| # taz.de -- Kluges Buch über Wirtschaft: Der Effekt | |
| > Der US-Ökonom Milanovic skizziert, wie Globalisierung und Gleichheit | |
| > zusammenhängen. Es geht um Ideen zu Vergangenheit und Zukunft. | |
| Bild: Der Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht steht sinnbildlich für die Glob… | |
| Wenn NeoliberaleGlobalisierungsskeptiker kritisieren, haben sie ein | |
| treffliches Argument: China. Dort ist, was niemand vor 30 Jahren für | |
| möglich hielt, eine Mittelschicht entstanden und die Armut zurückgedrängt | |
| worden. Das, höhnen Neoliberale, müsste den egalitären Ideen der Linken | |
| entsprechen. Aber die Linke könne sich die „Dritte Welt“ nur als Opfer | |
| vorstellen. Anstatt die segensreichen Wirkungen des globalen Kapitalismus | |
| zu wertschätzen, protestiere die Linke strukturkonservativ lieber gegen | |
| TTIP. | |
| Schaut man sich mit dem US-Ökonomen Branko Milanović die Daten über die | |
| globale Ungleichheit in den letzten 30 Jahren an, wird klar, die | |
| Neoliberalen liegen in Sachen China richtig. Die Globalisierung hat durch | |
| den Fall der Mauer, die Öffnung Chinas und die digitale Revolution enorm an | |
| Fahrt gewonnen. Und zu den Profiteuren dieses Prozesses zählt die | |
| städtische Mittelschicht in China, Vietnam und Thailand, deren Einkommen | |
| sich von 1988 bis 2008 mehr als verdoppelt hat. Eineinhalb Milliarden | |
| Menschen geht es wesentlich besser als noch vor 30 Jahren. „Die | |
| chinesischen Stadtbewohner haben mittlerweile kaufkraftbereinigt ein | |
| höheres Einkommen als die Einwohner Rumäniens, Lettlands oder Litauens“, so | |
| Milanović. Glaubt man dem Autor dürfte China, selbst bei gebremsten | |
| Wachstum, noch vor dem Jahr 2050 EU-Niveau erreichen. | |
| Allerdings ist der Aufstieg Chinas der einzige Effekt der Globalisierung, | |
| der für mehr Gleichheit sorgt. So beeindruckend die Existenz einer neuen | |
| Mittelschicht in einigen asiatischen Ländern ist, so verschwindend gering | |
| ist deren reales materielles Plus im globalen Vergleich. Denn von dem | |
| Einkommensgewinnen der letzten 25 Jahre hat de facto eine kleine Gruppe in | |
| den OECD-Staaten profitiert. Die reichsten 5 Prozent haben sich die Hälfte | |
| des Einkommensgewinn angeeignet, die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung hat | |
| nur 6 Prozent abbekommen. Und in den Taschen der asiatischen | |
| Mittelschichten ist nur ungefähr 3 Prozent des globalen Einkommensplus | |
| gelandet. | |
| Milanović präpariert aus den Zahlen, die er souverän darzulegen versteht, | |
| drei wesentliche Trends. Neben dem Aufstieg der asiatischen Mittelschicht | |
| ist dies die Existenz einer Klasse von politisch enorm einflussreichen | |
| Reichen: „Diese Gruppe ist winzig, aber die Zahl ihrer Mitglieder hat sich | |
| verfünffacht, und ihr Gesamtvermögen hat sich, gemessen am globalen BIP, | |
| mehr als verdoppelt.“ Damit direkt verknüpft ist der langsame Verfall der | |
| Mittelschichten im Westen. Die untere Mittelschicht hat im Westen in den | |
| letzten 25 Jahren kaum von der Steigerung des globalen Reichtums profitiert | |
| – eher im Gegenteil. | |
| Globalisierung ist keine Gleichheitsmaschine, die on the long run irgendwie | |
| allen nützt und mit unsichtbarer Hand die Lebensverhältnisse in Dallas, | |
