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# taz.de -- Plurale Wirtschaftsforschung an der Uni: Die sozialeren Ökonom*inn…
> Der Studiengang „Plurale Ökonomik“ ist eine kleine Revolution der
> Wirtschaftslehre. Bei den Studierenden gibt es noch ein paar
> Kritikpunkte.
Bild: Karl Marx würde sich sicher über den Studiengang „plurale Ökonomik�…
Siegen taz | Vegane Gemüseeintöpfe, selbstgebackene Kuchen und faire
Getränke stehen auf dem Speiseplan des kleinen Cafés neben dem
wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Uni Siegen. Auf dem Holztresen
liegen zahlreiche Flyer, die zu politischen Veranstaltungen einladen oder
zu Protesten aufrufen.
Hier, abseits der Mainstream-Gastronomien, treffen sich die alternativen
Wirtschaftsprofessor*innen ab und an zum Mittag. Alternativ deshalb, weil
sie zu den drei bis vier Prozent der Wirtschaftswissenschaftler*innen
gehören, die plurale Wirtschaftsforschung betreiben – wie eine Studie des
Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung vom Februar
2017 herausfand. Für andere Sozialwissenschaften ist eine Bandbreite
verschiedener Denkschulen selbstverständlich. In den deutschen
Wirtschaftswissenschaften wird jedoch in über 90 Prozent der Institute
lediglich der Mainstream, also die modellorientierte Neoklassik, gelehrt.
Genau das kritisieren Studierende bundesweit seit Jahren. Abseits der Uni
haben sich viele studentische Initiativen entwickelt, die sich in
Podiumsdiskussionen und Lesekreisen mit anderen Theorien auseinandersetzen
oder aktuelle Weltwirtschaftsfragen untersuchen. Doch Lehre und Forschung
boten kaum Alternativen.
Bis die Universität Siegen zum Wintersemester 2016/17 den Masterstudiengang
„Plurale Ökonomik“ ins Leben gerufen hat. „Die Idee ist zusammen mit dem
Dekan und einigen Kollegen während einer Tagung entstanden. Wir fragten
uns, wie kann eine andere Wirtschaftslehre aussehen“, erzählt Nils
Goldschmidt, der mit seinem formellen Hemd wie ein ganz normaler
Wirtschaftsprofessor wirkt. Ihn und seine Kolleg*innen störte es, dass
Spitzenforschung und Unternehmen großteils anders ausgerichtet waren als
die deutschen Universitäten. Das wollten sie in Siegen ändern.
Hinter dem abstrakten Begriff „Plurale Ökonomik“ versteckt sich ein neuer
Ansatz wirtschaftswissenschaftlicher Lehre. Verschiedene Theorien und
Modelle werden thematisiert, verglichen, erweitert und auch moderne Ansätze
sowie soziale Fragen spielen eine große Rolle. Im Gegensatz dazu werden in
den herkömmlichen Wirtschaftswissenschaften fast ausschließlich
neoklassische Ansätze und mathematische Modelle gelehrt. Diese gehen zum
Beispiel von einem vollkommenen, im Gleichgewicht stehenden Markt mit
Menschen als rationalen Akteuren aus – soziale Fragen fehlen. Für
Goldschmidt greift das viel zu kurz: „Unsere Studierenden sollen lernen,
dass Wirtschaft mit vielen Dimensionen zu tun hat.“
## Unterschiedliche Denkschulen
Klassisch aufgeteilt ist der Studiengang in einen volkswirtschaftlichen und
einen praxisnahen betriebswirtschaftlichen Schwerpunkt. Inhaltlich ist die
Lehre plural. Allein deshalb, weil die Professor*innen aus
unterschiedlichen Denkschulen kommen. So bezeichnet sich Gustav Bergmann
als alternativen BWL-Professor. Auch der bekannte Postwachstumsökonom Niko
Paech gibt Veranstaltungen im Rahmen des neuen Masters, auch zu
ökologischen Wirtschaftsansätzen.
