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# taz.de -- Einseitige Hochschulbildung: Neoliberale dominieren die Lehrstühle
> Wer VWL studiert, lernt die Wirtschaft fast nur über Formeln kennen. Doch
> es gibt Kritik an und Alternativen zur neoklassischen Lehre. Ein
> Überblick.
Bild: Es gibt keine Alternative zum höher-schneller-weiter? Zumindest nicht an…
## Die Lehre
Rund 430.000 Studierende sind in Deutschland im Fach Wirtschaft
eingeschrieben. Sie alle belegen auch Kurse in der Volkswirtschaftslehre
(VWL) und werden dort mit einer Theorie konfrontiert, die völlig
realitätsfern ist und bis heute so tut, als ob es die Finanzkrise nie
gegeben hätte. Denn die sogenannten neoklassischen Modelle gehen davon aus,
dass die Märkte zum Gleichgewicht tendieren. [1][Krisen] sind nicht
vorgesehen, sondern werden per Definition weitgehend ausgeschlossen.
Kritische Studierende monieren schon seit Jahren, dass ihnen ein Zerrbild
der Wirklichkeit vermittelt wird, und haben das Netzwerk Plurale Ökonomik“
gegründet, um die einseitige Lehre zu reformieren. Viele Professoren
stimmen ihnen sogar zu. Aber geändert hat sich in den Vorlesungen trotzdem
nichts, wie jetzt eine Studie zeigt, die von der Hans-Böckler-Stiftung
finanziert wurde.
Der Ökonom Frank Beckenbach aus Kassel hat seine Kollegen befragt, wie sie
die Lehre einschätzen. 588 Volkswirte an 54 Universitäten antworteten ihm.
Heraus kam: 77,2 Prozent teilen die Meinung, dass es einen neoklassischen
Mainstream gibt, der einen rationalen Homo oeconomicus voraussetzt.
Phänomene wie Herdenverhalten oder überbordende Spekulation kommen in der
Lehre nicht vor.
Mit dieser Einseitigkeit sind auch die Lehrkräfte unzufrieden: 92,8 Prozent
der Befragten fanden es wichtig, die Studierenden auch mit anderen
ökonomischen Ansätzen vertraut zu machen. 84 Prozent wären daher bereit,
ihre Lehre entsprechend zu verändern. Doch von diesen guten Vorsätzen
bleibt in der Praxis nicht viel übrig: 69,7 Prozent gaben an, in den
Grundlagenfächern des Bachelor-Studiums vor allem den neoklassischen
Mainstream zu vermitteln.
Die Lehre ist auch deswegen so einseitig, weil die Ökonomen mit Lehrbüchern
arbeiten, was in anderen Sozialwissenschaften meist nicht üblich ist. In
knapp 90 Prozent dieser Handbücher kommt ebenfalls nur die Neoklassik vor,
wie Beckenbach ausgewertet hat.
Wie eng die neoklassische Lehre ist, zeigt auch eine Studie [2][vom
Netzwerk Plurale Ökonomik]. Es wurden die 57 deutschen
Bachelor-Studiengänge untersucht, die zu einem VWL-Abschluss führen. Das
Ergebnis war frappierend: Die Studierenden lernen vor allem mathematische
Formeln. Empirie kommt nicht vor. Selbst das Thema Geld, zentral im
Kapitalismus, füllt nur 4 Prozent des Lehrplans.
Der neoklassische Mainstream ist nicht nur thematisch eng und theoretisch
fragwürdig – er ist auch politisch nicht neutral. Den Studierenden wird
suggeriert, dass der „freie Markt“ stets die beste Lösung darstellt und der
Staat tendenziell stört. Das meistverkaufte Lehrbuch stammt vom
Harvard-Professor Greg Mankiw, der Wirtschaftsberater von US-Präsident
George Bush war. Gleich zu Beginn warnt Mankiw davor, die Reichen
progressiv zu besteuern: „Je gerechter der Kuchen verteilt wird, umso
kleiner wird er.“ Empirisch belegt ist die Behauptung nicht.
## Die Kritik
Nicht nur deutsche VWL-Studenten quälen sich durch abstrakte Lehrbücher.
Weltweit werden überall die gleichen Texte verwendet. Ob in Australien oder
Chile, in den USA oder Frankreich: Die Abfolge der Kapitel und die Formeln
ähneln sich.
Das erste VWL-Lehrbuch erschien 1948 und wurde vom MIT-Professor und
späteren Nobelpreisträger Paul Samuelson verfasst. Es setzt bis heute den
Standard: Das Werk wurde millionenfach verkauft, erlebte 19 Auflagen und
wurde in 41 Sprachen übersetzt.
Lehrbücher sind ein politisches Machtinstrument. Von Samuelson stammt der
viel zitierte Ausspruch: „Es ist mir egal, wer die Gesetze einer Nation
schreibt – solange ich ihre Volkswirtschaftslehrbücher schreiben kann.“
Inzwischen gibt es eine Vielzahl weiterer Lehrbücher, die meist ebenfalls
von US-Ökonomen stammen und ins Deutsche übersetzt wurden. Aber wie gut
sind diese Texte? Das konnten Studierende bisher nicht beurteilen, sondern
mussten ihren Dozenten trauen. Doch seit Neuestem gibt es Hilfe: Einige
kritische Ökonomen rund um den Essener Professor Till van Treeck haben sich
die Arbeit gemacht, die wichtigsten Lehrbücher zu analysieren.
