# taz.de -- Nach der Verhaftungswelle in der Türkei: Misstrauen und Schweigen | |
> Die Inhaftierung der HDP-Poliker*innen spaltet auch die deutschtürkische | |
> Community. Zu Besuch auf der Solidaritätsdemo in Berlin. | |
Bild: Protest am Freitag in Berlin gegen die türkische AKP-Regierung | |
Berlin taz | Es gibt dieses Vorurteil, dass Deutschtürk*innen konservativer | |
seien, als Türk*innen, die in der Türkei leben. Es stimmt nicht. Die | |
Aufgeklärten sind genauso aufgeklärt, die Konservativen genauso | |
konservativ. Den Unterschied macht allein, dass deutschsprachige Medien | |
einen anderen Blick auf die politischen Umstände in der Türkei werfen. | |
Journalist*innen können, anders als in der Türkei, Ungerechtigkeiten | |
benennen, ohne um ihre Jobs, ihre Freiheit, ihr Leben fürchten zu müssen. | |
An dem weitgehenden Misstrauen, das unter Migranten gegen die | |
Berichterstattung in Deutschland herrscht, ändert das aber nichts. | |
Ein paar Minuten vor Beginn der Berliner Solidaritätsdemo für die führenden | |
HDP-Politiker*innen, die in der Nacht zum Freitag in der Türkei | |
festgenommen wurden, sitzt eine junge Mutter mit ihren 4-jährigen | |
Zwillingen in der U-Bahn. Sie sei in Istanbul aufgewachsen und bereue es | |
hierher gezogen zu sein, erzählt sie. „Hier gibt es kein Leben, wir haben | |
schlecht bezahlte Jobs und können gerade so unsere Miete bezahlen.“ Die | |
Bahn hält in der Nähe des Brandenburger Tors. Die junge Mutter bleibt | |
sitzen. Sie habe nichts gegen Kurden, sagt sie, aber diese Demo sei „für | |
Terroristen“. | |
Dass prokurdische Politik und die kurdische Identität per se mit | |
„Terrorismus“ gleichgesetzt werden, ist in der Türkei nichts Neues. Wenn | |
heute die beiden HDP-Vorsitzenden Figen Yükseksag und Selahattin Demirtas | |
sowie sieben weitere Abgeordnete der HDP wegen Unterstützung oder | |
Propaganda oder Mitgliedschaft in einer Terrororganisation festgenommen | |
werden, folgt das einem Narrativ, dass seit Jahrzehnten gepflegt wird. | |
Bemerkenswert ist nur, dass dieselbe AKP-Regierung, die heute mit ihrem | |
harten Vorgehen gegen Minderheiten und Oppositionelle einen Bürgerkrieg | |
riskiert, sich einst durch Gespräche mit dem inhaftierten PKK-Führer | |
Abdullah Öcalan als Friedensstifter inszenierte. Und die | |
HDP-Politiker*innen dabei als Vermittler einsetzte. Nicht zufällig endete | |
der Friedensprozess schlagartig nach den Wahlen 2015: Die HDP schaffte es | |
über die Zehnprozenthürde, und die AKP verlor ihre absolute Mehrheit. In | |
der Folge wurden die Wahlen für ungültig erklärt, und der seit zwei Jahren | |
andauernde Waffenstillstand zwischen der türkischen Armee und der | |
kurdischen Arbeiterpartei PKK über Nacht aufgekündigt. | |
## Ratlose Gesichter | |
Rund 1.000 Menschen haben sich am Freitagabend gegen 17.30 Uhr am | |
Brandenburger Tor eingefunden. Slogans wie „Seite an Seite gegen den | |
Faschismus“ oder „Diktator Erdogan“ ertönen auf deutsch, kurdisch und | |
türkisch. Die Stimmung ist eher betreten. Dieselben Leute, die im Juni | |
vergangenen Jahres auf den Straßen Kreuzbergs und Neuköllns tanzten, um den | |
Einzug der HDP ins türkische Parlament zu feiern, demonstrieren nun mit | |
ratlosen Gesichtern gegen die Inhaftierung der Parteiführung. Es sind aber | |
auch neue Gesichter hinzugekommen, junge Akademiker*innen und | |
Künstler*innen aus der Türkei, die in den vergangenen Monaten nach | |
Deutschland ausgewandert sind. | |
„Ich habe früher die CHP unterstützt“, sagt Grafikdesignerin Ezgi A., | |
gebürtige Istanbulerin, die seit August in Berlin lebt. Aber seit die | |
links-kemalistische Partei, die die größte Opposition im türkischen | |
Parlament bildet, für die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten | |
gestimmt habe, sei die für sie „endgültig gestorben“. Die HDP hat es als | |
erste prokurdische Partei geschafft, allen Minderheiten eine Stimme zu | |
geben. Frauen laufen bei jeder Demonstration ganz vorne, LGBTI*-Rechte sind | |
fester Teil des Parteiprogramms. | |
Doch ist die Popularität der HDP nicht nur der Regierung ein Dorn im Auge, | |
auch die beiden anderen Oppositionsparteien distanzieren sich von der neuen | |
Linken. Vor allem seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, den | |
alle Parteien im selben Ton verurteilten, wird die HDP massiv ausgegrenzt. | |
Die Führungen der Rechtsnationalisten und der Links-Kemalisten verhandeln | |
mit Erdogan, während die HDP zu den Gesprächen nicht einmal eingeladen | |
wird. | |
## Seltsame Schweigsamkeit | |
Auch Bernd Riexinger von der Linken ist am Freitagabend am Brandenburger | |
Tor. Er ruft die Bundesregierung dazu auf, die Waffenexports in die Türkei | |
zu beenden, sowie den Flüchtlingsdeal mit der AKP-Regierung aufzukündigen: | |
„Das Geld darf nicht in die Taschen von Autokraten wandern, sondern in die | |
Behebung von Fluchtursachen!“ | |
Der Protestmarsch endet am Auswärtigen Amt in der Französischen Straße, | |
wohin Außenminister Frank Steinmeier am selben Tag den Vertreter des | |
türkischen Botschafters einbestellt hat. Ob und was daraus folgt, ist | |
unklar. Die uneindeutige Türkei-Politik der Bundesregierung verunsichert | |
nicht nur Oppositionelle. Sie ist mitunter auch ein Grund für das | |
Misstrauen der AKP-nahen deutschtürkischen Community. An einem Tag sieht | |
man Merkel und Erdogan Hände schütteln und über Visafreiheit diskutieren. | |
Am nächsten Tag werden von deutscher Seite Menschenrechtsverletzungen in | |
der Türkei verurteilt. | |
Was aber auffällig bleibt, ist das Schweigen einiger deutschtürkischer | |
Speaker*innen. Politische Stimmen wie die der Netzaktivistin und Autorin | |
Kübra Gümüsay werden zunehmend präsenter in deutschen Medien, wenn es um | |
die Flüchtlingsfrage, um Islamophobie oder um Feminismus geht. In der | |
Diskussion um Menschenrechte in der Türkei aber, die nicht mehr getrennt | |
von der Bundesregierung gesehen werden kann, verstummen sie ganz plötzlich. | |
Keine Solidaritätserklärung, kein antirassistisches Statement, nicht ein | |
einziger Tweet. Es muss ja nicht immer die Tagesschau sein. Ein simples | |
„Schau hin“ aus dieser Richtung wäre vielleicht schon bedeutend genug als | |
Statement gegen Lagerdenken. | |
5 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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