„Ich bin nicht immer einverstanden mit dem, was mein Kollege den Studis
lehrt“, sagt Bergmann. Der Tisch lacht. „Du bist ja auch BWLer.“ „Ich w…
BWL“, korrigiert Bergmann, das sei das alte Leben gewesen. „Es fehlt viel
im klassischen BWL-Studium“, berichtet Bergmann, „zum Beispiel Ansätze von
Kommunikationsstrategien und Konfliktlösungsmodelle.“ Auch an
Praxiserfahrung mangele es oft. Aus diesem Grund bindet Bergmann in seiner
universitären Lehre lokale Unternehmen ein, sodass Studierende am realen
Beispiel betriebswirtschaftliche Modelle anwenden und anpassen können.
Zurzeit läuft ein Beratungsprojekt mit der AWO in Siegen.
Anders soll auch die Didaktik sein. „Wir wollen den Studis kein Wissen in
die Köpfe pflanzen. Wir wollen ihnen eine Reihe von Werkzeugen mitgeben;
denn mit Schrauben, Nägeln und Zangen lässt sich mehr machen als nur mit
einem Hammer“, sagt Goldschmidt. Die Studierenden können regelmäßig Input
geben. Darüber hinaus sollen künftig mehr externe, zum Teil fachfremde
Lehrbeauftragte beispielsweise soziologische Perspektive auf die
Weltwirtschaft eröffnen.
Die Professoren sind nicht nur vom Studiengang begeistert, sondern auch von
ihren Studierenden. Es seien kritische, dynamische Menschen, die nichts für
gegeben nehmen, schwärmen sie. In den Seminaren entstünden interessante
Diskussionen. Das sei in der heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Lehre
sonst selten.
## Fehlende Wachstumskritik bemängelt
In einem Seminar zu Finanzpolitik haben die Studierenden gerade den Ansatz
der Innovationsökonomin Mariana Mazzucato zur Zusammenarbeit zwischen Staat
und Unternehmen kennengelernt. Sie haben viel diskutiert, Bezüge zu anderen
Theorien hergestellt und vor allem die fehlende Kritik am
Wirtschaftswachstum bemängelt. Eine Veranstaltung wie aus einem Bilderbuch
für plurale Ökonom*innen also.
Doch als sie nach dem Seminar zusammensitzen, sehen die Studierenden müde
aus, die Stimmung ist weit weniger ausgelassen als am Mittagstisch der
Professor*innen und fast schon ernst. „Am Anfang war ich begeistert von dem
Studiengang. Nun bin ich ein bisschen enttäuscht“, berichtet Marius, der in
Halle Politikwissenschaft und Soziologie studierte und dort die Lokalgruppe
des Netzwerkes Plurale Ökonomik mitgründete.
Es gebe viele Dinge, die ihn stören, sowohl beim Inhalt als auch bei der
Organisation. Auch Methodenvielfalt komme nur in manchen Seminaren vor.
Seine Kommiliton*innen nicken. Kevin kritisiert vor allem die Inhalte:
„Marx kam zu knapp. Und die feministischen Theorien auch. Das ist schade,
weil besonders diese Ansätze in den klassischen Wirtschaftswissenschaften
viel zu kurz kommen.“ Er hat im Bachelor BWL studiert und wollte sich im
Master mit wirtschaftswissenschaftlichen Alternativen beschäftigen.
Plurale Lehre bedeutet für die Studierenden auch, sich von dem System der
Leistungsgesellschaft zu distanzieren. Doch besonders in der Klausurenphase
unterscheide sich der Master kaum von anderen. „Letztendlich mussten auch
wir Bulimie-Lernen betreiben – alles auswendig lernen und für die Klausur
ausspucken“, erzählt Natalie. Die BWLerin hatte den Studiengang unter
anderem wegen der versprochenen alternativen Lehrmethoden gewählt. „Das ist
für mich eigentlich nicht plural studieren.“
## Motivationsschreiben und Auswahlgespräch
Fast alle mussten mindestens eine Modulprüfung verschieben. Ohnehin sei der
Leistungsdruck in einigen Seminaren sehr hoch und der Stoff zum Teil kaum
zu bewältigen. „Schön sind das breite Spektrum und die vielen neuen
Einblicke“, sagt Lena, die gerade deshalb nach Siegen gekommen ist. „Nur
leider fehlt häufig die Zeit, so tief in ein Thema einzusteigen, wie wir
gerne würden.“
Zum Wintersemester 2016/ 2017 haben 25 junge Menschen den Master
angefangen. Ihre Abschlussnoten waren für die Aufnahme zweitrangig.
