# taz.de -- Anthony Atkinsons Buch „Ungleichheit“: Den Thatcherism reparier… | |
> 10.000 Euro vom Staat, zumindest für Kinder ohne reiche Eltern. Das | |
> fordert Ungleichheitsforscher Anthony Atkinson in seinem neuen Buch. | |
Bild: Sieht aus wie ein Sir, ist auch einer: Sir Anthony B.T. Atkinson | |
Als die Thatcher-Regierung 1988 den Spitzensteuersatz auf 40 Prozent | |
senkte, war ein Tory-Abgeordneter kaum mehr zu halten. Sein Taschenrechner | |
habe gar nicht genug Nullen, um zu erfassen, wie viel ihm diese | |
Steuersenkung bringen wird, erklärte er euphorisch. | |
Ob diese Anekdote bloß wahr oder gut erfunden ist, ist nicht so wichtig – | |
sie bringt auf den Punkt, was seit gut dreißig Jahren in den OECD-Staaten | |
geschieht. Die Reichen wurden durchweg reicher, während in den USA und | |
Großbritannien, den zentralen Schauplätzen neoliberaler Umwälzungen, die | |
Reallöhne stagnieren oder sinken. Das Ergebnis: Die Ungleichheit nimmt zu. | |
Dies ist, so eine der Schlüsselthesen des britischen Ökonomen Anthony | |
Atkinson, in erster Linie kein Effekt der Globalisierung oder | |
Digitalisierung, die diese wachsende Ungleichheit wie eine Naturgewalt | |
produziert. Dass der Graben zwischen Reich und Arm in den OECD-Staaten von | |
Schweden bis zu den USA gewachsen ist, ist vielmehr ein Produkt politischer | |
Entscheidungen. Und kann – good news – daher auch politisch korrigiert | |
werden. | |
Atkinson ist so etwas wie die Koryphäe der internationalen | |
Ungleichheitsforschung. Er lehrte an der London School of Economics und in | |
Oxford, beriet Regierungen und hat seit den sechziger Jahren rund fünfzig | |
Bücher zum Thema veröffentlicht. Hierzulande ist er so gut wie unbekannt – | |
keine seiner Publikationen wurde übersetzt. | |
## Der Ton ist fern von linkspopulistischem Eifer | |
Dass der Verlag Klett-Cotta „Ungleichheit. Was wir dagegen tun können“ nun | |
auf Deutsch publiziert, hat wohl drei Gründe. Die soziale Kluft ist seit | |
der Finanzkrise 2008 mit Wucht ins Bewusstsein gerückt. Der Neoliberalismus | |
ist nicht tot, aber er hat jene herrische, fraglose Dominanz verloren, in | |
der jede Alternative als altlinke Traumtänzerei denunzierbar war. Zudem ist | |
„Ungleichheit. Was wir dagegen tun können“ ein Werk, in dem Atkinson über | |
die Analyse komplexer empirischer Datensätze hinaus einen Katalog von Ideen | |
entwickelt, wie die auseinanderstrebende Einkommensverteilung zurückgedreht | |
werden kann. Und: Das Thema Ungleichheit ist seit Thomas Pikettys „Kapital | |
im 21. Jahrhundert“ in den Feuilleton-Debatten angekommen. Piketty, der bei | |
Atkinson studierte, lobt dessen Buch in der New York Review of Books | |
umgehend als Grundlage „für einen neuen radikalen Reformismus“. | |
Ist es das? Zum Teil – ja. Das Buch oszilliert zwischen Sachbuch und | |
wissenschaftlicher Datenanalyse. Mit professoraler Ausführlichkeit werden | |
Datensätze ausgebreitet und die „Substitutionselastizität zwischen Kapital | |
und Arbeit“ dargelegt. Das ist, vor allem im ersten Viertel, harte Kost. | |
Der Ton ist damit allerdings auch fern von linkspopulistischem Eifer. Hier | |
schreibt kein Propagandist, sondern eher ein erfahrener Buchhalter, der die | |
