| # taz.de -- Denkfehler der Wirtschaftswissenschaft: Kein Kapitalismus, nur Göt… | |
| > Die Ökonomie kriselt. Antworten auf die Ungleichheit scheint es nicht zu | |
| > geben. Was wir von den Klassikern Smith, Marx und Keynes lernen können. | |
| Bild: Keine Liebe für Ungleichheit. Statt auf zu simple Theorien zu hören, so… | |
| Warum sind die Reichen reich und die Armen arm? Woher kommt das Wachstum? | |
| Wie entstehen Wirtschaftskrisen? Wieso gibt es Arbeitslose? Schon Kinder | |
| stellen diese Fragen – aber die Ökonomen können sie nicht eindeutig | |
| beantworten. Oft ignorieren sie diese Fragen sogar und schrauben lieber an | |
| mathematischen Modellen, die mit der Realität nichts zu tun haben. | |
| In der Ökonomie hat sich eine Schule namens „Neoklassik“ durchgesetzt, die | |
| ihre Theorien so konstruiert, als würden wir uns in einer Art fiktivem | |
| Mittelalter befinden und als hätte es die Industrialisierung nie gegeben. | |
| Die Ökonomen modellieren eine Welt, in der es nur Wochenmärkte gibt, auf | |
| denen Äpfel und Birnen gehandelt werden. Es mag ungeheuerlich klingen, aber | |
| die meisten Volkswirte haben keinen Begriff davon, was es bedeutet, in | |
| einem voll ausgereiften Kapitalismus zu leben, in dem Großkonzerne | |
| dominieren und die Spekulation grassiert. In der herrschenden Theorie | |
| spielen Investitionen und Kredite keine zentrale Rolle – ja selbst Geld und | |
| Gewinne kommen kaum vor. | |
| Leider sitzen die Wirtschaftswissenschaftler nicht isoliert in einem | |
| Elfenbeinturm, wo sie keinen Schaden anrichten können. Im Gegenteil, sie | |
| sind so mächtig wie keine andere Disziplin. Sie beherrschen alle | |
| Expertengremien, beraten die Regierungen und lenken die Zentralbanken. Es | |
| ist nicht übertrieben: Die Irrtümer der Ökonomen kosten nicht nur | |
| Milliarden, sondern sogar Menschenleben. | |
| Allein die letzte Finanzkrise hat weltweit Billionen gekostet. Dieser teure | |
| Crash war nur möglich, weil die Ökonomen eine Theorie vertraten, in der | |
| Krisen gar nicht vorkamen: Stattdessen wurde behauptet, dass die | |
| Finanzmärkte stets zur „Effizienz“ neigen würden. | |
| ## Die Mär vom unsterblichen, allwissenden Konsumenten | |
| Irren ist menschlich, aber an den Ökonomen irritiert, dass sie nicht aus | |
| ihren Fehlern lernen. Sie halten selbst dann an ihren weltfremden Modellen | |
| fest, wenn sie deren Schwächen klar erkennen. | |
| Olivier Blanchard ist das beste Beispiel für dieses Paradox. Der 67-jährige | |
| Franzose gehört zu den weltweit führenden Ökonomen. Er war Professor am MIT | |
| und von 2008 bis 2015 Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds. | |
| Jetzt hat er einen viel beachteten Aufsatz publiziert, in dem er die | |
| Neoklassik frontal attackiert. | |
| Blanchard moniert, dass die neoklassischen Modelle voraussetzen, dass „die | |
| Konsumenten ewig leben und allwissend“ sind. Trocken stellt Blanchard fest: | |
| „Diese Annahme steht im Widerspruch zu allem, was wir über Konsumenten und | |
| Firmen wissen.“ In der Tat. Selbst Kindern ist bereits bewusst, dass | |
| Menschen sterben müssen. | |
| Wer aber erwartet, dass Blanchard eine theoretische Kehrtwende verlangt, | |
| der irrt gewaltig. Blanchard fordert nur, dass die neoklassischen Modelle | |