Der Befund: Die Lehrbücher sind extrem einseitig und weltfremd. Sie alle
präsentieren den „neoklassischen“ Mainstream. Debatten werden verschwiegen
und fragwürdige mathematische Modelle als allgemeine Wahrheiten verkauft.
Die reale Welt kommt nur gelegentlich vor, stattdessen wird suggeriert, die
Ökonomie sei eine Naturwissenschaft wie die Physik.
Überraschend: Der neoklassische Mainstream durchzieht sogar die Lehrbücher
von Ökonomen, die als „links“ oder als Keynesianer gelten. Dieses Phänomen
lässt sich auch beim Nobelpreisträger Paul Krugman beobachten, der ein viel
genutztes Lehrbuch über internationale Ökonomie verfasst hat.
Zum Thema Freihandel ist dort zu lesen, dass es eine „unbezweifelbare
Wahrheit“ sei, dass die Theorie von David Ricardo zutreffe. Sie stammt aus
dem Jahre 1817 und behauptet, dass der Freihandel immer eine
Win-win-Situation sei. Auf dieser Basis will Krugman dann „verbreitete
Denkfehler im Feld des internationalen Handels widerlegen“.
Was Krugman zu erwähnen vergisst: Ricardos Win-win-Analyse gilt nur, wenn
in allen beteiligten Ländern Vollbeschäftigung herrscht. Zudem ging Ricardo
davon aus, dass die Industrie nicht abwandern kann. Ihm wäre niemals in den
Sinn gekommen, dass eine deutsche Autofabrik ein Werk in China aufmacht,
weil dort die Löhne niedriger sind. Ricardos enge Sicht ist verständlich,
denn im frühen 19. Jahrhundert war der „Standortwettbewerb“ unbekannt. Aber
es bleibt erstaunlich, dass Krugman unterschlägt, wie Globalisierung heute
funktioniert. Die Lehrbuch-Rezensionen sind also ein Muss für alle
VWL-Studierenden.
## Die Alternative
Jedes Semester stehen VWL-Studierende wieder vor dem gleichen Problem: Sie
würden gern auch andere Theorien kennenlernen, nicht nur den neoklassischen
Mainstream. Aber wo? „Ich rate oft, nach Wien zu gehen“, sagt Christoph
Gran, der in Oldenburg promoviert hat und 2003 zu den Gründungsmitgliedern
des Netzwerks Plurale Ökonomik gehörte. Auch ein Auslandsstudium in England
empfiehlt er. „Dort erleben die deutschen Studierenden dann zum ersten Mal,
dass Ökonomie auch Spaß machen kann.“
In Deutschland hingegen ist es eher schwierig, auf alternative Angebote zu
stoßen. Etwa 76 Prozent aller Dozenten sind der neoklassischen Theorie
zuzurechnen, wie eine neue Studie des Forschungsinstituts für
gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) zeigt. 17 Prozent der Ökonomen
sehen Teile des Mainstreams zwar kritisch, sind ihm aber letztlich doch
verhaftet. Nur ganze 3 bis 4 Prozent des Lehrpersonals vertreten radikal
andere Ansätze. Dazu gehören die „Post-Keynesianer“, die die Geld- und
Finanzmärkte ins Zentrum ihrer Analyse rücken.
Bisher mussten Studierenden also einzelne Lehrkräfte an einzelnen
Universitäten aufsuchen, wenn sie andere Theorien als den Mainstream
kennenlernen wollten. Doch neuerdings gibt es eine bequeme Alternative:
Zwei Universitäten bieten jetzt Studiengänge an, die breit in die
verschiedenen Theorien einführen und moderne Forschungsthemen aufgreifen.
Im Mai 2015 nahm die Cusanus-Hochschule in Bernkastel-Kues an der Mosel
ihren Betrieb auf. Dort kann man Ökonomie und auch Philosophie als Bachelor
und Master studieren. Gran überzeugt das Konzept: „Der Fokus liegt auf
Reflexion, auf Ideengeschichte und auf Methoden. Das müsste eigentlich das
Handwerk von allen VWL-Studenten sein.“
Zu den Cusanus-Lehrkräften gehört Walter Ötsch, der bis zu seiner
Pensionierung an der Universität Linz tätig war. Er ist von seinen neuen
Zuhörern beeindruckt: „Die Studierenden sind sehr engagiert und fordern
ihre Professoren.“ Gleichzeitig genießt Ötsch, endlich mit Gleichgesinnten
zusammenzuarbeiten: „Es ist wichtig, eine eigene Organisation zu gründen,
statt die Energie damit zu verschwenden, gegen die Institution anzukämpfen,
in der man angestellt ist. Das ist das Los der meisten kritischen
Ökonomen.“
Die Cusanus-Hochschule wird von einer gemeinnützigen Stiftung getragen und
verlangt Studiengebühren von 300 Euro im Monat. Allerdings gibt es auch
Stipendien.
Als erste staatliche Universität bietet jetzt Siegen einen Master „Plurale
Ökonomik“ an. Organisiert wird dieses Lehrangebot von den Professoren Nils
Goldschmidt und Helge Peukert, die auf den ersten Blick überhaupt nicht
zusammenpassen. Goldschmidt ist Ordoliberaler, setzt also auf eine
Marktwirtschaft. Peukert hingegen interessiert sich eher für Alternativen
zum heutigen Geldsystem. Gran ist dennoch überzeugt: „Die beiden ergänzen
sich sehr gut. Vor allem sind sie fähig, andere Theorien zu akzeptieren.““
5 Dec 2016
## LINKS
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## AUTOREN
Ulrike Herrmann
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