# taz.de -- Direkte Demokratie und Schweizer Rechte: Der plebiszitäre Tiger | |
> Das Volk hat immer Recht? Wie die Schweizerische Volkspartei (SVP) mit | |
> dem Mittel der Volksabstimmung eine völkische Mobilisierung betreibt. | |
Bild: SVP-Kampagne im Februar 2016 in Zürich | |
Demokratien bewegen sich in einem doppeltem Widerspruch mit sich selbst: | |
Sie können sich – erstens – mit verfassungsmäßig vorgesehenen Mitteln | |
selbst abschaffen. Das System der Notverordnungen unter den Reichskanzlern | |
Brüning, von Papen und Schleicher sowie Hitlers „Gesetz zur Behebung der | |
Not von Volk und Reich“ („Ermächtigungsgesetz“), vom 23. März 1933 | |
beseitigten die Weimarer Demokratie mit legalen Mitteln. Und Demokratien | |
können sich – zweitens – mit demokratisch zweifelhaften oder gar | |
undemokratischen Mitteln schützen beziehungsweise verteidigen. | |
Der deutsche Verfassungsschutz operiert mit offiziellen Mitarbeitern und | |
V-Leuten, seit er besteht, immer wieder mit Mitteln und Methoden am Rande | |
der Legalität. Der türkische Staatspräsident führte jüngst drastisch vor, | |
wie man die Demokratie mit diktatorischen Mitteln „rettet“. | |
Im Verdacht, die Demokratie demokratisch zu überwinden, steht die direkte | |
Demokratie. Margaret Thatcher hielt diese für ein „Instrument von | |
Diktatoren und Demagogen“. Und viele deutsche Politiker und Journalisten | |
trauen der direkten Demokratie allenfalls zu, die Todesstrafe einzuführen | |
oder wenigstens das Tragen von Kopftüchern oder den Bau von Moscheen über | |
Nacht zu verbieten. | |
## Beliebt bei der AfD | |
Die Schweiz, die das System der direkten Demokratie seit über 100 Jahren | |
auf nationaler, kantonaler und lokaler Ebene praktiziert, kassiert seit | |
einigen Jahren zu Recht verbale Prügel, weil Initiativen der | |
nationalistisch-rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) des | |
Milliardärs Christoph Blocher zum Verbot des Baus von Minaretten (2009), | |
zur „Ausschaffung krimineller Ausländer“ (2010) oder zur Verhinderung von | |
„Masseneinwanderung“ (2014) nach demagogischen Abstimmungskampagnen jeweils | |
knappe Mehrheiten fanden. | |
Diese Instrumentalisierung der politischen Volksrechte durch die | |
nationalistische Rechte macht das „Schweizer Modell“ beliebt bei der AfD | |
und populistischen Vereinfachern wie David Cameron und Matteo Renzi. Beide | |
wollten den plebiszitären Tiger reiten und setzten auf Referenden, die sie | |
verloren. Man sollte zwischen plebiszitären Inszenierungen, organisiert von | |
Zauberlehrlingen zur Stabilisierung der eigenen Macht, und direkter | |
Demokratie differenzieren. | |
Blochers Initiativen führten zu neuen Verfassungsartikeln, deren Umsetzung | |
durch ein Gesetz mit europäischen Menschenrechtsstandards | |
(Religionsfreiheit, strafrechtliche Gleichbehandlung von In- und | |
Ausländern) nicht vereinbar sind. Mit der gesetzlichen Umsetzung dieser | |
Normen tut sich die Schweiz schwer, weil die EU, mit der die Schweiz durch | |
Verträge verbunden ist, auf der Freizügigkeit für Personen besteht. Die | |
Kündigung dieser Vereinbarung würde allen Verträgen mit der EU die Basis | |
entziehen und der Schweiz wirtschaftlich schaden. Die EU-Trittbrettfahrer | |
in Bern möchten die Vorteile der europäischen Integration einstreichen, | |
ohne symmetrische Gegenleistungen zu erbringen – unter Vertragspartnern | |
üblich. Angela Merkel nannte das „Rosinenpickerei“. | |
## Der Abstieg zur Bananenrepublik? | |
Das Schweizer Parlament steht nun vor einem Dilemma. Es kann entweder den | |
neuen Verfassungsartikel, der Obergrenzen für die Einwanderung und | |
jährliche Kontingente vorsieht, ignorieren und damit die eigene Verfassung | |
verletzen, oder mit der EU ein völkerrechtliches Rahmenabkommen schließen, | |
das die Übernahme von EU-Normen prinzipiell regelt. Ein solches Abkommen | |
bedeutet in den Augen der SVP-Nationalisten einen schleichenden Beitritt | |
der Schweiz zur EU. | |
Die SVP reagierte darauf und auf ein Urteil des Schweizerischen | |
Bundesgerichts von 2012 mit einer neuen Initiative: „Volksinitiative zur | |
Umsetzung von Volksentscheiden – Schweizer Recht geht vor fremden | |
Richtern.“ Deren Kernsatz lautet: „Die Bundesverfassung ist die oberste | |
Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft“. Ausbuchstabiert | |
bedeutet das: Die Schweiz muss in Zukunft alle völkerrechtlichen Verträge | |
einem Plebiszit unterwerfen und alle alten Verträge kündigen, die dem | |
Grundprinzip widersprechen. | |
Das gälte etwa für die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), womit | |
Schweizer Bürgern, die ihre Rechte von den eigenen Behörden missachtet | |
sehen, das Recht genommen würde, vor dem Menschenrechtsgerichtshof in | |
Straßburg zu klagen. Darüber hinaus müsste die Schweiz Dutzende von | |
völkerrechtlichen Verträgen kündigen und verlöre damit jede Glaubwürdigkeit | |
als vertragstreuer Rechtsstaat. Ein Abstieg der Schweiz in die | |
Bananenrepublik-Liga. | |
Ein solches Eigentor wäre zu verhindern, wenn es eine verfassungs- und | |
völkerrechtliche Vorprüfung von Initiativtexten gäbe, die offensichtlich | |
rechtswidrige Initiativen gar nicht erst zuließe. Das ist in einem Land | |
unmöglich, in dem Rechtsprofessoren wie Hans-Ueli Vogt eine national | |
eingefärbte Lebenslüge zu ihrem Credo machen: „In der Demokratie | |
entscheidet die Mehrheit. Ob diese ‚immer recht hat‘, ist eine hübsche | |
philosophische Frage. Mit realen politischen Problemen hat sie nichts zu | |
tun“ ([1][NZZ 12. 8. 2016]). Eine andere Möglichkeit, solche Initiativen zu | |
verhindern, wäre die Errichtung eines Verfassungsgerichtshofs. | |
## Wer ist das „Volk“? | |
Auch das ist unwahrscheinlich, solange man in der Schweiz einem | |
naturalistisch-ethnisch aufgeblähten Begriff von „Volk“ frönt. In der | |
Rechtsphilosophie ist der Begriff „Volk“ seit Kant kein ethnischer, sondern | |
ein staatsrechtlicher Begriff. „Volk“ hat zwar auch ein natürliches | |
Substrat, aber politisch macht erst ein Willensakt beziehungsweise | |
Rechtsakt aus der „in einem Landstrich“ versammelten „Menge “ ein | |
„bürgerliches Ganzes“ (Kant), also das rechtlich-politische Volk – den | |
Demos. | |
Es ist eben mehr als eine „hübsche philosophische Frage“ (Vogt), ob die | |
Mehrheit recht hat. Die Reduktion der Demokratie auf das Mehrheitsprinzip | |
verkennt, dass Mehrheitsentscheidungen die „Geltungsdimension“ (Jürgen | |
Habermas) fehlt. Das ist, neben gewichtigen historischen Erwägungen, der | |
Grund, warum das Grundgesetz von 1949 (Art. 79 Abs. 3) für die in den | |
Artikeln 1 bis 20 formulierten Grundrechte die Unveränderbarkeit | |
(„Ewigkeitsklausel“) festschrieb. Dieser zufolge können formal korrekt | |
zustande gekommene Mehrheiten Minderheiten nicht ihrer Grundrechte | |
berauben. | |
Das Mehrheitsprinzip ist zwar ein unverzichtbares Verfahren im | |
demokratischen Prozess, aber es entbehrt des für Legitimität | |
unverzichtbaren, normativen Fundaments und eines objektivierbaren Maßstabs. | |
„Das Mehrheitsprinzip […] ist nie bloß Mehrheitsregel. Die Mittel, mit | |
denen eine Mehrheit eine Mehrheit wird, sind das Wichtigere: vorausgehende | |
Debatten, Perspektivenwandel gegenüber Minderheitsmeinungen“ – so der | |
amerikanische Philosoph John Dewey (1859–1952). | |
## Demontage der Demokratie durch Demokratie | |
Prozedural verstandene Volkssouveränität, wie sie Dewey antizipierte, ist | |
eine anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Vorstellung von rationaler | |
Meinungs- und Willensbildung. Unter den Bedingungen der Vorherrschaft von | |
monopolisierten und boulevardisierten Massenkommunikationsmedien erscheint | |
solche Kommunikation auf verlorenem Posten. | |
Professor Vogt betreibt die Demontage der Demokratie mit einem legitimen | |
demokratischen Mittel. In der Substanz zehren sie von der Vorstellung eines | |
homogenen Gesamtsubjekts „Volk“: „Das Volk entscheidet nicht aufgrund von | |
Ideologien und Modeströmungen […], sondern aus Sorge um das Zusammenleben | |
in unserer Gemeinschaft. […] Das Volk entscheidet ausgewogen“ (Vogt). Diese | |
Vorstellung vom Volk als einem kollektiv handelnden Subjekt ist nur eine | |
nationalistische, der Tendenz nach völkisch-rassistische Fiktion, denn jede | |
und jeder im Volk hat seinen Willen. Das Volk als Kollektiv kann gar keinen | |
Willen haben. | |
21 Dec 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/direkte-demokratie-unsere-selbstbestim… | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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