| „mehr empirische Daten“ einbeziehen. Aber wie soll eine Theorie „empirisc… | |
| werden, die davon ausgeht, dass die Menschen unsterblich und allwissend | |
| sind – dass die Welt also nur von Göttern bevölkert wird? | |
| ## Ingnoranz als Methode | |
| Blanchard drückt sich um das entscheidende Problem: Die Neoklassik | |
| funktioniert nur, wenn man von jeder Empirie absieht. Denn die Neoklassik | |
| will unbedingt beweisen, dass die Gesamtwirtschaft stets zum Gleichgewicht | |
| tendiert. Dieser „Nachweis“ ist jedoch nur möglich, wenn man die reale Welt | |
| ignoriert. | |
| Die neoklassischen Modelle sind sogar noch viel extremer, als Blanchard | |
| andeutet. Sie gehen nicht nur davon aus, dass die Menschen unsterblich und | |
| allwissend sind – es gibt überhaupt nur einen einzigen Konsumenten in | |
| dieser Plastikwelt, der auch nur eine einzige Ware verbraucht. Denn zwei | |
| Menschen und zwei Produkte würden die Neoklassik bereits überfordern. | |
| Die neoklassische Theoriewelt ähnelt also dem Roman „Robinson Crusoe“: Der | |
| einsame Konsument, der nie stirbt, stellt ein einziges Produkt in einer | |
| einzigen Firma her, die er selbst besitzt und in der er auch der einzige | |
| Angestellte ist. Banken, Kredite oder gar Geld sind in diesem Modell | |
| überflüssig. Der Nobelpreisträger Ronald Coase merkte einmal bissig an, die | |
| Neoklassik sei nur in der Lage, „Einzelgänger“ zu analysieren, „die am | |
| Rande eines Waldes mit Beeren und Nüssen handeln“. | |
| ## Die Theorie ist vor allem für Privilegierte bequem | |
| Diesen Unsinn könnte man lustig finden, wenn die politischen Folgen nicht | |
| so verheerend wären. Denn es hat eine Funktion, dass die Neoklassiker so | |
| nachdrücklich behaupten, dass die Wirtschaft stets zum Gleichgewicht | |
| tendieren würde: Dies entsorgt das leidige Thema „Macht“. Plötzlich ist es | |
| keine Frage mehr, warum einige reich und viele arm sind. Jeder bekommt, was | |
| angeblich seiner „Leistung“ entspricht. Die Neoklassik ist eine Theorie, | |
| die für die Privilegierten sehr bequem ist. | |
| Unverdrossen warnen die Neoklassiker davor, einen Mindestlohn einzuführen, | |
| die Reichen zu besteuern oder Konjunkturpakete aufzulegen. Doch so eloquent | |
| die Professoren sind: Sie informieren die Wähler nie, dass diese Ratschläge | |
| einer fiktiven Modellwelt entstammen, in der nur unsterbliche und | |
| allwissende Götter leben. | |
| Die heutige Ökonomie hat mit Wissenschaft nichts mehr zu tun – sondern ist | |
| eine Religion. Wer das Mantra vom Gleichgewicht nicht glaubt, kann an einer | |
| großen Universität keine Karriere machen. Alle wichtigen Lehrstühle sind | |
| von Neoklassikern besetzt. | |
| ## Marx, Smith und Keynes werden nicht mehr gelehrt | |
| Daher ist auch nicht zu erwarten, dass sich die Ökonomie von innen | |
| erneuert. Stattdessen werden Generationen von Studenten indoktriniert: | |
| Derzeit sind in Deutschland 429.676 Studierende im Fach Wirtschaft | |
| eingeschrieben. Sie lernen nie, ihre Disziplin kritisch zu hinterfragen. | |
| Stattdessen müssen sie sich durch Lehrbücher quälen, die „Musteraufgaben“ | |
| und „Musterlösungen“ präsentieren – also suggerieren, dass es eine Wahr… | |
