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# taz.de -- Das Scheitern der Wachstumsideologie: Höher, schneller, weiter
> Wirtschaftswachstum gab es nicht immer. Wie konnte es also zur
> mächtigsten Rechtfertigungsideologie des Kapitalismus werden?
Bild: Will auch hoch hinaus
Wenn sich in gut einer Woche die Regierungschefs der ökonomisch mächtigsten
Staaten der Welt zum G-20-Gipfel im chinesischen Hangzhou treffen, heißt es
wieder: Wachstum über alles! Bereits auf dem Vorbereitungstreffen Anfang
August beschwerten sich Finanzminister und Zentralbankchefs, seit der
Weltwirtschaftskrise vor sieben Jahren sei geringes globales Wachstum zur
„neuen Normalität“ geworden. Wie auch in den letzten Jahren hoffen
Regierungen und Unternehmen weltweit, dass der Gipfel die Bedingungen für
wirtschaftliche Expansion und damit für mehr Wohlstand, Gerechtigkeit und
Nachhaltigkeit schafft.
Doch diese Versprechen verlieren zunehmend an Glaubwürdigkeit. Die
Fokussierung auf ein kontinuierliches Ansteigen des Bruttoinlandsprodukts,
die im Zentrum der Religion des „Höher, schneller, weiter“ der expansiven
Moderne steht, gerät in die Kritik. Denn unabhängige Analysen zeigen: Von
Wachstum profitieren vor allem die Reichsten, Ungleichheit nimmt zu, die
ökologische Tragfähigkeit des Planeten ist längst überschritten, und die
Wachstumsraten sinken kontinuierlich; manche reden gar von langfristiger
Stagnation.
Die Wachstumsidee erlebt eine ideologische Krise. Nichtsdestotrotz sind die
G 20 mit ihrer Forderung nicht allein: Die politische und gesellschaftliche
Fokussierung auf Wirtschaftswachstum als Allheilmittel und als universeller
Maßstab für Fortschritt, Modernität und Entwicklung ist ungebrochen. Wie
kann es sein, dass trotz prominenter Kritik und zunehmender
gesellschaftlicher Skepsis Regierungen und internationale Organisationen
weiter auf Wachstum setzen? Um dies zu verstehen, lohnt der Blick in die
Geschichte.
## Fortschritt mit kontinuierlicher Expansion gleichgesetzt
Wirtschaftswachstum erscheint so selbstverständlich, dass leicht vergessen
wird, dass nicht nur die Realität ökonomischer Expansion, sondern auch
Wachstumsdiskurse erstaunlich neue Phänomene sind. Relevante Wachstumsraten
gab es erst seit der kapitalistischen und auf fossilen Brennstoffen
basierenden Industrialisierung im 18. Jahrhundert.
Die Konzentration auf Wachstum im modernen Sinne setzte sich erst in der
Mitte des 20. Jahrhunderts durch. Die internationale Standardisierung der
Statistiken, die das Bruttoinlandsprodukt definieren, ermöglichte seit den
1940er Jahren eine über Zeit und Raum vergleichbare und einheitliche
Konzeption „der Wirtschaft“. Dadurch wurde überhaupt erst messbar, was
wachsen sollte: die Summe der Markttransaktionen im Rahmen
nationalstaatlicher Grenzen.
Danach erst setzte sich die Idee durch, dass langfristiges, stabiles und
unbegrenztes Wachstum überhaupt möglich sei. Wirtschaftlicher Fortschritt–
oder gesellschaftlicher Fortschritt generell – wurde mit kontinuierlicher
Expansion von Markttransaktionen gleichgesetzt.
Noch in den politischen Diskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit war
die Idee des Wirtschaftswachstums auffällig abwesend, zentrale Interessen
waren Vollbeschäftigung, Stabilität und Wiederaufbau. Doch in den folgenden
Jahren wurde Wachstum im Kontext von Dekolonialisierung und Kaltem Krieg an
die Spitze der Politikziele katapultiert. Und es dauerte nicht lange, bis
spätestens ab Mitte der 1950er Jahre ökonomische Expansion nicht nur in den
kapitalistischen Industrieländern zum global akzeptierten Maßstab des
Fortschritts wurde.
Nationalstaaten und politische Systeme traten nicht in Bezug auf
Gleichheit, Emanzipation oder Arbeitsplätze in einen Wettbewerb, sondern in
Bezug auf die Quantität von Gütern und Dienstleistungen, die ein Land
produzieren konnte. Symptomatisch für die politische Fokussierung auf
Wachstum in dieser Zeit war das Proklamieren offizieller Wachstumsziele.
## Vorstellung, dass alle vom Kuchen profitieren können
Die bekanntesten wurden in der Sowjetunion verabschiedet. Nikita
Chruschtschow erklärte beispielsweise 1958: „Wachstum der industriellen und
landwirtschaftlichen Produktion ist der Rammbock, mit dem wir das
kapitalistische System zerschlagen werden.“ Aber nicht nur
planwirtschaftliche Länder proklamierten ihre politischen Ziele als
numerische Wachstumsziele. Auf dem ersten Ministerratstreffen der OECD im
November 1961 verabschiedete die Wirtschaftsorganisation das berühmteste
westliche Wachstumsziel: Das Bruttosozialprodukt der OECD-Länder sollte
innerhalb von 10 Jahren um 50 Prozent wachsen.
