzgar den Begründ… | |
| Fethullah Gülen. „Die haben dort immer von Fetto gesprochen. Aber warum | |
| haben wir ihn nie gesehen?“ | |
| Yasin Rüzgars Familie hatte wie viele auch die Zeitungen der Organisation | |
| abonniert, als Schüler fuhr er auf Seminare ins Brandenburgische. Zum Beten | |
| und für den Islamunterricht sei man dort in den Keller gegangen. Wer dabei | |
| war, dem wurde durch die Schule geholfen. Präsident Erdoğan hat Yasin | |
| Rüzgar und seiner Familie vor einigen Jahren die Augen geöffnet. Der neue | |
| Feind, der Bruch. Alle Zeitungen und Bücher landeten im Müll. In der Türkei | |
| wird die Gülen-Literatur dieser Tage massenhaft verbrannt. | |
| ## Der reisende Student | |
| Mittwoch, 18.30 Uhr, im Café Kotti in Kreuzberg. Durch ganz Europa ist ein | |
| Student aus Ankara gereist. Berlin findet er toll, er will länger bleiben. | |
| Sein Handyhintergrund zeigt Lenin vor rotem Hintergrund. Der 22-Jährige | |
| zeigt Bilder aus Prag, aus Barcelona. Er selbst bezeichnet sich als Laz – | |
| eine in der Türkei nicht anerkannte Minderheit am Schwarzmeer. Seine | |
| Prognose: „In fünf Jahren ist Erdoğan weg.“ Er erzählt von seiner | |
| kommunistischen Partei und von guten Professoren, die in den letzten zwei | |
| Jahren ihre Lehrstühle auf Anweisung der AKP-Regierung räumen mussten. Der | |
| Reisende bittet darum, seinen Namen nicht zu veröffentlichen. | |
| Mehr als 80.000 Staatsbedienstete sind seit dem Putsch in der Türkischen | |
| Republik suspendiert worden. „Alles Verräter“, meint Yasin Rüzgar. | |
| Am Ufer des Landwehrkanals dreht sich Yasin Rüzgar eine Zigarette. „Im | |
| Islam jemanden fertigzumachen ist etwas Falsches“, sagt er zu der Jagd auf | |
| die Gülen-Bewegung. Tayyip aber habe die Türkei doch vereint. | |
| Donnerstag, 14.30 Uhr, am Halleschen Tor. Vor dem Verein Dersim stehen fünf | |
| junge Aleviten. „Vier Stunden Ausgangssperre in Istanbul in der | |
| Putschnacht. In Dersim haben wir das seit Jahren.“ Von der Gülen-Säuberung | |
| bleiben sie verschont. „Wir sind nicht die Putschisten, wir sind die | |
| Terroristen in Erdoğans Augen.“ Man solle ihre Namen nicht in die Zeitung | |
| schreiben, bitten sie. | |
| ## Der Tod ist relativ | |
| Falls es zur Abstimmung über die Todesstrafe kommt, will Yasin Rüzgar dafür | |
| stimmen – der Tod sei doch etwas Relatives. | |
| Das sagte Yasin Rüzgar schon auf der Trauerfeier vor der Moschee in | |
| Neukölln: „Das ist der Unterschied zwischen euch und uns. Der Tod ist kein | |
| Ende. Er ist ein Anfang.“ | |
| Tayyip Erdoğan sagt, der 15. Juli sei der Anfang der türkischen Nation. | |
| Endlich habe man die antidemokratischen Kräfte entlarven und zerstören | |
| können. Die Nation habe sich erfolgreich gewehrt. Auch Yasin Rüzgar ist | |
| sich sicher: „Das ist der Anfang der Demokratie.“ | |
| 27 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Timo Lehmann | |
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