| gäbe. | |
| Zum Dogmatismus der Mainstream-Ökonomen gehört, dass sie die wichtigsten | |
| Theoretiker ihres eigenen Faches ignorieren. Adam Smith, Karl Marx und John | |
| Maynard Keynes werden an den Universitäten kaum, verzerrt oder gar nicht | |
| mehr gelehrt. Dabei haben diese Theoretiker ihre Disziplin begründet und | |
| umgewälzt. Ohne sie gäbe es die moderne Volkswirtschaftslehre überhaupt | |
| nicht. | |
| Doch Mainstream-Ökonomen tun gern so, als wären Smith, Marx und Keynes | |
| „überholt“ und nur noch Gespenster der Geschichte. Dabei wird der beliebte | |
| Trick benutzt, dass automatisch als „modern“ gilt, was in der Gegenwart | |
| verfasst wird. „Heutig“ ist, was heute entsteht. Doch diese Tautologie | |
| verdeckt, dass auch die Neoklassik aus dem 19. Jahrhundert stammt. | |
| ## Bürger müssen ökonomisch denken lernen | |
| Es ist fatal: Weitere schwere Finanzkrisen sind absehbar, doch der | |
| Mainstream hält an einem Modell fest, das nur harmlose Wochenmärkte kennt. | |
| Da eine Reform innerhalb der Ökonomie nicht zu erwarten ist, muss der Druck | |
| von außen kommen: Die Bürger müssen selbst zu Wirtschaftsexperten werden. | |
| Die Wähler können das Risiko nicht mehr eingehen, das ökonomische Denken | |
| anderen zu überlassen. | |
| Die Irrwege der Mainstream-Ökonomen lassen sich am besten verstehen, wenn | |
| man die Alternativen kennt: also Smith, Marx und Keynes. Wie alle | |
| Theoretiker waren sie Kinder ihrer Zeit, sodass manche ihrer Ideen durch | |
| die historische Entwicklung widerlegt wurden. Aber anders als die heutigen | |
| Ökonomen haben sie die wesentlichen Fragen gestellt – und sich in der | |
| realen Welt umgesehen. | |
| Nur ein paar Beispiele: Adam Smith hat bereits vor 240 Jahren klar erkannt, | |
| dass nicht die Intelligenz oder die „Leistung“ erklärt, ob jemand arm oder | |
| reich ist. Stattdessen sah er genau, dass die Herkunft entscheidend ist – | |
| und dass Arbeiterkinder kaum Chancen haben. | |
| ## Keynes war konservativ | |
| Viele glauben, Marx sei überholt, weil die Massen – anders als von ihm | |
| prognostiziert – nicht verelendet sind. Doch dies verkennt, dass Marx als | |
| Erster richtig beschrieben hat, welche Rolle die Technik im Kapitalismus | |
| spielt. Marx hat auch als Erster gesehen, dass ausgerechnet der Wettbewerb | |
| dazu führt, dass die Firmen immer größer werden, bis vom Wettbewerb nichts | |
| mehr übrig ist und wenige Großkonzerne herrschen. | |
| Keynes wiederum wird gern als „linker“ Spinner porträtiert. Erneut ein | |
| Irrtum. Keynes war nicht links, sondern konservativ. Er stammte aus der | |
| britischen Elite, verkehrte in den Salons von Adligen und Premierministern. | |
| Zudem war er professioneller Börsenspekulant. Er setzte auf Währungen, | |
| Rohstoffe und Aktien, nutzte Derivate und Kredite. Er war überaus | |
| erfolgreich und hinterließ ein Vermögen von umgerechnet 22 Millionen Euro. | |
| Aber gerade weil Keynes von der Spekulation lebte, wusste er, dass man die | |
| Spekulation unterbinden muss. Er wollte das „Finanzkasino“ wieder schließen | |
| – übrigens ein Wort, das auch von Keynes stammt. | |
| 10 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
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