# taz.de -- Soziologe zu Erfolg von Rechtspopulismus: „Die Scham wird in Wut … | |
> Der Aufstieg von rechten Populisten liege auch am Versagen westlicher | |
> Sozialdemokraten, sagt Sighard Neckel. Neue Bündnisse seien dringend | |
> notwendig. | |
Bild: Nur eine der VertreterInnen des Rechtspopulismus | |
taz: Herr Neckel, Sie haben jüngst – mit Verweis auf den Liberalen Ralf | |
Dahrendorf – gesagt, dass wir an der Schwelle zu einem autoritären | |
Jahrhundert stehen. Ist die Lage wirklich so ernst? | |
Sighard Neckel: Wir beobachten im Augenblick, dass sich überall | |
autokratische und oligarchische Regierungen etablieren. Nicht nur an den | |
Rändern der westlichen Welt wie in der Türkei oder Russland, sondern auch | |
mitten im Zentrum wie jetzt in den USA. Die Verbindung von Kapitalismus und | |
Demokratie, die wir jahrzehntelang hatten, wird brüchig. | |
Warum? | |
Das hat mehrere Gründe. Zum einen hat der Neoliberalismus in den letzten 20 | |
Jahren die demokratischen Institutionen unter Beschuss genommen. Ihnen | |
wurde vorgehalten, ineffektiv, leistungshemmend und wachstumsfeindlich zu | |
sein. Dies hat zu einer Delegitimierung der Demokratie in weiten | |
Bevölkerungskreisen geführt. Zweitens sind die politischen Institutionen | |
dabei, sich zu transnationalisieren, in Europa also die Europäische Union. | |
Bislang vermochte sie es aber nicht, große Bevölkerungsgruppen davon zu | |
überzeugen, dass Transnationalisierung vorteilhaft für sie ist. Drittens | |
leben westliche Demokratien davon, dass sie die gleichberechtigte Teilhabe | |
verschiedener Klassen und Schichten ermöglichen. Davon kann heute nicht | |
mehr die Rede sein. | |
Was meinen Sie konkret? | |
Die sozialdemokratischen Parteien von den USA bis Mitteleuropa haben es | |
versäumt, die unteren Schichten und auch die durchschnittlichen Haushalte | |
sozialpolitisch verlässlich in die Demokratie einzubinden. Im Gegenteil | |
haben sich diese Parteien zu Komplizen einer Wirtschaftspolitik gemacht, | |
von der ihre eigene Wählerschaft letztendlich nur Nachteile hat. Das führt | |
dazu, dass große Gruppen ehedem sozialdemokratischer Wähler sich abgewendet | |
haben. Teilweise sind sie völlig desinteressiert am politischen System oder | |
sie haben sich neue Repräsentanten gesucht: die nationalistische Rechte. | |
Zugespitzt heißt das: Die Hartz-Reform der SPD ist schuld am Aufstieg der | |
AfD. | |
Das wäre zu einfach, Hartz IV ist ja nur ein Beispiel dafür. Soziologisch | |
betrachtet, haben Parteien so etwas wie eine historische Aufgabe, an der | |
sie sich bewähren müssen. Die CDU sollte den Kulturkampf zwischen den | |
Konfessionen in Deutschland beenden und die unterschiedlichen christlichen | |
Milieus politisch vereinen. Das ist ihr ganz gut gelungen. Die historische | |
Aufgabe der Sozialdemokratie ist die Integration unterer Schichten in die | |
soziale Marktwirtschaft und in die Institutionen der Demokratie. Hierbei | |
hat sie zuletzt nicht nur in Deutschland versagt. Das könnte dazu führen, | |
dass sie in den kommenden Jahren unter 20 Prozent fallen wird. | |
Was meinem Sie konkret? | |
Von Labour in Großbritannien über die Demokraten in den USA bis zur SPD | |
sind es ausgerechnet Sozialdemokraten gewesen, die in den 90er Jahren den | |
Neoliberalismus politisch durchgesetzt haben. Von der Deregulierung der | |
Finanzmärkte versprach man sich etwa, dass eine Wertschöpfung in Gang | |
gesetzt würde, von der am Ende auch untere Schichten und die staatlichen | |
Budgets profitieren. Das ist aber nicht passiert. Im Gegenteil: Der | |
ungeheure Reichtumszuwachs oben ging direkt auf Kosten der mittleren und | |
unteren Schichten. Um Banken zu retten und Großanleger vor Verlusten zu | |
schützen, sind nach der Finanzkrise 2008 horrende Steuersummen aufgebracht | |
worden. Die sozialdemokratischen Parteien haben diesen Kurs viel zu spät | |
korrigiert. Während der sogenannten Griechenlandkrise haben sie den | |
europäischen Austeritätskurs der CDU mitgestützt. Sie schauten also nicht | |
nur tatenlos zu, wie sich die soziale Spaltung vertiefte, sondern haben | |
aktiv dazu beigetragen. | |
Nun ist aber der Aufstieg der AfD in Deutschland nicht allein durch diese | |
Schichten zu erklären. | |
Das stimmt. Die nationalistische Rechte findet durch alle | |
Bevölkerungsgruppen hindurch Unterstützung. Und die AfD wäre ohne die | |
bürgerlich-nationalistische Gegenelite, die sich jetzt in ihrer Führung | |
versammelt, nicht so erfolgreich geworden. Doch die großen Stimmengewinne | |
für die AfD gäbe es nicht, wenn es dieser Partei nicht gelungen wäre, in | |