| Addis Abeba und Schanghai angleicht. So lange die 1.400 reichsten Menschen | |
| dieser Erde, die fast alle im Westen leben, über doppelt so viel Vermögen | |
| verfügen wie ganz Afrika, kann von mehr globaler Gleichheit keine Rede | |
| sein. „Die ungleiche Welt“ ist bestechend, weil die Perspektive nicht auf | |
| den Westen verengt ist. | |
| ## Was wird die Zukunft bringen? | |
| Milanović, Experte auf dem Gebiet globaler Ungleichheiten, ist skeptisch, | |
| was Prognosen betrifft, die ja meist nur das Heute in die Zukunft | |
| verlängern. Den Aufstieg Chinas hat in den 70ern kein Thinktank und kein | |
| Nobelpreisträger in Betracht gezogen. Allerdings ist es plausibel, dass der | |
| Aufstieg Chinas ebenso wie der Abstieg der Mittelklasse im Westen noch | |
| lange nicht zu Ende sind. | |
| Nichts spricht dafür, dass die goldene Zeit des westlichen Kapitalismus von | |
| 1945 bis 1975 zurückkehren wird. Gewerkschaften und Sozialdemokratien sind | |
| auf dem Rückzug, der wachsende Dienstleitungssektor produziert überwiegend | |
| prekäre Jobs. Und die Nationalstaaten sind nicht mehr in der Lage | |
| explodierende Ungleichheiten mit Steuern und Sozialtransfers zu regulieren. | |
| „Steuererhöhungen sind nur möglich, wenn die große Mehrheit der Länder | |
| geschlossen handelt, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausgesprochen | |
| unwahrscheinlich scheint. Das Kapital ist schwer zu besteuern, weil es | |
| extrem mobil ist und weil die Länder, die von dieser Mobilität profitieren, | |
| keinen Anreiz haben, denen zu helfen, die darunter leiden“, so die Analyse. | |
| Milanović schaut auf die Zahlen wie ein Kassierer, der weiß dass Soll und | |
| Haben nichts mit Moral zu tun haben. Das globale Gleichgewicht hat sich | |
| zugunsten des Kapitals verschoben. Der US-Ökonom zieht drei | |
| Schlussfolgerungen von unterschiedlicher Güte. Erstens: Wer nicht begreift, | |
| dass der Rechtspopulismus die direkte Folge des Absturzes der unteren | |
| Mittelschicht im Westen ist, ist schlicht borniert. Helfen würde eine | |
| Machtverschiebung Richtung Arbeit, also ein renovierter New Deal. Die | |
| Aussichten für eine sozialdemokratische Revolte sind allerdings trübe. | |
| Zudem schwebt Milanovic vor, mehr Migration zu ermöglichen, weil die hilft | |
| Ungleichheiten zwischen armen und reichen Ländern zu verringern. | |
| Arbeitsmigranten sollen nach einer gewissen Zeit in ihre Heimat | |
| zurückkehren müssen und in den reichen Ländern höhere Steuern zahlen und | |
| weniger Anspruch auf Sozialleistungen haben. Das ist gedacht als Versuch, | |
| Xenophobie zu dämpfen. Doch diese Vorschläge sind untauglich. Wohin die | |
| Illusion führt, dass die Fremden nur Gastarbeiter sind, hat das deutsche | |
| Beispiel gezeigt. Und eine Art Apartheid mit Bürgern erster und zweiter | |
| Klasse würde nicht nur Rechtspopulisten erst recht beflügeln, sondern vor | |
| allem die Fundamente der Rechtsstaaten im Westen unterspülen. Allerdings | |
| ist es wenig klug, auf solche unorthodoxen Ideen mit moralischem | |
| Hyperventilieren zu reagieren. Noch in Milanovics Irrtümern spiegelt sich | |
| unsere Ratlosigkeit, wie die Wucht der globalen Ungleichheit einzudämmen | |
| ist. | |
| 9 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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