Dies symbolisierte die vorherrschende Vision von menschlichem Fortschritt
der Zeit. Die OECD wurde von einem hochrangigen Direktor recht treffend als
„Wachstumstempel der Industrieländer“ beschrieben, in dem „Wachstum um
des Wachstums willen das höchste und unhinterfragbare Ziel“ war. Komplexe
gesellschaftliche Probleme – von der Bildungs- über die Geschlechter- bis
zur Entwicklungspolitik – wurden dadurch auf ökonomische Gesichtspunkte
reduziert, weitere Dimensionen missachtet.
Dem Wachstumsparadigma kam so in den Nachkriegsjahrzehnten eine
Schlüsselrolle zu: Die Verteilungsfrage wurde durch Wachstumspolitik
verdrängt, und soziale Konflikte wurden als technische Probleme behandelt,
die – so die Annahme – von Wirtschaftsexperten gelöst werden können. Die
Wachstumsideologie schuf die Vorstellung, dass alle von dem wachsenden
Kuchen profitieren können, und machte Wachstum so zum Allgemeininteresse.
Dass dies mehr Ideologie als Realität ist, wird kritisiert, seit es das
Wachstumsparadigma gibt. Besonders in den späten 60er und 70er Jahren gab
es eine ausgesprochen breite gesellschaftliche Diskussion über die sozialen
und ökologischen Kosten der Wachstumsfixierung. Nachdem diese Kritik durch
die Vorstellung „nachhaltigen Wachstums“ und eine Welle neoliberaler
Marktradikalität an den Rand gedrängt wurde, erlebt sie seit der
Weltwirtschaftskrise 2008 eine neue Konjunktur.
Unter dem Stichwort „Degrowth“, das sich mehr schlecht als recht mit
„Wachstumsrücknahme“ oder „Postwachstum“ übersetzen lässt, wurde sie
aktualisiert und zugespitzt. Die Bewegung hat sich zum Ziel gesetzt, das
Wachstumsparadigma und das dadurch legitimierte Wirtschafts- und
Konsummodell – das „growthocene“ – zu überwinden. Stattdessen sucht man
Alternativen.
## Es reicht nicht, auf Wachstum zu setzen
Wachstum ist in modernen Gesellschaften zur vielleicht mächtigsten
Rechtfertigungsideologie des Kapitalismus geworden. Wie bei anderen
Ideologien auch geht es im Kern um die imaginäre Lösung realer
gesellschaftlicher Konflikte. Nicht nur Ungleichheiten – wie sie jüngst von
Thomas Piketty und anderen veranschaulicht wurden – und die
Auseinanderentwicklung von reichen und armen Ländern werden als
vorübergehende Phänomene gerechtfertigt, die durch mehr Wachstum in der
Zukunft überwunden werden sollen.
Auch andere soziale Spaltungen wie die auf der Basis von Rassismus und
Sexismus werden damit als wirtschaftlich behebbar dargestellt. Die
Eingliederung in den Arbeitsmarkt, künftige Lohnsteigerungen und
unternehmerischer Erfolg für alle werden es schon irgendwann richten, so
die dadurch gestützte Vorstellung.
Doch angesichts von Klimawandel, Begrenztheit der Ressourcen und
anhaltenden Stagnationstendenzen erweist sich dieser Glaube als utopisch.
Infolge von Finanzialisierung und zunehmender Ungleichheit profitieren in
den Industrieländern von mehr Wachstum schon seit Jahrzehnten vor allem
Unternehmen und die Reichen.
Denn Wachstum misst nicht Wohlfahrt, sondern die Zunahme von
Markttransaktionen – und diese sind die Basis für unternehmerische
Gewinne. Die Interessen weniger werden somit als Allgemeininteresse
dargestellt. Um die realen gesellschaftlichen Konflikte zu lösen, reicht es
also nicht, auf mehr Wachstum zu setzen. Es müssen andere Wege erforscht,
ausprobiert und gegangen werden.
Es ist wohl Zufall, dass fast zeitgleich mit dem G-20-Gipfel die 5.
Internationale Degrowth-Konferenz in Budapest stattfindet, wo genau dies
geschieht. Während die einen versuchen, das angeschlagene Wachstumsmodell
trotz vielfältiger Krisenphänomene am Leben zu erhalten, entwickeln die
anderen bereits konkrete Utopien für ein gutes Leben aller, das nicht von
Wachstum abhängt ist. Die Ideen reichen vom Ausprobieren alternativer
Lebensweisen in Gemeinschaftsgärten und Reparaturwerkstätten über
verschiedenste Protestformen bis zur wissenschaftlichen Analyse nicht
wachstumsbasierter Wirtschaftsformen.
Auch wenn man sich hier noch am Anfang befindet: Wirtschaftswachstum gab es
nicht immer, und über kurz oder lang wird es an sein Ende kommen. Es ist
höchste Zeit, sich über die Zeit danach Gedanken zu machen.
2 Sep 2016
## AUTOREN
Matthias Schmelzer
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