# taz.de -- Debatte Hartz IV-Regelsätze: Listen der Entmündigung | |
> Die neuen Regelsätze haben wenig mit der Realität von Armut zu tun. Die | |
> Grundsicherung muss stärker individualisiert werden. | |
Bild: Weder Haustiere noch Schnittblumen dürfen Hartz-IV-Bezieher_innen sich g… | |
Die Ausschlusslisten wirken lustig, sind es aber für die Betroffenen nicht. | |
Bier, Haustiere, Schnittblumen, Campingzelte, Gießkannen, Handyverträge: | |
Die Aufzählung, von der Diakonie veröffentlicht, betrifft Ausgabeposten, | |
die als nicht zum Existenzminimum gehörig betrachtet werden. | |
Die Liste stützt sich auf die neuesten Berechnungen im | |
Regelbedarfsermittlungsgesetz von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles | |
(SPD), das demnächst in erster Lesung im Bundestag beraten und im Januar in | |
Kraft treten soll. Die Statistiker ermittelten dabei für Alleinstehende die | |
Konsumausgaben der ärmsten 15 Prozent der Singlehaushalte. Wer | |
ausschließlich von Hartz IV lebte, wurde von dieser Referenzgruppe | |
ausgeschlossen. Von deren Konsumausgaben zogen die Statistiker das | |
angeblich nicht Lebensnotwendige ab und kamen auf den rechnerischen | |
Hartz-IV-Regelsatz. Ab Januar 2017 gibt es also für Alleinstehende 5 Euro | |
mehr, nämlich 409 Euro plus Wohnkosten. Auch die Sätze für Kinder steigen, | |
nach gesonderter Berechnung. | |
Mit dem wirklichen Ausgabeverhalten der Empfänger hat die Rechnerei | |
allerdings wenig zu tun. Der Regelsatz, der auch für die Empfänger von | |
Grundsicherung im Alter und, mit Ableitungen, für | |
Asylbewerberleistungsempfänger gilt, bestimmt das Leben höchst heterogener | |
Gruppen. | |
Vom Regelsatz abhängig sind Alleinerziehende, die Panik haben, dass die | |
Waschmaschine kaputtgehen könnte. Mit dem Regelsatz auskommen müssen | |
Altersarme auf Grundsicherung, die davon Besuche bei den Enkeln und neue | |
Brillen bezahlen sollen. Der Regelsatz und seine Ableitungen prägen auch | |
das Leben von Flüchtlingen, die viel Geld ausgeben für Mobilkommunikation | |
und jeden Monat Geld an die armen Verwandten in der Heimat schicken sollen. | |
## Ohne Unterstützung bittere Armut | |
Wie schlecht oder weniger schlecht man mit dem Regelsatz lebt, hängt dabei | |
auch von den informellen Stützsystemen ab. Ein verdienender, nicht im | |
selben Haushalt wohnender Lebenspartner, die Unterstützung von Verwandten, | |
ein kleiner Zuverdienst – das kann den Unterschied ausmachen zwischen | |
Exklusion und Inklusion trotz Hartz-IV-Bezugs. | |
Wer aber keine privaten Stützsysteme hat, fällt mit Hartz IV in bittere | |
Armut; ihm bleiben oft nur die Hilfseinrichtungen. Längst sind die „Tafeln“ | |
mit der Ausgabe gespendeter Lebensmittel, die Kleiderkammern und | |
Suppenküchen zu einer Art Ersatzsozialämter geworden. Weil man einen großen | |
Teil des Regelsatzes bereits für die hohen Stromkosten, die Flatrate, | |
Reparaturen, Fahrkarten, Schuldenbegleichung, Medikamente oder vielleicht | |
auch für Bier und Zigaretten ausgibt und dann gegen Ende des Monats nichts | |
mehr übrig hat zum Leben. | |
Das ist die Wirklichkeit und dagegen wirkt die Berechnung des Regelsatzes | |
willkürlich und, schlimmer noch, wie Versuche der Disziplinierung. So sind | |
im Regelsatz etwas über 3 Euro im Monat vorgesehen, um für Reparaturen von | |
Haushaltsgeräten zu sparen. | |