Zahlen kennt und kühl vorrechnet, was für das Publikum besser wäre. | |
Das Programm für Großbritannien umfasst 15 Vorschläge, die den | |
Thatcherismus rückgängig machen sollen. Das reicht vom Spitzensteuersatz | |
von 65 Prozent über eine Art bedingungsloses Grundeinkommen und staatlich | |
garantierte Arbeitsplätze auf Mindestlohnniveau bis zu einem staatlichen | |
Garantiezins von einem Prozent, um Ärmeren solide, bescheidene | |
Vermögensbildung zu ermöglichen. Die Vorschläge dürften für grüne Realos | |
oder den CDU-Wirtschaftsrat nach Retro-Sozialismus klingen. So ist es | |
nicht. Das Ziel ist nicht die antikapitalistische Brandrede, sondern eine | |
intakte soziale Marktwirtschaft ohne explodierende soziale Ungleichheit. | |
## Auch für Deutschland lässt sich einiges lernen | |
Diese Analyse ist gleichermaßen brillant und beschränkt. Brillant, weil sie | |
tut, was die linken Populisten meist nur versprechen. Atkinson rechnet mit | |
der Disziplin eines Haushaltspolitikers vor, dass und wie Umverteilung | |
gehen kann. Der Nachteil ist, dass diese Ideen eben nur auf Großbritannien | |
begrenzt sind. Und falls eine entschlossene Labour-Regierung diese Ideen | |
mutig realisieren würde, wäre Großbritannien in Sachen Ungleichheit in etwa | |
auf dem Niveau der heutigen Bundesrepublik angelangt. | |
Allerdings lässt sich auch für Deutschland einiges lernen. So widerlegt | |
Atkinson einleuchtend ein Standardargument gegen kräftige Besteuerung der | |
Reichen. Er führt ein überzeugendes Beispiel an, dass Steuern den Markt | |
selbst beeinflussen – und nicht nur nachträglich korrigieren. So war die | |
Explosion der Managergehälter in der Finanzindustrie erst möglich, nachdem | |
Thatcher den Spitzensteuersatz von 80 auf 40 Prozent gedrosselt hatte. Erst | |
dies führte dazu, dass Finanzindustrie-Manager Boni in, zusammengenommen, | |
Milliardenhöhe kassierten, sogar noch nach dem Crash 2008. | |
„Diese Überlegungen“, so Atkinson nüchtern, „veranlassen mich, für | |
Großbritannien einen persönlichen Spitzeneinkommensteuersatz von 65 Prozent | |
vorzuschlagen. Das würde eine beträchtliche Erhöhung gegenüber dem | |
derzeitigen Spitzensteuersatz von 45 Prozent bedeuten, wäre aber nach | |
historischen Maßstäben nicht allzu hoch. In Großbritannien galt während | |
fast der Hälfte der letzten hundert Jahre ein Spitzensteuersatz von 65 | |
Prozent oder mehr, und während mehr als der Hälfte dieser Jahre hatten wir | |
konservative Premierminister.“ Bestechend ist zudem die Idee, allen | |
volljährigen Bürgern ohne vermögende Eltern ein staatliches Erbe von gut | |
10.000 Euro zu garantieren. Dieses Erbe für alle entspringt dem Ideal der | |
Leistungsgesellschaft, dem zufolge alle auf dem Weg nach oben gleiche | |
Chancen haben sollen. Dem spricht Hohn, dass das Gros nichts erbt, wenige | |
viel. | |
## Zu viel Old-Labour-typisches Vertrauen in den Staat? | |
Was also spricht dagegen, dass, wer 2 Millionen Euro erbt, davon ein | |
Viertel abgeben muss, damit 50 GenerationsgenossInnen mit 10.000 Euro | |
Startkapital ausgestattet werden können? Verteilungspolitisch ist dies der | |