Verlangt wurden hingegen Motivationsschreiben und ein persönliches
Auswahlgespräch. Jetzt sind die Studierenden bunt gemischt. Die meisten
verorten sich selbst im linken oder linksgrünen Spektrum, klassische VWL-
oder BWLer*innen gebe es nicht, sind sie sich einig. Bei selbstgedrehten
Zigaretten und Fairtrade-Kaffee sprechen sie auch viel über ihre Projekte
außerhalb der Uni, wie die „Initiative kritische Ökonomik Siegen“, die
pluralistische Wirtschaftsansätze öffentlich zugänglich machen will. Andere
Student*innen engagieren sich für das „Festival contre le Racisme“, das
gegen Fremdenfeindlichkeit und für Toleranz steht.
Doch gerade weil die jungen Menschen so unterschiedlich sind, sei schon der
Studiumsbeginn schwierig gewesen. „Viele Student*innen haben keine Ahnung
von dem Umgang mit Theorien, weil wir alle verschiedene Bachelors studiert
haben. Wir sind also alle auf verschiedenen Niveaus“, sagt Marius. Ein
Vorkurs wäre gut gewesen.
Ohnehin sei die Uni noch nicht wirklich vorbereitet auf den neuen
Masterstudiengang gewesen. Immer wieder fielen Veranstaltungen aus, und
auch die Bibliothek hielt nur einen Bruchteil der benötigten Literatur
parat. „Wir sind halt noch die Ersten. Am Anfang gibt es bei allem
Probleme“, bedenkt Lena. Dank regelmäßiger Feedbackrunden mit den
Professor*innen und besonders durch die wissenschaftlichen
Mitarbeiter*innen fühlen sie sich jedoch gehört.
## Kritische Lehre und Praxisbezug
Sowieso trägt die plurale Lehre schon ihre Früchte: „Hier denken alle
breiter und verknüpfter. Zudem werde keine Meinung aufgedrückt, es gibt
kein richtig oder falsch, solange man seinen Standpunkt gut begründen
kann“, lobt Kevin. Neben der doch grundsätzlich sehr kritischen Lehre
schätzen die Studierenden auch den Praxisbezug, der sie gut auf die reale
Welt vorbereite.
Einige wollen nach dem Studium weiterforschen, andere für
Nichtregierungsorganisationen oder als Unternehmensberater*innen arbeiten –
aber nicht im klassischen Sinne, wo es nur um Profitmaximierung gehe. „Ich
glaube auch, dass wir mehr als Mensch und weniger als
Angebot-Nachfrage-Maschine das Studium verlassen. Wir werden mehr soziale
Werte mit in unsere Entscheidungen bringen“, sagt Kevin.
Würden sie den Masterstudiengang also weiterempfehlen? Die Studierenden
zögern, tauschen Blicke aus und sind sich einig: abwarten. Noch sei nicht
einmal die Hälfte des Masters geschafft. Zudem seien sie ja die Ersten und
bekämen deshalb die ganzen Anlaufschwierigkeiten ab. Pluraler und
kritischer werden Wirtschaftswissenschaften in Siegen jedoch definitiv
gelehrt, und genau das wollen sie ja.
29 Jun 2017
## AUTOREN
Yvonne Elfriede Hein
## TAGS
Ökonomie
Wirtschaftswissenschaften
Kapitalismus
Kapitalismuskritik
Lesestück Recherche und Reportage
Wirtschaftswissenschaften
Marxismus
Universität
Schwerpunkt Finanzkrise
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