Doch es grenzt an Zynismus, von den Armen auch noch Spardisziplin zu | |
verlangen. Der finanzielle Druck ist viel zu groß. Das Leben mit Hartz IV | |
ist ein Leben in der ständigen Improvisation. | |
## Im Zentrum der Verteilungsdebatte | |
Was also wäre zu tun? Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert einen | |
Regelsatz von 520 Euro im Monat plus Wohnkosten, das sind 111 Euro mehr als | |
bisher geplant – und staatliche Mehrausgaben von geschätzten 8 Milliarden | |
Euro im Jahr. Das klingt sogar bezahlbar, irgendwie und mittelfristig, doch | |
jede deutliche pauschale Erhöhung des Regelsatzes birgt hohes | |
Verhetzungspotenzial. | |
Denn Hartz IV steht immer auch im Zentrum horizontaler Verteilungsdebatten. | |
Die Ressentiments schlecht entlohnter Dienstleister, die über ihre | |
Sozialabgaben murren, gegenüber „Hartzern“ sind groß. Jetzt kommen noch | |
Hunderttausende von Flüchtlingen als Leistungsempfänger dazu. Die Empathie | |
der unteren Mittelschicht mit knappsenden Alleinerziehenden mag stark sein, | |
mit jungen migrantischen Männern ohne Job hingegen weniger. | |
Die Zeiten für sprunghafte Erhöhungen sind also schlecht. Statt eine | |
ritualisierte Armutsdebatte mit Maximalforderungen zu führen, ist | |
Pragmatismus angesagt. Viel wäre gewonnen, wenn man Verelendung und | |
individuelle Notlagen stoppte. | |
Es ist absurd, aus dem Regelsatz die Reparatur oder Ersatzanschaffung von | |
Haushaltsgeräten finanzieren zu müssen. Zumindest die „Weißware“, also | |
Haushaltsgeräte und deren Reparaturen sollten wie in der alten Sozialhilfe | |
als „einmalige Leistungen“ gewährt werden, so fordern es zu Recht der | |
sozialpolitische Sprecher der Grünen, Wolfgang Strengmann-Kuhn, und die | |
Wohlfahrtsverbände. Auch die steigenden Stromkosten sollten „gesondert von | |
der Regelsatzberechnung“ bezahlt werden, meint Strengmann-Kuhn. | |
## Notkredit für den Kühlschrank | |
Niemand sollte auch auf eine neue Brille verzichten müssen, weil er sie aus | |
dem Regelsatz nicht finanzieren kann. Auch diese Leistungen müssten nach | |
individuellem Bedarf gesondert gewährt werden. | |
Die Rückkehr zu einer stärkeren Individualisierung brächte mehr Bürokratie | |
mit sich, das stimmt. Vor einigen Jahrzehnten bewilligten die Sozialämter | |
Möbel und Haushaltsgeräte und deren Ersatzanschaffungen als „einmalige | |
Leistungen“ auf Antrag. Die Abhängigkeit von den Sachbearbeitern war | |
heikel, Klagen der Sozialämter über Missbrauch verbreitet. Doch wie es | |
jetzt läuft, funktioniert es eben nicht. | |
Tausende von Hartz-IV-Empfängern nehmen bisher schon in Notfällen Kredite | |
bei den Jobcentern auf und müssen dann für eine lange Tilgungszeit einen um | |
20, 30 Euro geminderten Regelsatz hinnehmen. Die Berechnung dieser Darlehen | |
ist kompliziert, und wer mit dem verkleinerten Regelsatz auskommen muss, | |
gerät schnell in die Verelendung. | |
Die Rückkehr zu mehr individualisierten Zusatzleistungen, auch für | |
Notfälle, wäre ein Eingeständnis. Und ein Anfang einer Armutsdebatte, die | |
an der Wirklichkeit der Menschen ansetzt. Und nicht darüber diskutiert, ob | |
Schnittblumen, Hamsterfutter und Kindermalstifte zum Existenzminimum | |
gehören oder nicht. | |
7 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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