# taz.de -- Nach dem Putschversuch in der Türkei: Wie läuft's an der Uni? | |
> Gerade an den Hochschulen vermutete Präsident Erdoğan Unterstützer der | |
> Gülen-Bewegung und ordnete Kontrollen an. Vier Perspektiven. | |
Bild: Freiheit von Forschung und Lehre? An der Istanbul-Universität und den an… | |
Seit dem gescheiterten Putsch im Juli dieses Jahres in der Türkei gehen die | |
regierende AKP und Präsident Recep Tayyip Erdoğan hart gegen ihre Gegner | |
vor. Der Ausnahmezustand, der nach dem Putschversuche für drei Monate | |
ausgerufen wurde, erlaubt es Erdoğan, am Parlament vorbei zu regieren und | |
Kritiker loszuwerden. | |
Die Säuberungsaktionen betreffen auch das Bildungssystem: Die Regierung hat | |
hunderte Schulen und Hochschulen geschlossen. Bis Ende Juli wurden 1.600 | |
Universitätsmitarbeiter suspendiert und über 200 vorübergehend verhaftetet. | |
Ihnen werden Kontakte zur Gülen-Bewegung vorgeworfen, welche die Regierung | |
hinter dem Putschversuch vermutet. | |
Der vom Bildungsministerium gesteuerte Hochschulrat rief die 1.500 Dekane | |
aller türkischen Universitäten zum Rücktritt auf und alle Akademiker aus | |
dem Ausland zurück. Lediglich mit einer Sondererlaubnis dürfen sie nun noch | |
das Land verlassen. Auch Reisen innerhalb des Landes gestalten sich | |
schwierig, da die Mitarbeiter vieler Universitäten sich dort täglich | |
registrieren müssen. | |
Doch bereits vor dem Putschversuch übte die Regierung Druck auf Akademiker | |
aus. Besonders betroffen waren die Unterzeichner der Petition „Akademiker | |
für den Frieden“: Im Januar unterschrieben diese mehr als 1.400 Menschen | |
und sprachen sich so gegen Menschenrechtsverletzungen in kurdischen | |
Gebieten aus. Mehrere Unterzeichner wurden entlassen, beurlaubt oder in | |
Gewahrsam genommen. Bis heute werden sie schikaniert und rechtlich belangt. | |
## | |
## Zivilpolizisten auf dem Campus | |
Seit 2013 studiere ich Jura an der Istanbul-Universität. Schon vor | |
Studienbeginn war ich als Sozialistin politisch aktiv. Deshalb auch mein | |
Wunsch, Jura zu studieren: Es gibt in der Türkei nicht viele Anwälte, die | |
sich für politische Rechtsfälle engagieren, und nur wenige Richter sind | |
gegen die AKP. | |
An der Uni traf ich andere Studierende, die wie ich denken, und engagiere | |
mich seit Studienbeginn noch mehr für Sozialismus und Feminismus. Die | |
Istanbul-Universität ist die größte Uni der Türkei. Die politischen | |
Ansichten unter den Studierenden spiegeln ungefähr die politische | |
Landschaft der Türkei wider. Man findet rechte, linke, sozialistische, | |
faschistische oder islamistische Aktivisten, und es kommt immer wieder zu | |
Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen. | |
Deshalb scheuen sich die Professoren, aktuelle politische Ereignisse in den | |
Kursen zu besprechen. Sie versuchen Objektivität zu wahren, aber | |
Rechtswissenschaften sind eben sehr politisch, und so merkt man schnell, | |
dass sie nicht objektiv sind: Ich hatte noch nie einen Professor, der die | |
AKP und die Regierung kritisiert hat. Ich glaube, das würde die AKP gerade | |
in Jura auch nicht zulassen. Deshalb habe ich mein Studium von Anfang an | |
kritisch betrachtet. | |
Aktuell wird es noch schlimmer: Auf dem Campus sind immer weniger | |
politische Aktionen erlaubt. Seit dem Wechsel des Rektors im vergangen Jahr | |
laufen 200 Zivilpolizisten auf dem Campus herum. Sie stoppen jeden Protest | |
und schikanieren Studierende. Das reichte schon. Doch seit dem | |
Putschversuch ist es unmöglich geworden, politische Nachrichten an der Uni | |
zu verteilen oder über aktuelle Politik zu diskutieren. Nisan, 22 Jahre, | |
Studentin | |
## Das Land schnell verlassen | |
Zurzeit arbeite ich an meiner Masterarbeit in Umweltwissenschaften an der | |
Boğaziçi-Universität Istanbul. Ich forsche zur Selbstverwaltung von | |
Grundwasser in der kurdischen Provinz Mardin. Politische Selbstverwaltung | |
wird aber von der PKK auch als Lösung für den Kurdenkonflikt und deshalb | |
von der Regierung sehr kritisch betrachtet. Obwohl die Boğaziçi-Universität | |
sehr liberal ist, bewilligte sie deshalb keine Forschung zu | |
Selbstverwaltung in einem kurdischen Gebiet. | |
Mein betreuender Professor ist aber sehr offen und lässt mich, trotz | |
Änderungen auf dem Papier, so forschen, wie ich will. Doch jetzt nach dem | |
Putschversuch ist auch er gefährdet: Er steht der Regierung kritisch | |
gegenüber und unterschrieb im Januar die prokurdische Petition „Akademiker | |
für den Frieden“. Auf deren Unterzeichner übt die Regierung viel Druck aus. | |
In dem unwahrscheinlichen Fall, dass es auch an der Boğaziçi einen | |
