# taz.de -- Debatte Repression in der Türkei: Auf dem Weg in die Diktatur | |
> Mit aller Macht geht der türkische Staatspräsident Erdoğan gegen die noch | |
> verbliebenen kritischen Stimmen in seinem Land vor. | |
Bild: Absurde Verfolgungswut: der türkische Präsident Erdoğan | |
In diesen Tagen kommen sie wieder in Erinnerung: jene pathetischen Worte, | |
die Turan Dursun in seiner letzten Kolumne für die linke Wochenzeitschrift | |
2000'e Doğru wählte. „Die im Gestrüpp der Dunkelheit verborgenen Lügen | |
werden aufgedeckt werden“, schrieb der laizistische türkische | |
Schriftsteller. „Für eine schöne Welt, eine helle Welt, eine Welt, in der | |
Freiheit und Vernunft regieren, sind die Anstrengungen so notwendig wie | |
Wasser und Luft.“ | |
Es war eine Abschiedsbotschaft: Kurz nach der Veröffentlichung lauerte ihm | |
am 4. September 1990 ein islamistisches Killerkommando vor seinem Haus in | |
Istanbul auf. Sieben Kugeln durchlöcherten seinen Körper. | |
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist seitdem vergangen. Und die Türkei ist | |
keine bessere geworden, im Gegenteil. Mit unbarmherziger Härte hat der | |
türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan der Freiheit und der | |
Vernunft den Kampf angesagt. Der gescheiterte Putschversuch von Mitte Juli | |
wirkt wie ein Brandbeschleuniger. In der Nacht zum Freitag hat der | |
islamistische Autokrat nun auch noch die HDP-Vorsitzenden Selahattin | |
Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie weitere Abgeordnete der prokurdischen | |
Partei festnehmen lassen. | |
Erdoğans Feldzug gegen alle kritischen Stimmen, die es in der Türkei noch | |
gibt, scheint beispiellos. Allerdings hat er einen Vorläufer. Bei einem | |
Gespräch in Istanbul erinnerte Turgay Olcayto, der Vorsitzende der | |
Türkischen Journalistenvereinigung, kürzlich an die Amtszeit von Adnan | |
Menderes, jenes türkischen Ministerpräsidenten, der als erster das | |
kemalistisch-laizistische Grundverständnis der türkischen Republik in Frage | |
gestellt hatte. | |
## Vorbild und warnendes Beispiel | |
Bei den ersten als frei zu bezeichnenden Parlamentswahlen war es dem | |
konservativen Gutsbesitzer 1950 gelungen, die alte Atatürk-Partei CHP von | |
der Macht zu verdrängen. Zu Beginn seiner Regierungszeit sah es noch so | |
aus, als wolle Menderes – wie er es im Wahlkampf versprochen hatte – den | |
Medien größere Freiheiten gewähren. Doch je kritischer sie seinen Kurs der | |
Re-Islamisierung und seine Korruptionsskandale begleiteten, desto | |
repressiver wurde er. | |
Der immer autoritärer regierende Premier drangsalierte nicht nur die | |
Opposition, er verschärfte auch das schon zuvor nicht gerade liberale | |
Pressegesetz, ließ regierungskritische Zeitungen verbieten und warf | |
Journalisten in den Knast. Schließlich war es schlimmer als zuvor. Bis er | |
1960 vom Militär weggeputscht wurde, hatte Menderes rund 800 Journalisten | |
hinter Gitter gebracht. | |
Für Erdoğan ist Menderes Vorbild – und zugleich warnendes Beispiel. „Wir | |
realisieren Menderes' Traum“, rief er seinen Anhängern im Wahlkampf zu. | |
Allerdings weiß er auch, wo Menderes und seine engsten Mitstreiter endeten: | |
am Galgen. Schon länger wirft Erdoğan seinen politischen und | |
publizistischen Gegnern vor, sie wollten ihm das gleiche Schicksal | |
bescheren. Durch den Putschversuch sieht er sich bestätigt. Seitdem geht er | |
noch gnadenloser gegen alles vor, was er als feindlich definiert hat. | |
Welch absurde Züge seine Verfolgungswut trägt, zeigt der Vorwurf an die | |
Redaktion der linkskemalistischen Cumhuriyet, sie unterstütze heimlich | |
sowohl die mutmaßlich hinter dem Putschversuch stehende Gülen-Bewegung als | |
auch die kurdische PKK. | |
## Traum von Freiheit und Vernunft | |
Bislang hat Erdoğan 178 Zeitungen, Zeitschriften, Fernseh- und Radiosender, | |
Nachrichtenagenturen sowie Verlage schließen lassen, weil sie angeblich | |
„die nationale Sicherheit gefährden“. Die prokurdischen Medien sind so gut | |
wie vollständig ausgeschaltet. Nicht einmal Gerichtsbeschlüsse bedarf es | |
dafür noch, der Ausnahmezustand macht es möglich. Rund 130 Journalisten | |
sitzen im Gefängnis. | |
Es werden weitere Schließungen und Festnahmen folgen. Noch sind schließlich | |
nicht alle oppositionellen Stimmen zum Schweigen gebracht worden, | |
erscheinen neben der traditionsreichen Cumhuriyet die beiden kleineren | |
linken Tageszeitungen BirGün und Evrensel. Aber wie lange noch? | |
Die Türkei war nie ein Hort der Meinungs- und Pressefreiheit. Trotzdem gab | |
es immer Menschen, die das Wagnis eines kritischen Journalismus auf sich | |
genommen haben. Sie riskierten sowohl ihre Freiheit als auch ihr Leben. Die | |
Türkische Journalistenvereinigung listet 56 Journalisten auf, die seit der | |
Republikgründung 1923 ermordet wurden – die meisten in den 1990er Jahren. | |
Die Zeit vor der Machtübernahme von Erdoğans AK-Partei 2002 ist keine, nach | |
der man sich zurücksehnen sollte. | |
Gleichwohl hat das, was gerade geschieht, eine neue Qualität: Der | |
Nato-Partner und EU-Beitrittskandidat befindet sich schnellen Schrittes auf | |
dem Weg in eine islamistisch-nationalistische Diktatur. Trotzdem gibt es | |
immer noch viele Menschen in der Türkei, die Turan Dursuns Traum von einer | |
Welt, in der Freiheit und Vernunft regieren, weiter träumen. Wir dürfen sie | |
nicht alleine lassen. | |
4 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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