# taz.de -- Erdoğans türkische Autokratie: Freiheit für den Papagei | |
> Vor wenigen Tagen wurden mehrere Redakteure der „Cumhuriyet“ | |
> festgenommen. Eine Redakteurin der Zeitung berichtet. | |
Bild: „Putsch gegen die Opposition“ titelt die Zeitung Cumhuriyet, nachdem … | |
Am vergangenen Freitagabend unterhielten sich zwei Menschen, die seit mehr | |
als 20 Jahren befreundet sind, über die Lage im Land. Der eine ist jetzt | |
Dozent an der Uni, an der die beiden einst gemeinsam studierten, die andere | |
ist Journalistin. Der Dozent erzählte von einem Kollegen, der wegen | |
mangelnder Leistungsbereitschaft gegangen wurde – allerdings wussten alle | |
an der Uni um die wahren Gründe dieser Kündigung im Sommer des | |
Ausnahmezustandes, in den die Türkei nach dem Putschversuch vom 15. Juli | |
gesteuert wurde. | |
Alle Kolleg*innen, die noch auf ihren Stellen saßen, hätten Angst um ihre | |
Zukunft, erzählte der Dozent. Tausende von Wissenschaftler*innen sind | |
bereits entlassen worden, manche unter fadenscheinigen Vorwänden, andere | |
wegen der Unterschrift unter den Aufruf der „Akademiker*innen für den | |
Frieden“, die sich „nicht mitschuldig an den Verbrechen“ der Regierung | |
machen wollten, wieder andere, weil sie Mitglied einer linken Gewerkschaft | |
sind – oder schlicht, weil sie irgendwie in Opposition zur Regierung | |
standen. Die Angst war also nicht weit hergeholt. | |
Die andere der beiden, die jetzt als Journalistin arbeitet, erzählte, wie | |
die Großoperation gegen die Medien im Laufe derselben Woche Fernsehkanäle | |
erfasste, die kurdische Animationsfilme zeigten, lokale Onlineportale | |
ebenso wie Kulturmagazine, und dass mit der Tageszeitung, für die sie | |
selbst arbeitete, jeden Moment alles Mögliche geschehen könne. Auch diese | |
Prognose war nicht weit hergeholt. | |
Der Dozent fand in den Abendstunden des nächsten Tages seinen Namen in | |
einer neuen „Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft“ im türkischen Gesetzblatt | |
wieder. Er war nun einer von 1.267 Wissenschaftler*innen, die während der | |
jüngsten Welle von den Hochschulen gefeuert wurden. Das war noch nicht | |
alles: Von nun an dürfen die Hochschulen ihre Rektor*innen nicht mehr | |
selbst wählen. Sie sollen vom Staatspräsidenten persönlich auserkoren | |
werden. | |
Am Montagmorgen dann wurde die Journalistin von der Frage geweckt: „Bist du | |
okay?“ | |
Diese Journalistin bin ich. | |
Redakteur*innen der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet, Autor*innen | |
und der Vorstand der als Inhaber fungierenden Stiftung waren bei | |
Hausdurchsuchungen verhaftet worden – 13 Mitarbeiter insgesamt. Selbst vier | |
Tage später, sind noch keine Anwält*innen zu ihnen vorgelassen worden, kurz | |
darauf werden die Haftbefehle für 9 Mitarbeiter offiziell bestätigt. Die | |
Zeitung wurde beschuldigt, dem Putschversuch vom 15. Juli den Boden | |
bereitet und die „Terrororganisation FETÖ“ – also die Gülen-Bewegung – | |
unterstützt zu haben. | |
Gegenüber vom Redaktionsgebäude der Cumhuriyet befindet sich eine Wand, die | |
von einer Reihe großer Werbeplakate überdeckt ist. Als sich nach der | |
Operation gegen die Zeitung die Straße mit protestierenden Menschen füllte, | |
tauchten dort plötzlich zwei riesige Paneele auf, die mit je einer | |
türkischen Flagge und dem Schriftzug „Die Souveränität geht vom Volke aus�… | |
versehen waren. Dies ist eine der Werbebotschaften, die nach dem | |
Putschversuch vom 15. Juli überall in der Türkei von der Regierung | |
angebracht wurden. | |
## Wer ist das Volk? | |
Und als EU-Parlamentspräsident Martin Schulz die Verhaftungen als | |
Überschreitung einer roten Linie in Sachen Pressefreiheit bezeichnete, | |
antwortete ihm Premierminister Binali Yıldırım von der Warte ebenjenes | |
„Volkes“ herab. „Uns“ könnten seine Linien egal sein, weil bei uns „… | |
Volk“ die Linien zieht. Seit dem 15. Juli wird die Rede vom „Volk“ wie ei… | |
Waffe gegen all die gerichtet, die nicht AKP wählen, und nun wendet | |
Yıldırım sie gegen den EU-Parlamentspräsidenten. | |
Als ginge weltweite Souveränität vom türkischen „Volk“ – wie er es ver… | |
– aus, das nun offenbar auch dafür sorgte, dass im Rahmen einer sogenannten | |
antiterroristischen Operation die Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei | |
HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, und weitere Abgeordnete | |
festgenommen wurden. | |
Dennoch lässt sich Yıldırıms Reaktion noch als eine Form politischer | |
Höflichkeit lesen. Das eigentlich Intendierte findet man in einer | |
Zeitungskolumne, die Erdoğans Chefberater Yiğit Bulut an den „Pfarrer | |
Schulz Efendi“ richtet. | |
Bulut hat da, wo er brüllen wollte, Großbuchstaben benutzt: „Schulz Efendi, | |
KOMMT ZUR BESINNUNG, und Du am meisten! Eigentümer dieses Landes, | |
letzthinniger Entscheidungsträger und alleiniger Entscheidungsträger ist | |
DAS VOLK und sind diejenigen, denen DAS VOLK ein Mandat erteilt hat! WEDER | |
SOLCHE LEUTE WIE DU, NOCH DIESE EU GENANNTE, profillose STRUKTUR können | |
über dieses LAND UND SEIN VOLK ENTSCHEIDUNGEN FÄLLEN!“ | |
Seit jenem Montagmorgen stehen durchgehend Menschen vor dem | |
Redaktionsgebäude der Cumhuriyet. Es kamen Mitglieder politischer Parteien | |
und zivilgesellschaftlicher Basisorganisationen, es kamen Einzelne, die | |
einfach die Nase voll hatten und auf die Straße gingen, um vielleicht das | |
erste Mal in ihrem Leben eine Parole zu rufen. Während wir im Gebäude | |
arbeiteten, stieg der Ruf „Die freie Presse lässt sich nicht zum Schweigen | |
bringen!“ die Stockwerke hinauf und drang durch die geschlossenen Fenster. | |
## Sie alle kamen | |
All unsere Kolleginnen und Kollegen von bereits geschlossenen | |
Fernsehsendern, Nachrichtenagenturen und Zeitungen, die seit Monaten | |
arbeitslos waren – und diejenigen, die spürten, dass nach der Cumhuriyet | |
sie selbst dran sein würden, gingen am Schriftzug „Die Souveränität geht | |
vom Volk aus“ vorbei bis zum Eingang der Cumhuriyet: Künstler*innen, die | |
sich derzeit kaum noch artikulieren können, Schriftsteller*innen, denen | |
Worte wirkungslos erscheinen, das Geschehende auch nur zu schildern, | |
Wissenschaftler*innen, die den Boden unter den Füßen verlieren, nur weil | |
sie seit Jahren dem nachgehen, was sie am liebsten tun, und dafür jetzt aus | |
ihren Positionen entfernt werden. | |
Sie sind die andere Hälfte dieses Landes, die von der Regierung nicht als | |
„Volk“ anerkannt wird. | |
Ich fürchte, den Großteil unserer noch verbliebenen Energie verwenden wir | |
hier darauf, unseren Verstand zu bewahren. Letzte Woche wurde das Büro der | |
Nachrichtenagentur Dicle in Ankara ohne Vorwarnung mitten in der Nacht | |
versiegelt, und die ausgesperrten Kolleg*innen fürchteten, der | |
Redaktionspraktikant – ein Papagei namens Tolaz – sei allein im Gebäude | |
eingesperrt. | |
Tolaz heißt auf Kurdisch soviel wie Rumtreiber. Der Graupapagei kann rund | |
70 Worte Kurdisch und Türkisch sprechen und, wenn er kurdische Musik hört, | |
dazu sogar die passenden Tanzschritte machen. Nachdem die Sorge umging, er | |
sei im versiegelten Büro ohne Futter und Wasser zurückgeblieben, | |
verbreitete sich in den sozialen Medien die Kampagne „Freiheit für Tolaz“, | |
und wahrscheinlich wurde zum ersten Mal in der Geschichte ein Staatsanwalt | |
mit einem Freiheitsgesuch für einen Papagei konfrontiert. | |
Wo aber jedes dissidente Wort auf eine Aggression stößt, die sich | |
unverhohlen, ganz ohne Rechtfertigungsdruck und vor allen Dingen jenseits | |
aller Vernunft geriert, dann wird es nicht nur sehr schwer, mit rationalen | |
Methoden dagegen anzukämpfen, sondern es entsteht auch eine gewisse | |
Kränkung. Eine Kränkung darüber, dass die Hälfte des „Volkes“ ihren | |
Verstand und ihr Gewissen zu Geiseln ihrer Partei machen lässt; denn das | |
hat nichts mehr mit der Frage zu tun, wem man seine Wahlstimme gibt. | |
Der Autor Eduardo Galeano soll sein Leben lang die Weisheit der Welt auf | |
den Straßen gesammelt haben. Er überliefert uns eine Wandmalerei: „Sparen | |
wir uns den Pessimismus für bessere Zeiten auf.“ Hoffnungslosigkeit lässt | |
die schlechten Tage sich länger hinziehen als 24 Stunden. | |
Andererseits aber war nicht alles umsonst: Der Papagei Tolaz ist wohlauf | |
und in Freiheit. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny. | |
Pınar Öğünç, 1975 in Istanbul geboren, ist Journalistin der Tageszeitung | |
Cumhuriyet. | |
5 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Pınar Öğünç | |
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