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# taz.de -- Plurale Ökonomik vs. Mainstream-VWL: Mit Vielfalt gegen das Chaos
> Gibt es im Wirtschaftsstudium zu wenig Vorlesungen, die sich mit realen
> Problemen befassen? Studierende organisieren eine Sommerakademie.
Bild: Wachstum, Produktivität, Effizienz – darauf setzen die meisten Ökonom…
Neudietendorf taz | Viele Wirtschaftsstudenten sind enttäuscht: Ihre
Professoren würden keine Vorlesungen anbieten, die sich mit den realen
Problemen befassten. Kritische Studierende haben deshalb zur Selbsthilfe
gegriffen – und erstmals eine „Sommerakademie für plurale Ökonomie“
organisiert, die jetzt in Neudietendorf in Thüringen stattfand.
In der Ausschreibung hieß es programmatisch: „Klimawandel, Eurokrise,
Rechtspopulismus, Jugendarbeitslosigkeit, Vermögenskonzentration,
Steuerflucht – unsere Welt versinkt im Chaos.“ Doch viele Ökonomen setzten
unbeirrt auf die bekannten Themen – nämlich „Wachstum, Produktivität,
Effizienz“ – und ignorierten die eigentlichen Fragen: „endliche Ressource…
Ungleichheit, Machtstrukturen oder Visionen eines guten Lebens“.
Während an den Universitäten vor allem der neoklassische Mainstream
dominiert, setzen die Studierenden bewusst auf methodische und inhaltliche
Vielfalt: „Die Welt ist zu facettenreich, um nur ein Konzept, eine Sicht,
einen Ansatz zuzulassen.“
90 Studierende konnten teilnehmen, aber am Ende gab es 140 Anmeldungen.
„Wir waren in der unangenehmen Position, auswählen zu müssen“, sagt Gustav
Theile, der in Tübingen Betriebswirtschaft, Koreanistik, Politik und
Literatur studiert. „Also zählte das Motivationsschreiben“ – jedenfalls
mehr als der Lebenslauf.
Die Teilnehmenden haben ganz unterschiedliche Hintergründe. Mehr als die
Hälfte kommt aus Deutschland, die anderen stammen unter anderem aus
Serbien, Tschechien, England, der Schweiz, Österreich, Frankreich, Polen,
Schweden oder Ghana. Ein Pakistani konnte nicht kommen, weil er kein Visum
erhielt.
## Blinde Flecken in der heutigen Ökonomie
Die neun Workshops finden teils auf Englisch, teils auf Deutsch statt.
Einige sind sehr mathematisch wie der zur „Komplexitätsökonomie“, andere
ganz betriebsnah: Die Arbeitsgruppe „Pluralismus in der Praxis“ analysiert
unter anderem, woran die Einführung des Elektroautos in Deutschland bisher
gescheitert ist.
Star der Sommerakademie ist der australische Volkswirt Steve Keen, der
weltweit einer der ganz wenigen Ökonomen war, der die Finanzkrise ab 2007
vorhergesehen hat – weil er sich anders als seine Mainstreamkollegen schon
immer mit den Themen Geld, Kredit und Spekulation befasst hat. In
Neudietendorf erklärt Keen den Studierenden, dass auch das Thema Energie zu
den vielen blinden Flecken in der heutigen Ökonomie gehört. Denn der
Mainstream kennt nur Formeln, in denen die Produktion auf Arbeit und auf
Kapital beruht.
In der Theoriegeschichte müsse man, so Keen, bis zu den französischen
Physiokraten im 18. Jahrhundert zurückgehen, um auf eine Denkschule zu
stoßen, die klar benennt, dass Wachstum den Einsatz von „Natur“ benötigt,
also von Rohstoffen und Energie. Die Folge: Da die heutigen Volkswirte die
zentrale Rolle der Energie ignorierten, könnten sie auch zum Klimawandel
nichts Substantielles sagen.
„Hier findet das Studium statt, das ich mir gewünscht hätte“, sagt Simon
Walch. Über seine Zeit in Tübingen sagt er: „Dort wurde immer klar
vorgegeben, was diskutiert wird – und was nicht“.
## Es wird wieder diskutiert
Die meisten Teilnehmer der Sommerakademie gehören dem Netzwerk Plurale
Ökonomik an, zu dem sich kritische Studierende europaweit
zusammengeschlossen haben, um die einseitige Lehre an den Universitäten zu
reformieren. Ihre Forderungen werden inzwischen auch von den Professoren
ernst genommen.
So schrieb der Münsteraner Finanzwissenschaftler Johannes Becker kürzlich
im Blog Makronom: „Dass kritisiert wird, dass der Studienplan in vielen
Fällen kaum Veranstaltungen zur Finanzkrise […] zu bieten hat – absolut
plausibel. Dass angeregt wird, Wissenschaftstheorie zu betreiben und sich
mit Dogmengeschichte zu befassen […] – gut nachvollziehbar.“
Dann allerdings holte Becker zum polemischen Gegenschlag aus und warf den
„Pluralos“ vor, „negative campaigning“ zu betreiben, das „ein wenig d…
Umgang Donald Trumps mit der amerikanischen Presse“ ähnele. „Alle
Anschuldigungen an die moderne akademische Ökonomik mögen sich als unwahr
herausstellen, aber irgendwas wird an ihr hängen bleiben.“
In Neudietendorf haben einige Teilnehmer eine Replik erarbeitet, die
demnächst veröffentlicht wird. Ein erstes Ziel haben die kritischen
Studierenden aber schon jetzt erreicht: In der Volkswirtschaftslehre wird
wieder diskutiert.
14 Aug 2017
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
## TAGS
Wirtschaftswissenschaften
Wirtschaftswachstum
Wirtschaftskrise
Ökonomie
Universität
Schwerpunkt Finanzkrise
Mindestlohn
Studium
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