Rektorenwechsel gibt, könnte er suspendiert werden, und ich müsste meine | |
Forschung aufgeben. | |
Mit Verhängung des Ausnahmezustands kann man schnell rausfliegen – einfach, | |
indem jemand behauptet, man sei Unterstützer der Gülen-Bewegung. So fühle | |
auch ich mich nicht wohl dabei, in meiner Forschungsarbeit alles zu | |
schreiben, was ich denke; schließlich müssen drei Professoren die Arbeit | |
absegnen. Eigentlich wollte ich meine Untersuchungen auf andere natürliche | |
Ressourcen ausweiten, aber die Probleme allein mit dieser Arbeit | |
veranlassen mich dazu, das Land so schnell wie möglich verlassen zu wollen. | |
Von Europa aus ist es einfacher, in kurdischen Gebieten zu forschen – | |
obwohl Kurdistan in der Türkei und Syrien liegt. Abdul*, 27 Jahre, | |
wissenschaftlicher Mitarbeiter | |
## Angst um die Professoren | |
Ich studiere seit drei Jahren Soziologie an der Galatasaray-Universität. | |
Das ist eine sehr kleine Universität, die aus dem französischen Gymnasium | |
in Istanbul entstanden ist und deshalb auf Französisch lehrt und sich an | |
der westlichen Lehre orientiert. | |
In meinem Jahrgang sind wir nur 30 Studierende, dadurch haben wir ein enges | |
Verhältnis zueinander und sprechen viel über Politik. Wir hören einander | |
zu, auch wenn wir verschiedene Meinungen haben. Leider ist das in der | |
Türkei heute sehr selten: Es gibt zunehmend Spannungen zwischen den | |
politischen Gruppen; Oppositionelle werden angefeindet. In den Reden der | |
AKPler kann man hören, dass sie gegen Intellektuelle sind – und jetzt sind | |
Akademiker nach Journalisten wohl ihr Hauptziel. | |
Zwar haben unsere Professoren in den Kursen zuvor auch nicht direkt ihre | |
Meinung gesagt oder die Politik aktiv kritisiert, aber als Soziologen sind | |
sie natürlich kritisch. Wir haben auch Kurse zu Themen wie Frauenrechten. | |
Einerseits denke ich nicht, dass sich das ändern wird, weil unsere | |
Professoren daran glauben, was sie tun. Andererseits aber musste unser | |
Dekan wie alle Dekane in der Türkei bereits zurücktreten; und durch das | |
Ausreiseverbot kann die enge Verbindung zu französischen Universitäten, an | |
denen unsere Professoren zeitweise lehrten, vielleicht nicht gehalten | |
werden. Ich habe Angst um unsere Professoren, weil sie sich für | |
oppositionelle Bewegungen engagierten, und fürchte auch um unsere | |
Unabhängigkeit. Denn die Verantwortlichen im Bildungssystem und der | |
Hochschulrat lassen immer weniger abweichende Stimmen zu. Ich weiß nicht, | |
ob ich mich in meinen Studienarbeiten noch kritisch äußern darf. Vielleicht | |
wird ja mein ganzes Soziologiestudium später als zu kritisch verurteilt. | |
Edil, 22 Jahre, Studentin | |
## Immer mehr Religion | |
Ich arbeite an einer staatlichen Universität im sozialwissenschaftlichen | |
Bereich. Ich bin so alt, dass ich den Putsch in den 80er Jahren in der | |
Türkei, als Kind miterlebt habe. Mehr möchte ich zu meiner Person nicht | |
preisgeben, da ich seit dem Putschversuch die Konsequenzen meiner Kritik | |
fürchte. Ich bin nicht die Einzige an meinem Institut, die der Regierung | |
kritisch gegenübersteht, aber wir wissen nicht, wie lange wir noch da sein | |
werden. Seit dem Putschversuch können wir nicht mehr ins Ausland reisen und | |
müssen unter der Woche täglich zur Registrierung in die Universität gehen. | |
Schon vor dem Putschversuch wurde uns das Forschen schwer gemacht: Einen | |
Monat zuvor entschied der Hochschulrat, dass keine Forschung mehr | |
angemeldet werden darf, die die Regierung kritisiert. Ich darf in meinen | |
Arbeiten nun nichts mehr gegen die Umweltpolitik, gegen die | |
Geschlechterpolitik oder gegen das Gesundheitssystem schreiben. | |
Die Regierung betrachtet die Intellektuellen als hochgefährlich für das | |
Land und will immer mehr Religion in das Bildungssystem einfließen lassen. | |
So arbeiten an unserem Institut mittlerweile auch Kollegen islamischer | |
Institute, die sozialwissenschaftliche Themen von dieser Warte aus | |
betrachten. Die Regierung will aber auch die Sozialwissenschaften | |
reformieren: Sie sieht Theologie nicht als Teil der Sozialwissenschaften, | |
wie in westlichen Universitäten, sondern die Sozialwissenschaften als einen | |
Zweig der Theologie. Damit wird das Bildungssystem immer | |
antidemokratischer: Ausschließlich religiöser Unterricht nimmt zu, und die | |
Wissenschaft darf die Politik nicht mehr kritisieren. Begüm*, | |
Wissenschaftlerin | |
* Name geändert. Alle Befragten wollten aus Furcht vor Konsequenzen nicht | |
fotografiert werden. | |
21 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Jelena Malkowski | |
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