jene Bevölkerungsgruppen einzudringen, die ehedem sozialdemokratisch | |
orientiert waren. Die empirische Forschung zeigt: je geringer das | |
Einkommen, je niedriger der formale Bildungsgrad und je höher das | |
Lebensalter, desto häufiger wird die nationalistische Rechte gewählt. Das | |
kann man vom Mittleren Westen in den USA über den Pariser Industriegürtel, | |
die nordenglischen Kohlereviere bis hin nach Sachsen beobachten. Zuletzt | |
bei der Bundespräsidentenwahl in Österreich haben 85 Prozent der Arbeiter | |
FPÖ gewählt. | |
Welches Angebot verfängt dabei? | |
Das Angebot eines nationalen Protektionismus in wirtschaftlicher, | |
politischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Die trügerische Illusion eines | |
nationalen Sozialstaats, der ausschließlich die Interessen der angestammten | |
Bevölkerung vertritt. | |
In den USA heißt es nun, die Demokraten hätten sich zu sehr mit Identitäts- | |
und Antidiskriminierungspolitik beschäftigt. | |
Es ist in der Tat ein Problem, wenn das linksliberale Milieu | |
Antidiskriminierungspolitik betreibt und nicht zugleich gegen die | |
Benachteiligung aus wirtschaftlicher Ungleichheit vorgeht. Genau das aber | |
war bei den Demokraten der Fall. Für deren klassische Wähler sah das dann | |
so aus, als ob zwar jede Minderheitenforderung unterstützt wird, die | |
Anliegen der breiten Masse aber unbeachtet bleiben. | |
Sie sprechen bei der Erklärung von Rechtspopulismus auch von Scham, Wut und | |
Rache. Welche Rolle spielt das? | |
Es gibt interessante Forschungen darüber, dass sich in den Sozialgruppen, | |
die zu den Verlierern der Globalisierung zählen, Formen einer | |
uneingestandenen Scham ausgebreitet haben. Diese Menschen merken, dass sie | |
an öffentlicher Aufmerksamkeit und an Anerkennung verlieren, dass sie | |
stattdessen zu Objekten von Häme und Geringschätzung werden. Die heutigen | |
Leitbilder in der Gesellschaft haben mit ihren Formen der Lebensführung nur | |
noch wenig zu tun, die als borniert und rückständig gelten. So ein nagendes | |
Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit ist belastend, weil man zunächst den | |
Fehler bei sich selbst sucht. Daher ist es nicht überraschend, wenn die | |
Rechte dabei erfolgreich ist, diese latente Scham in Wut und Rachegefühle | |
denjenigen gegenüber zu verwandeln, die vermeintlich für die empfundene | |
Zurücksetzung verantwortlich sind. Deshalb verfängt auch die Propaganda | |
gegen Eliten so. | |
Aber die Führung der Rechtspopulisten kommt zum größten Teil selbst aus der | |
Elite. | |
Die Gegeneliten der Rechten stellen sich als Außenseiter dar und zwar im | |
Verhältnis zum eigenen Oberschichtenmilieu. Trump hat nicht die Weihen des | |
politischen Establishments erfahren, obgleich er doch Teil der ökonomischen | |
Oberklasse ist. Ebenso die Politiker der AfD-Führung, die sich als | |
Dissidenten des Bürgertums darstellen. Ihre Zurückweisung im eigenen Milieu | |
soll die Gemeinsamkeit mit ihrer Wählerschaft stiften, die sich abgehängt | |
fühlt. | |
Die AfD hat ein in weiten Teilen wirtschaftsliberales Programm. Wie passt | |
das? | |
Das ist ein Problem für die. Schauen Sie sich den Front National an, der | |
sieht sich ja in der Nachfolge der kommunistischen Partei, als | |
Interessenvertretung der Arbeiterschaft. Ob die AfD es zusammenbekommt, | |
dass ihre Wähler eigentlich einen national geschlossenen Sozialstaat | |
wollen, während ein Teil der Führung sich wirtschaftsliberal gibt, ist | |
offen. | |
Was kann man tun? | |
Wir brauchen eine neue politische Idee von gesellschaftlichen Bündnissen. | |
Dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen politische Koalitionen eingehen, | |
statt sich feindlich gegenüberzustehen. In ihren besten Jahren ist genau | |
dies der deutschen Sozialdemokratie gelungen, als sie die Arbeiterschaft | |
mit den aufstrebenden neuen Mittelschichten und einer kritischen | |
Intelligenz verband. Solche Bündnisse sind heute längst zerfallen und | |
müssten wieder neu erfunden werden. | |
Wie könnte ein solches Bündnis aussehen? | |
Eine wichtige Frage wird sein, ob es einem Bündnis von Linkspartei, SPD und | |
Grünen gelingt, wieder eine Art Hegemonie für eine reformorientierte | |
Gesellschaftspolitik zu erlangen, die gleichermaßen auf sozialen Ausgleich | |
und auf Gleichberechtigung orientiert ist. In der Flüchtlingspolitik | |
sollten die Zustände weder dämonisiert noch idealisiert werden, um der | |
nationalistischen Rechten nicht noch mehr Wähler zuzutreiben. | |
29 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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