nötige Versuch, die Akkumulation von Vermögen in der Oberschicht über die | |
Generationen wenigstens abzubremsen. | |
Weniger einleuchtend wirkt die Idee, den Staat direkt als Wirtschaftsakteur | |
zu etablieren. Atkinson bemängelt zu Recht, dass Smartphones und Laptops | |
auf staatlich finanzierter Forschung fußen, die Apple und andere Konzerne | |
zu Milliardengewinnen versilbern, ohne dass dabei Arbeitsplatzvernichtung | |
durch Innovationen einkalkuliert werden. Weil technischer Fortschritt das | |
Kapital im Verhältnis zur Arbeit stärkt, müsse der Staat als Korrektiv | |
eingreifen – so die These. Allerdings bleibt unklar, wie. Soll der Staat | |
wirklich selbst fahrende Autos verbieten, um Taxifahrer zu schützen? Das | |
erinnert an sozialdemokratische Investitionslenkung und Globalsteuerung der | |
sechziger und siebziger Jahre. Wer die reanimieren will, sollte zumindest | |
erklären, warum diese Träume damals bankrott gingen. Gelegentlich schimmert | |
in diesem Text ein wohl Old-Labour-typisches Vertrauen in den Staat durch, | |
das zu viel des Guten ist. | |
Anyway, „Ungleichheit“ ist, jedenfalls in den letzten drei Vierteln, ein | |
kluges, gescheit argumentierendes, herausforderndes Buch. Zu kritisieren | |
ist allenfalls, dass Atkinson mit dem trockenen Humor, über den er | |
zweifellos verfügt, so verfährt wie Wolfgang Schäuble mit dem Überschuss im | |
bundesdeutschen Haushalt: zu sparsam. | |
5 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
## TAGS | |
Margaret Thatcher | |
soziale Ungleichheit | |
Neoliberalismus | |
Kinder | |
OECD | |
Bedingungsloses Grundeinkommen | |
Kapitalismuskritik | |
Apple | |
Dumme weiße Männer | |
Schwerpunkt Brexit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Uneheliche Kinder in Deutschland: Gericht rügt Ungleichbehandlung | |
Keiner weiß genau, wie viele unehelich geborene Kinder in Deutschland vom | |
Erbe ihrer Väter ausgeschlossen sind. Das ist Diskriminierung, urteilt das | |
Straßburger Gericht. | |
OECD-Bildungsvergleich: Luft nach oben | |
Im Bildungsvergleich der OECD steht Deutschland mit seinem beruflichen | |
Bildungssystem gut da. Es bleiben aber Gerechtigkeitslücken. | |
Experiment in Finnland: Ein Häppchen Grundeinkommen | |
2.000 Arbeitslose sollen für zwei Jahre 560 Euro im Monat bekommen. Das | |
Mini-Grundeinkommen sei eine Mogelpackung, kritisieren Linke. | |
Das Scheitern der Wachstumsideologie: Höher, schneller, weiter | |
Wirtschaftswachstum gab es nicht immer. Wie konnte es also zur mächtigsten | |
Rechtfertigungsideologie des Kapitalismus werden? | |
Streit um Apple-Steuern: Irland klagt gegen EU | |
Die irische Regierung will die Entscheidung der EU-Kommission anfechten, | |
die Steuerabsprachen mit Apple zu kippen. | |
Kolumne Dumme weiße Männer: Die späte Einsicht des Währungsfonds | |
Nach Jahrzehnten stellen die weißen Männer des IWF den Neoliberalismus in | |
Frage. Ein schwacher Trost für die Millionen, die er in die Armut trieb. | |
Laurie Penny über den Brexit: „Ja, es ist Panik“ | |
Die Stimmung in Großbritannien hat sich verfinstert, sagt die Feministin. | |
Sie warnt davor, dass die Linke sich zerfleischt. Und bittet: Lasst uns | |
nicht allein. |